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Greenwich, der bedeutendste Vorort des Planeten

Nullpunkt von Zeit und Raum

Von Stefan Spath

Es ist, als würde sich die Zeit wie im Zentrum eines schwarzen Lochs zusammenziehen. Am Ufer der Themse künden die imposanten Masten des Tea-Clippers "Cutty Sark" von der Ära, als Britannien die Meere beherrschte. Im Sonnenlicht funkelt die gigantische gläserne Kuppel des "National Maritime Museum", unter der die Erinnerungen Englands als Seemacht konserviert werden. Doch man muss sich auf dem sanften Hügel nur umdrehen, um zu erkennen, was dem Ort eine Aura der Zeitlosigkeit verleiht: Mitten durch das "Greenwich Royal Observatory" verläuft der Nullmeridian, der die Welt in eine westliche und eine östliche Hemisphäre teilt. Der Eiserne Vorhang als Systemgrenze hatte nur 40 Jahre Bestand; der Messingstreifen, der sich über den Hof des Observatoriums zieht, ist darauf angelegt, in alle Ewigkeit Ort und Zeit zu definieren. Ein Sidestep nach links, und man ist in der östlichen Welthälfte angekommen. Einer nach rechts, und schon empfängt einen der "Westen".

Dass an der östlichen Peripherie der englischen Metropole jenes Zentrum der Wissenschaft entstand, das wie kein anderes das Alltagsleben der Moderne geprägt hat, ist einer Abfolge von Zufällen sowie Gestank und Seuchen im sommerlichen London zu verdanken. Um in gesünderer Umgebung zu regieren, ließ der Tudor-Herrscher Heinrich VII. an der Wende zum 15. Jahrhundert in dem verschlafenen Fischerort eine Sommerresidenz errichten. Greenwich war per Boot leicht zu erreichen, verfügte über gutes Trinkwasser, ein angenehmeres Klima und eignete sich vorzüglich als Jagdrevier. Unter dem in Greenwich geborenen Heinrich VIII. erlebte das Dorf seine erste Blüte.

Meuterei und Tyrannei

Kein Ort in Großbritannien ist so eng mit dem Aufstieg des Landes zur Seemacht verbunden wie das 1997 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärte "Maritime Greenwich". Hier gab Königin Elizabeth I. 1588 den Befehl zur Zurückschlagung der spanischen Armada. In den Nachbarorten Deptford und Woolwich, wo die größten Werften der damaligen Zeit aus dem Boden gestampft wurden, machten sich Fachleute aus halb Europa über die neuen englischen Schiffsbau-Methoden kundig.

Zar Peter der Große war 1697 einer der illustren Gäste, blieb jedoch dadurch in Erinnerung, dass er im Vollrausch das Haus seines Gastgebers demolierte und ihm auch noch den Garten mit Schubkarren-Rennen umgrub. 90 Jahre später brach Kapitän William Bligh von Deptford zu seiner Reise auf der "Bounty" auf, die Synonym für Tyrannei und Meuterei zugleich werden sollte. Und in Greenwich wurden die sterblichen Überreste von Lord Nelson, der 1805 in der für England siegreichen Schlacht von Trafalgar gefallen und in Alkohol konserviert worden war, vor

Zehntausenden Trauernden aufgebahrt.

Heute ist London längst kein Zentrum der Schifffahrt mehr. Bereits im 19. Jahrhundert verloren Greenwich, Deptford und Woolwich ihre Bedeutung - die Verschlickung der Themse und das Aufkommen neuer Fertigungsmethoden führten dazu, dass sich der Schiffsbau in die aufstrebenden industriellen Zentren des Landes verlagerte.

Mitunter tragisches Heldentum prägte die "maritime Ära" Greenwichs, während einsame Genies seine "wissenschaftliche" Seite verkörperten. Am Anfang dieser Ära stand 1675 die Gründung des Königlichen Observatoriums. Sie hing eng mit der Lösung eines Problems zusammen, das über die Hackordnung der europäischen Seemächte mitentscheiden sollte. Die exakte Positionsbestimmung auf See war mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten nur in Bezug auf den Breitengrad möglich, nicht aber auf den Längengrad (Ost-West-Position). Immer wieder führten Navigationsfehler zu katastrophalen Schiffbrüchen und Irrfahrten.

Da eine Positionsbestimmung anhand genauer Karten der Gestirne am ehesten erreichbar schien, wurde der Bau einer Sternwarte in Auftrag gegeben. Sir Christopher Wren, der auch für die St. Pauls-Kathedrale verantwortlich zeichnete, erkannte in Greenwich Hill den idealen Bauplatz, da der Hügel auf Kronland lag, von Smog unbeeinträchtigt und gut erreichbar war. Anfangs stand das Unternehmen unter keinem guten finanziellen Stern.

Die Sterngucker durften zwar den pompösen Titel "Königlicher Astronom" führen, waren aber chronisch unterbezahlt und litten unter Einsamkeit. "Nichts kann die Langeweile und Ärgerlichkeit des Lebens übersteigen, das ein Assistent an diesem Ort führen muss, ausgeschlossen von jeder Gesellschaft außer vielleicht jener einer armen Maus", notierte ein frustrierter Gehilfe.

Der erste Hofastronom John Flamsteed musste mit Gemächern Vorlieb nehmen, die noch heute ob ihrer Stickigkeit klaustrophobische Gefühle erwecken. Mit klammen Fingern und frierend verbrachte Flamsteed Tausende Nächte an seinem Teleskop im Oktagon-Zimmer, dessen schlichter und funktioneller Charakter die Handschrift Wrens verrät. Über Jahrzehnte hinweg arbeitete der "Astronomer Royal" an einem Werk über die Gestirne, das die Navigation sicherer machen sollte. Dabei ruinierte er sich die Gesundheit und den Ruf, denn als die "Historia Coelestis Britannica" 1712 gegen seinen Willen und von seinem Intimfeind Edmond Halley bearbeitet erschien, war sie voll von Fehlern und kaum brauchbar.

Zwei Jahre später wurden die britischen Gelehrten mit der Auslobung eines Preisgeldes von 20.000 Pfund dazu angespornt, endlich eine zuverlässige Messmethode zu finden. Damit schlug auch die Stunde der Scharlatane. Sir Kenelm Digby zum Beispiel setzte auf ein besonders "mitfühlendes" Verfahren: Man platziere auf jedes auswärts fahrende englische Schiff einen Hund und ritze ihn fest mit einem Messer, das zuvor in ein von Digby sündteuer entwickeltes Puder getaucht worden war. Dann halte man das Messer täglich zu Mittag Greenwich-Zeit in einen Topf seines "Sympathy Powder", worauf die auf See befindlichen Hunde präzise zum gleichen Zeitpunkt aufheulen würden. Durch den Vergleich mit der leicht messbaren Lokalzeit ließe sich die Ost-West-Position bestimmen. Voilà der Längengrad!

Visionäre Ideen

Weniger originell erschien der Ansatz, den Längengrad mit einer präzisen Schiffsuhr zu ermitteln. Die Idee: Diese Uhr sollte genau die Zeit am Ausgangspunkt der Reise innehaben, während die lokale Zeit relativ einfach mit dem Sonnenstand bestimmt werden konnte. Der Vergleich der beiden Uhren ließ sich dann in Längengrade umsetzen und zeigte die östliche bzw. westliche Position an. Chronometer, die auch auf schlingernden Schiffen und bei stürmischer See präzise liefen, wurden jedoch erst durch die visionären Ideen des Uhrmachers John Harrison Realität. Im Museum des "Royal Observatory" wird die Entwicklung zum perfekten Chronometer - der das einsame Genie praktisch sein gesamtes Leben widmete - akribisch nachvollzogen.

Wie ein übergewichtiges Fantasieprodukt aus Schwung- und Zahnrädern, Zeigern und Gewichten wirkt Harrisons erste, knapp 40 Kilogramm schwere Schiffsuhr - H-1 genannt. Sie war zwar ein Meilenstein in Sachen Zuverlässigkeit, stellte den Erfinder aber selbst nicht zufrieden.

Der Perfektionist, von der Autorin Dava Sobel mit ihrem Bestseller "Längengrad" dem Vergessen entrissen, tüftelte an einer Miniaturisierung. Die Modelle wurden mit jeder Version weniger klobig. Doch erst die revolutionäre H-4, die wie eine überdimensionierte Taschenuhr aussah, erfüllte 1763 in einem Probelauf die Vorgaben der Marine spielend, ließ sich leicht vervielfältigen und war einfach zu handhaben. Konkurrenten sorgten jedoch dafür, dass Harrison erst zehn Jahre später im Alter von 80 Jahren Ruhm und Geld zukamen.

Seinen mythischen Stellenwert bekam Greenwich durch die Vermessung der Welt und der Zeit. Dies ist die Geschichte des Null-Meridians, der den Namen des kleinen Ortes an der Themse trägt. Im Prinzip hatte sich jede bessere Seemacht aus praktischen Gründen einen solchen "universalen" Ausgangspunkt zugelegt. In England hatte sich Greenwich als Prime Meridian durchgesetzt, nachdem im wegweisenden "Nautical Almanac" Maskelynes von 1767 dieser Punkt als Orientierungsmarke angeführt worden war, in einer Zeit, da der Längengrad in erster Linie noch kompliziert über die Monddistanz bestimmt wurde.

Als Länder wie die USA und Russland die Marke übernahmen, gewann sie eine normative Kraft des Faktischen. Fixiert als universelle Standardgröße wurde Greenwich als "Prime Meridian" nach langem Hin und Her 1884 bei der Internationalen Meridian-Konferenz in Washington. Die exakte Linie wurde als Fadenkreuz des Teleskops "Airy's Great Transit Circle" definiert und in Form eines Messingstreifens markiert, der vom Observatorium auf den Hof läuft.

Mit der Definition des Prime Meridians ging auch die Aufteilung der Welt in Zeitzonen einher. Ein weiterer Standard, der bis heute das Leben prägt: Dass der Universale Tag um Punkt Mitternacht in Greenwich beginnt und endet. Alle anderen Zeiten leiten sich von diesem Bezugspunkt ab.

Greenwich wurde auch Synonym für die Synchronisierung der Zeitmessung. Aus dem Jahr 1833 stammt der rote "Time-Ball" auf einem Türmchen des Flamsteed House, mit dem den Schiffen auf der Themse ein verlässlicher Maßstab gegeben wurde, an dem sie ihre Uhren ausrichten konnten. Noch heute fällt der "Time-Ball", wahrscheinlich das weltweit erste öffentliche Zeitsignal überhaupt, täglich um 13 Uhr herab. Die Greenwich Mean Time (GMT) verfestigte sich zum Standard der britischen Zeitmessung - per Gesetz im Jahr 1880 - und schließlich als Bezugspunkt für die Zeitmessung auf dem ganzen Planeten.

Es ist nicht ohne Ironie, dass Greenwich selbst ein Opfer der Modernisierung wurde. Licht- und Luftverschmutzung erschwerten Beobachtungen von der Sternwarte zusehends. 1954 wurden die letzten astronomischen Messungen vorgenommen. Schon zuvor war der Königliche Astronom nach Sussex übersiedelt. Die genaue Messung der Zeit obliegt heute einem Institut bei Paris. Auch sonst ist es nicht mehr weit her mit dem einstigen Ruhm. Heinrich VIII. liebte es, vom Dach seines Lustschlosses den Schiffen nachzuschauen, die zu ihren Zielen in der Welt aufbrachen oder voll beladen zurückkehrten. Heute dümpeln höchstens Ausflugsschiffe, der eine oder andere Verladekahn und Segelschiffe auf der Themse.

Mit seinen Verkehrsproblemen, seiner Durchschnittlichkeit in allen Belangen und seiner Fastfood-Kultur, die sich kaum von jener der Londoner Innerstadt unterscheidet, trägt auch das vom historischen Bezirk abgegrenzte "moderne" Greenwich nur zur Ernüchterung bei.

"Schwarzes Loch"

Es gab Phasen in der Geschichte, in der sich London und sein unscheinbarer Vorort ziemlich nahe waren. Und es gibt Zeiten, da sie von einander wenig wissen wollen. Jetzt zum Beispiel, wenn die Briten das Reizwort "Millennium Dome" vernehmen. Von der Blair-Regierung mit Pauken und Trompeten als kleine Weltausstellung zum Jahrtausendwechsel inszeniert und wegen Milliardenverlusten Ende 2000 geschlossen, soll das "schwarze Loch" der Steuerzahler nun in eine Konzert- und Veranstaltungshalle für 20.000 Besucher umgebaut werden. Vieles steht auch bei diesem Projekt in den Sternen. Doch einiges spricht dafür, dass mit der überdimensionierten Schildkröte bereits ein neuer Glassturz entstanden ist, der sich perfekt in das Bild von Greenwich als einem Ort einfügt, der einstiger Größe nachtrauert.

Tipps im Internet finden sich auf der Homepage des "National Maritime Museums". Adresse der vorzüglich gestalteten deutschen Website:

http://www.nmm.ac.uk/translations/docs/german/greenwich.html

Mehr zur Geschichte des letzten Teeklippers "Cutty Sark" erfährt man unter: http://www.cuttysark.org.uk/

Über das "Old Royal Naval College", frühere Marineakademie, informiert in Text und Bild:

http://www.greenwichfoundation.org.uk/

Literatur: Als Überblickswerk hervorragend geeignet ist Charles Jennings: "Greenwich. The Place Where Days Begin and End" , Abacus, London 1999. Zur Problematik der Längengrad-Bestimmung empfiehlt sich das Buch von Dava Sobel: "Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste". München 1998 (btb).

Freitag, 22. März 2002

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