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Vor 275 Jahren trug man Sir Isaac Newton wie einen König zu Grabe

Die Wunderwelt der Schwerkraft

Von Christian Pinter

Isaacs Leben dreht sich um die Anziehungskraft zwischen Himmelskörpern. Jene zwischen Mann und Frau erfährt er wahrscheinlich nie. Vielleicht wird ihm das 1693 schmerzlich bewusst. Er schläft und isst monatelang kaum. Schwermut plagt ihn. Die enge Freundschaft zum Genfer Mathematiker Nicolas Fatio de Duillier ist zerbrochen. Ein Zimmerbrand hat viele Manuskripte vernichtet. Sein Hauptwerk Principia wird von führenden Naturphilosophen abgelehnt. Einsam beginnt der Professor, wirre Briefe aus Cambridge zu versenden.

Eigenbrötler

Nur wenige seiner Zeitgenossen kennen die Lebensgeschichte des 50-Jährigen. Nach unserem Kalender - in England gilt noch der alte, julianische - hat Isaac Newton das Licht der Welt am 4. Jänner 1643 erblickt; im Dorf Woolsthorpe, Lincolnshire. Der Vater des Siebenmonatskinds ist kurz zuvor gestorben. Kaum ist der Bub drei Jahre alt, verlässt ihn auch die Mutter. Sie heiratet einen Geistlichen und zieht fort. Isaac wächst bei der Großmutter auf.

Zum Schulbesuch übersiedelt er nach Grantham. Eine neue Welt öffnet sich: Im Haus der Apothekerfamilie darf er beim Mischen von Rezepturen helfen. Im Dachboden findet er eine reiche Bibliothek vor. Fasziniert verfolgt er die Errichtung der nahen Windmühle. Isaac baut sie im Modell nach und konstruiert verschiedene Uhren.

Wieder ist Hannah Newton Witwe. Sie kommt zurück, drängt ihren Sohn, den Hof zu übernehmen. Doch der Eigenbrötler vernachlässigt ihn sträflich. Schweine und Schafe interessieren ihn nicht. Ein Onkel erlöst Isaac, bringt ihn am Trinity College in Cambridge unter. Isaac stürzt sich auf Philosophie, Mathematik und Theologie, auf Hebräisch, Griechisch und Latein, auf Kopernikus, Galilei, Kepler und Descartes. Als ärmlicher Stipendiat muss er zudem Kammerdiener für andere spielen.

Regenbogen

Die Pest wütet. Studenten und Professoren fliehen aufs Land. Die Universität schließt 1665. Isaac kehrt in sein Heimatdorf zurück. Ein Jahr voller Entdeckungen erwartet ihn. Mit einem Glasprisma zaubert er einen Regenbogen lebhafter Farben an die Wand des abgedunkelten Zimmers: Weißes Licht ist offensichtlich ein Gemisch aus Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau. Das steht im Widerspruch zu den herrschenden Theorien. Außerdem entwickelt Isaac seine Form der Differenzial- und Integralrechnung; sie wird ihm später wichtiges Hilfsmittel sein, ihn aber auch in bösen Prioritätsstreit mit dem Deutschen Gottfried Wilhelm Leibniz verstricken. Über die Schwerkraft denkt er jetzt ebenfalls nach; die Geschichte vom fallenden Apfel, der ihn dazu inspiriert haben soll, ist aber bloß Legende.

Wieder in Cambridge beendet Isaac sein Studium. Professor Barrow ist von Newtons mathematischem Genie so beeindruckt, dass er ihm zu Gunsten auf den eigenen Lehrstuhl verzichtet. Ab 1669 trägt Newton selbst einmal pro Woche Mathematik und Physik vor. Vor staunenden Studenten wiederholt er das Prisma-Experiment. Blaues Licht wird vom Glas stärker gebrochen als rotes. Deshalb, betont er vorschnell, werden Fernrohrlinsen niemals ein gutes Bild liefern können, sich vielmehr immer nur auf eine einzelne Farbe gleichzeitig scharf stellen lassen.

Isaac umgeht das Problem mit dem Bau eines neuen Fernrohrs: Im newtonschen Teleskop muss das Licht nicht durch das Glas hindurch, sondern wird an einem sphärischen Hohlspiegel aus Metall reflektiert. Der zweite Prototyp ist kürzer als 30 cm, bildet aber bereits besser ab, als viel ausladendere Linsenfernrohre.

In London blickt Charles II. durch das Instrument. Die vom König 1662 gegründete Royal Society, eine Vereinigung prominenter Wissenschaftler, nimmt Newton auf - obwohl ihr Mitglied Robert Hooke das kleine Spiegelteleskop verspottet. Kritik trifft Isaac schwer; er setzt sie wohl mit persönlicher Ablehnung gleich - und die verträgt er seit Kindestagen nicht. Oft reagiert er mit Wut und Hass.

An einem kalten Jännernachmittag des Jahres 1684 trifft Robert Hooke den Architekten Christopher Wren und den Astronomen Edmond Halley. In einem Londoner Wirtshaus philosophieren die drei über den Lauf der Planeten. Johannes Kepler hat ihre Bahnellipsen 1609 zwar beschrieben, doch der Grund für ihren unterschiedlich raschen Lauf ist unklar.

Kepler spekulierte zuerst mit Seelen als bewegende Ursache, dann mit einem magnetischen Wirbel, der von der rotierenden Sonne angetrieben würde. René Descartes sah das All von winzigsten Partikeln erfüllt, die Kraft durch gegenseitigen Kontakt übertragen. In diesem mechanischen Modell bewegen sich Planeten ähnlich wie Blätter in den Strudeln der Themse.

Auch Hooke, Wren und Halley glauben, dass die entscheidende Kraft von der Sonne ausgeht; wahrscheinlich verliert sich diese im Raum mit dem Quadrat zur Entfernung, genau so wie die Intensität des Sonnenlichts. Allerdings kann keiner diese These beweisen. Sir Wren, nach dessen Plänen die Londoner St.-Pauls-Kathedrale entsteht, setzt dafür einen Buchpreis im Wert von 40 Shilling aus.

Robert Hooke hat seit längerem Briefkontakt zu Newton. Edmond Halley sucht den Mathematiker im August persönlich in Cambridge auf. Isaac ist dort für die Studenten mittlerweile zum Urbild des zerstreuten Professors geworden: schlecht vorbereitet, umständlich, das früh ergraute, lange Haar kaum gekämmt. Oft steht er alleine im Hörsaal, kehrt nach einer Viertelstunde gedankenverloren in seine kleine Wohnung im Trinity College zurück.

Professor Newton stimmt der von Halley vorgetragenen Überlegung sofort zu. Im übrigen habe er die ganze Sache längst berechnet, ergänzt er. Der Londoner Besucher drängt ihn, die alten Notizen zu suchen. Doch erst nach drei Monaten sendet Isaac eine neunseitige Abhandlung. Halley erkennt deren Tragweite und ermuntert Newton, ein umfassendes, systematisches Werk über die Schwerkraft zu schreiben.

Priorität

Von Halley angespornt, rechnet Isaac Tag und Nacht. Oft nimmt er sich nicht einmal Zeit zu essen oder sich hinzusetzen. Einmal zittert er vor Freude, als er einen entscheidenden Schritt weiterkommt, muss die Arbeit unterbrechen. Halley kalkuliert mit, ermittelt Kometenbahnen; sie weichen stark von den recht kreisähnlichen Ellipsen der Planeten ab.

Jetzt pocht Robert Hooke auf Priorität. Erst seine Briefe hätten Newton auf die richtige Fährte gebracht. Wieder ist der Professor außer sich, will die ganze Naturphilosophie, diese unverschämt streitsüchtige Dame, aufgeben. Halley versucht zu vermitteln. Doch Newton streicht letztlich fast alle Erwähnungen Hookes aus dem Manuskript.

In London besorgt Halley die redaktionelle Überarbeitung und die Reinzeichnungen. Er kümmert sich um den Druck, begleicht die Druckkosten und setzt schließlich den Verkaufspreis des rund 500 Seiten starken Werks mit 9 Shilling fest. Gut 300 Exemplare erscheinen 1687 unter dem Titel "Die mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie" - man nennt das Buch meist aber kurz Principia (lat., Grundlagen).

Newton breitet darin eine neue Physik vor dem Leser aus. Zunächst räumt er mit der Vorstellung auf, wonach Bewegung nur durch stetes Einwirken einer Kraft möglich sei. Im leeren Raum, also ohne Reibung, vermag ein Körper auch ohne ihr Zutun in geradliniger Bewegung zu verharren. Kraft bedarf es allerdings, diesen Zustand zu verändern. Eine solche Kraft üben alle Körper aus, und zwar proportional zu ihrer Masse. Doppelte Masse bedingt demnach doppelte Gravitation - auch "Massenanziehung" oder "Schwerkraft" genannt.

Die irdische Gravitation zieht den Mond an; seine Trägheit verhindert, dass er herunterfällt. Gäbe es die Erde plötzlich nicht mehr, würde er zunächst auf gerader Bahn weitereilen. Die gleiche Macht, die das Buch vom Katheder zu Boden zieht, zeichnet für sein Orbit verantwortlich. Die Schwerkraft der Sonne wiederum hält Planeten und Kometen in ihren Bahnen. Es können nur Kegelschnitte sein: Ellipsen, Parabeln oder Hyperbeln.

Newton braucht bloß diese einzige Kraft, die Gravitation, um viele Erscheinungen auf Erden und im All zu erklären; darunter den freien Fall, Ebbe und Flut, die Bewegung der Monde des Jupiter und dessen abgeplattete Gestalt im Fernrohr. Auch die Erde ist bei Newton an den Polen abgeflacht; dies wird allerdings erst 1736 durch Messungen in Lappland bewiesen werden.

Wie Isaac aus den keplerschen Gesetzen ableitet, nimmt die Schwerkraft tatsächlich mit dem Quadrat zur Entfernung ab. Bei doppelter Distanz sinkt sie auf ein Viertel, bei dreifacher auf ein Neuntel. Jetzt wird auch klar, warum sich die Planeten nicht streng an Keplers Ellipsen halten. Da sie ja selbst Masse besitzen, stören sie einander gegenseitig. Berücksichtigt man dies, wird ihr Lauf mit unerhörter Genauigkeit kalkulierbar. Allerdings wächst der Rechenaufwand dramatisch.

Doch warum üben Himmelskörper überhaupt Anziehungskraft aus? Diese Antwort wird erst Albert Einstein liefern. Newton muss sie schuldig bleiben. Er will diesbezüglich auch keine Hypothesen aufstellen. Seine wunderbare Schwerkraft, die ohne Vermittlung durch Teilchen über weite, leere Räume hinweg funktionieren soll, erscheint Zeitgenossen zunächst absurd, ja okkult. Entsprechend lösen die Principia bei nicht wenigen Gelehrten Ablehnung aus.

Für sich selbst hat der 44-Jährige die Antwort gefunden: Ursache der Schwerkraft sei letztlich Gott. Er habe den Kosmos nicht nur geschaffen, er schreite immer noch ein, um die Schöpfung zu retten. Die gegenseitigen Störungen der Planeten und Kometen, so glaubt Newton, würden sich sonst gefährlich aufschaukeln - ja das ganze Universum könne aufgrund seiner eigenen Masse in sich zusammenstürzen.

In akribischen Bibelstudien sucht Isaac Beweise für die Existenz Gottes und sein Eingreifen in den Gang der Welt. In Prophetenworten fahndet er nach später verloren gegangenen Erkenntnissen, nach geheimem Wissen über den Aufbau des Kosmos. Versteckte Botschaften hofft er auch in alten alchimistischen Quellen zu finden. Unentwegt lodert Feuer im selbst gebauten Ziegelofen. Bis in die Morgenstunden dauern die Versuche, in denen es nicht nur um Legierungen für Teleskopspiegel geht. In alchimistischer Tradition versucht der Professor wohl auch, unedle Metalle in Gold zu verwandeln. Seine umfangreichen Notizen sind voller mystischer Symbole.

Münzbeschneider

Englands Geld hat stark an Wert verloren. Falsches ist im Umlauf. Beschneider kappen die Ränder der handgeschlagenen Silberstücke ab, verkaufen sie oder schmelzen sie ein. Zuerst fungiert Newton nur als Berater der Währungsreform; dann ernennt man ihn selbst zum Direktor der königlichen Münze. Der Arbeitstag im Londoner Tower beginnt um 4 Uhr morgens. Dort werden neue Münzen mit erhabenem Rand hergestellt. Die von Pferden angetriebenen Maschinen pressen 50 Geldstücke pro Minute. In drei Jahren sind es über 6 Mill. Pfund.

1705 wird Newton zum Ritter geschlagen. Mittlerweile ist er auch gewählter Präsident der Royal Society. Er lässt das Porträt Hookes verbrennen und etabliert wöchentliche Treffen. 23 Jahre lang führt er den Vorsitz, auch wenn er im hohen Alter gelegentlich einnickt. Ein Blasenleiden und die Gicht plagen ihn. Man trägt Sir Newton in der Sänfte in die Londoner Wohnung zurück.

Voltaire will ihn dort besuchen, kommt jedoch Stunden zu spät. Der 84-Jährige ist am 31. März 1727 entschlafen; der englische Kalender zeigt erst den 20. März. Man setzt den Leichnam in der Westminster Abbey bei. Hier ehre man einen Mathematiker, wie anderswo nur einen König, hält Voltaire fest.

Leitfigur

Die Royal Society ermahnt Isaacs Erben, seine mystischen Handschriften unter Verschluss zu halten. Diese Seite Newtons fällt der Vergessenheit anheim. Seine Physik wird hingegen vom Franzosen Voltaire, führender Philosoph der Aufklärung, auf dem Kontinent bekannt gemacht. Newton gerät zu einer wichtigen Leitfigur der neuen Zeit. Ihr Kosmos kommt ohne geheimnisvolle Mächte aus, auch ohne stete Eingriffe Gottes. Menschliche Vernunft soll ihn restlos begreifen können. Die Welt scheint nun mathematisch erklärbar, berechenbar wie die Bewegungen einer Maschine - oder der Lauf der Planeten.

Freitag, 22. März 2002

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