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Prinzip "lebende Leiche"

Kritische Anmerkungen zur Transplantationsmedizin
Von Wenzel Müller

Herr K. ist erst 50 Jahre alt, doch schon einfaches Treppensteigen bringt ihn sofort aus der Puste. Jede kleinere Anstrengung bedeutet für ihn eine große Last, eine so große, dass er inzwischen auch seinen Beruf als Kraftfahrer aufgeben musste. Der Grund: das schwache Herz, die Ärzte sprechen von "terminaler Herzinsuffizienz". In diesem Stadium können auch Medikamente Herrn K. nicht wirklich mehr helfen, seine einzige Hoffnung besteht in einem neuen Herzen, sprich in dem von einem Verstorbenen transplantierten Herzen. Er führt die Warteliste des Krankenhauses an, damit stehen die Chancen nicht schlecht, dass er einer der etwa 100 Patienten sein könnte, denen hier zu Lande pro Jahr ein Spenderherz eingepflanzt wird.

Doch vorerst heißt es für Herrn K., sich in Geduld zu üben. Die Operation kann schon morgen sein, vielleicht aber erst in einem halben Jahr, vielleicht auch nie. Hängt ganz davon ab, ob und wann sich ein Spender findet, und das heißt in der Regel ein Unfallopfer, dessen Herz gerettet werden kann und das zudem eine möglichst hohe Übereinstimmung in den gewebetypischen Eigenschaften mit dem potenziellen Empfänger aufweist, denn andernfalls besteht die Gefahr einer Abstoßungsreaktion. Wenn der entscheidende Anruf kommt, muss jedenfalls alles sehr schnell gehen. Zwischen Explantation des Herzens und seiner Implantation dürfen höchstens sechs Stunden vergehen, sonst könnte es entscheidenden Schaden nehmen.

Einer muss sterben, damit ein anderer weiterleben kann - auf dieser Prämisse basiert die Transplantationsmedizin. (Die Lebendspende ist dagegen nur bei bestimmten Organen, wie zum Beispiel Niere, möglich und die gentechnologische Herstellung von menschlichem Gewebe ist noch im Versuchsstadium).

Hirntod und Herztod

Vor 50 Jahren hätte die Vorstellung eines toten Menschen mit noch schlagendem Herzen geradewegs Gruseln ausgelöst, wäre ein Widerspruch in sich selbst gewesen. Denn bevor in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Intensivmedizin in die Krankenhäuser einzog, konnten Lunge, Herz und Gehirn eines Menschen nur gemeinsam funktionieren. Der Hirntod folgte unmittelbar auf den Herztod oder umgekehrt. Das gilt nicht mehr, nachdem man ein still stehendes Herz wieder in Gang bringen und einen Menschen auch mit schwersten Hirnschädigungen künstlich beatmen konnte. Nun musste entschieden werden, von welchem Zeitpunkt an eine Therapie sinnlos ist, wann sie enden darf und muss. So entstand das Hirntodkonzept: Ein Mensch ist dann tot, wenn sein Gehirn als zentrales und den Gesamtorganismus steuerndes Organ in seiner Gesamtfunktion vollständig und irreversibel ausgefallen ist.

Dieses Kriterium wurde erstmals 1968 von der Harvard Medical School formuliert und gilt auch heute noch in den meisten Ländern der Erde als pragmatische Grundlage für das ärztliche Handeln. Es bildet auch die entscheidende Grundlage, ohne die die Transplantationsmedizin nicht vorstellbar wäre. Denn das Hirntodkonzept kennt so etwas wie eine "lebende Leiche": Der Mensch ist tot, sein Restkörper lebt allerdings weiter.

Doch ist hirntot tatsächlich gleich tot? Kritiker wenden dagegen ein, Sterben sei ein längerer Prozess und kein Mensch der Welt könne sagen, ab welchem Zeitpunkt ein Sterbender quasi die Schwelle zum Tod überschritten habe. Eine zeitliche Festlegung müsse daher immer ein willkürlicher Akt bleiben. Es mache auch einen entscheidenden Unterschied, ob man bei einem Sterbenden die Maschine abstelle und alle weiteren therapeutischen Bemühungen unterlasse oder ob man einem Hirntoten, wie das bei der Multiorganentnahme der Fall ist, vom Brust- bis zum Schambein aufschneide.

"Wer kann wissen, wenn jetzt das Seziermesser zu schneiden beginnt, ob nicht ein Schock, ein letztes Trauma einem nicht-zerebralen, diffus ausgebreiteten Empfinden zugefügt wird, das noch leidensfähig ist", wendete schon vor 30 Jahren der Philosoph Hans Jonas ein, und die Kritik hat bis heute nichts von ihrer Virulenz eingebüßt, denn da noch nie ein Hirntoter aus seinem Zustand zurückgekehrt ist, wissen wir auch nicht, was er empfindet. Angesichts dieser fundamentalen Ungewissheit plädierte Jonas dafür, "mehr zu einer

maximalen als zu einer minimalen Bestimmung des Todes hinzuneigen".

Während Jonas den Ärzten jede Kompetenz absprach, mit einer naturwissenschaftlichen Beweisführung über letztlich ontologische Fragen zu befinden, berufen sich jüngere Kritiker wie Johannes Hoff, Theologe, und Jürgen in der Schmitten, Mediziner, in ihrem Buch "Wann ist ein Mensch tot?" just auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die die vermeintlich zentrale Funktion des Gehirns in Frage stellen: "Es gehört gerade zu den großen Entdeckungen der 'nichtlinearen Dynamik', dass die Einheit von lebenden Systemen auch ohne die Existenz eines spezifischen Integrationszentrums zustande kommen kann."

Tatsächlich kommt es bei Organentnahmen immer wieder zu einer Beschleunigung des Pulses und zu einem Anstieg des Blutdrucks. Bloß unbedeutende Reflexe, wie dieses Phänomen von Transplantationsmedizinern gerne abgetan wird, oder doch letzte integrative Reaktionen des Organismus?

Die Transplantationsmedizin beruht neben dem Hirntodkonzept auf einer weiteren wesentlichen Grundlage: Sie betrachtet den Körper als eine Art Maschine, dessen Einzelteile aufgrund allgemein gültiger Naturgesetze wie in einer Reparaturwerkstatt ausgetauscht werden können. Und sie versteht außerdem Krankheit in erster Linie als den Funktionsausfall eines bestimmten Organs, eine Sicht, die uns heute selbstverständlich scheint, aber noch gar nicht so alt ist. Medizinhistoriker sagen, dass es bei uns im Zuge der anatomischen Zerlegung des toten Leibes erst Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin kam: weg von einem leiblichen und hin zu einem organzentrierten Krankheitskonzept. Dieser Wechsel markiert zugleich den Beginn der "modernen" oder "wissenschaftlichen" Medizin.

Ist das Herz, so wie es die Transplantationsmediziner sehen (müssen), tatsächlich nicht mehr als ein schlagender Muskel? Gerade in unserer abendländischen Kultur ist es emotional und symbolisch stark besetzt. Das Herz gilt als Sitz der Gefühle und der Liebe, es kann "brechen", "entflammen", einem kann "ein Stein vom Herzen fallen". Nun vertreten einige Medizinrichtungen, wie zum Beispiel die anthroposophische, die Ansicht, dass in alle unsere Organe auch unsere spezifische Lebensgeschichte eingeschrieben ist, konkret: dass etwa unsere Wut, unsere Enttäuschungen, unsere Freuden im Laufe des Lebens unser Herz mitformen. Aus diesem Grund sprechen sie sich auch gegen die Transplantation von vor allem symbolisch stark besetzten Organen aus, denn die würde bedeuten, dass etwas Spezifisches des Spenders auf den Empfänger übergeht, was zu tief greifenden Identitätsproblemen bei diesem führen könnte.

"Gelebte Solidarität"

In einer gemeinsamen "Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Organtransplantation" (1990) werten die Kirchenleute die Organspende als "gelebte Solidarität" und als "Dienst an den Kranken und Schwachen". In der bewussten Spende kann man sicher einen hochherzigen Akt sehen. Doch bei den meisten Organexplantationen dürfte schon das Wort "Spende" im Grunde unangemessen sein. Vor allem werden nämlich Unfallopfern Organe entnommen, von denen die wenigsten einen Organspenderausweis bei sich haben, mit dem sie ausdrücklich ihr Einverständnis dokumentieren.

Rechtlich gesehen ist freilich eine ausdrückliche Einwilligung auch gar nicht für eine Organentnahme erforderlich: Wer sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen eine Organentnahme ausspricht, ist mit ihr einverstanden. Wer schweigt, stimmt auch zu. Eine Regelung, die, wie Kritiker behaupten, bewusst auf die Trägheit der Bevölkerung abgestimmt ist. Denn wer macht sich schon über den eigenen Tod Gedanken, wenn er bei bester Gesundheit ist? Und wer weiß schon, dass er seit 1995 seinen Widerspruch beim Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG, Stubenring 6, 1010 Wien) deponieren kann, deren Register von den Krankenanstalten vor einer Explantation obligatorisch abgefragt werden muss?

Wer sich in das Widerspruchsregister eintragen lässt, muss, so Prof. DDr. Christian Kopetzki, wissenschaftlicher Leiter des "Zentrums für Medizinrecht", keine Gründe geltend machen: "Umgekehrt ist die bloße Zugehörigkeit zu einer Religion oder Weltanschauung, die der Transplantation ablehnend gegenüber steht, kein Hindernis der Entnahme, solange eben nicht ausdrücklich widersprochen wird."

Die geltende Regelung macht auch keine Unterscheidung zwischen Inländern und Ausländern, Juristen sagen: "Territorialrecht" geht vor "Personalrecht". Nehmen wir an, ein 30-jähriger deutscher Urlauber kommt bei uns bei einer Bergtour ums Leben. Auch ihm dürften, sofern kein Widerspruch vorliegt, bei einem Hirntod Organe entnommen werden - ja, er würde, wenn wir weiterhin annehmen, dass er Sportler und Nichtraucher ist, geradewegs der ideale "Spender" mit noch "unverbrauchten" Organen sein. Seine Angehörigen könnten in jedem Fall eine Organentnahme nicht verhindern.

So jedenfalls die rechtliche Regelung. Nun legt der Gesetzgeber allerdings den Ärzten auch keine Verpflichtung auf, diesen Rahmen auch ganz auszuschöpfen. "Vor 10, 20 Jahren galt noch die Devise: nicht mit den Angehörigen darüber reden. Das ist mit den heutigen medizinethischen Grundsätzen nicht mehr vereinbar. Jeder Mensch hat ein Recht auf Information. Daher sprechen wir heute mit den Angehörigen. Bestehen in einer Familie erhebliche Vorbehalte gegen eine Organspende, so akzeptieren wir das natürlich - obwohl wir nach der Gesetzeslage nicht dazu verpflichtet wären", sagt Prof. Dr. Ferdinand Mühlbacher, Vorstand der chirurgischen Abteilung am AKH Wien. In der Praxis orientieren sich - jedenfalls die Wiener - Transplantationsmediziner also an einer gesetzlichen Regelung, die beispielsweise seit 1997 in Deutschland besteht, und die man mit "erweiterte Zustimmungslösung" umschreibt: Organentnahme nur, wenn ausdrückliche Zustimmung des Spenders oder seiner Angehörigen vorliegt.

Prof. Mühlbacher ist ein sympathischer und nachdenklicher Mensch, er erfüllt überhaupt nicht das Klischeebild des gedankenlos schneidenden Chirurgen. Er räumt auch ein: "Man geht nicht emotionslos an die Sache heran. Ich habe in England einmal einem Kind eine Leber entnommen, das genauso aussah wie eines meiner Kinder. Und ich muss sagen, ich war froh, wie es wieder zugedeckt war. Mir persönlich hilft es, mir die Finalität meiner Handlung immer wieder vor Augen zu halten: Mit diesem Eingriff rette ich das Leben eines Menschen oder verbessere zumindest entscheidend dessen Lebensqualität."

Genau hier setzt die Kritik der unter anderem auch in Graz und Innsbruck lehrenden Berliner Sozialwissenschaftlerin Anna Bergmann an: Organtransplantationen erfordern von dem involvierten Medizinpersonal eine stete Rationalisierung ihres Tuns. Der Arzt sieht frisch durchblutete Organe, doch er muss sich entgegen dem unmittelbar sinnlichen Eindruck sagen: Dieser Patient ist tot. Er muss dem Hirntoten mit Säge, Messer und Meißel Gewalt antun, doch es ist ja für einen guten Zweck. Er muss kühl und nüchtern vorgehen und darf sich auf keinen Fall zu sehr gefühlsmäßig auf den Hirntoten einlassen.

Eine große Hilfe für die Chirurgen ist, so Bergmann weiter, dass die Transplantation in mehrere Schritte aufgegliedert ist. Neurologen sind für die Feststellung des Hirntods zuständig, Chirurgen für die Transplantation, wobei es außerdem sein kann, dass ein Ärzteteam nur das Herz und ein anderes nur die Nieren entnimmt. Der Arbeitsablauf ist fragmentiert, keiner ist für das Ganze zuständig. Das bringt Entlastung und hilft, Schuldgefühle nicht aufkommen zu lassen.

Kopftransplantation?

Wo ist die Grenze? In Österreich wurden Nieren erstmals 1965, eine Leber 1972, ein Herz 1983, eine Lunge 1988 und Hände 2000 transplantiert. Gerade die berühmte Handtransplantation an Theo Kelz in Innsbruck wurde allgemein als Meilenstein in der Medizingeschichte gefeiert. Geflissentlich wurde dabei übersehen, dass sie nur möglich war, weil einem anderen die äußeren Gliedmaßen abgetrennt wurden. Werden demnächst auch Beine transplantiert? Oder gar der Kopf? Kein Witz: In einem Interview mit der Schweizer "Weltwoche" bekannte Robert J. White, Neurochirurg an der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio, USA, offen, dass er daran arbeite, einen Kopf mitsamt dem Bewusstsein zu verpflanzen: "Diese Operation käme nur für Querschnittgelähmte in Frage. Aber diesen Menschen könnte ein frischer Körper das Leben retten." Wer den Menschen als Maschine versteht, dürfte im Grunde auch nichts gegen eine Kopftransplantation haben.

Für Herrn K. sind die Diskussionen um die Transplantationsmedizin reichlich abstrakt. Er denkt nur ans Überleben - und wer wollte ihm das verübeln? Erhält er rechtzeitig ein neues Herz und verläuft die Operation ohne weitere Komplikationen, so wird er in der ersten Zeit überglücklich sein. Das sagt die Erfahrung auf den Krankenhausstationen. Die sagt allerdings auch, dass in der Folge Schwierigkeiten auftreten können, dass Herrn K. etwa die immunsuppressiven Medikamente, die er nun regelmäßig zur Verhinderung von Abstoßungsreaktionen einnehmen muss, merklich schwächen. Oder dass nun massive psychische Probleme zum Beispiel in Form von "Überlebensschuld" auftreten - ausgehend von den USA hat sich ein neuer psychiatrischer Zweig professionalisiert, die "Organ Transplantation Psychiatry" (OTP). Die Zukunft wird für Herrn K. in jedem Fall weiterhin ungewiss bleiben.

Freitag, 22. März 2002

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