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Leonard Bloomfield, ein Amerikaner mit österreichischen Vorfahren

Ein Ahnherr der Linguistik

Von Peter Ernst

Er hat nie viel Aufhebens um seine Person gemacht. Er war ruhig, bescheiden, ja introvertiert oder sogar schüchtern. Er hatte eine eigenartige Auffassung von Humor, der von Zeitgenossen gerne als "eigenartig" oder "seltsam" beschrieben wird. Und er soll deutsch mit österreichischem Akzent gesprochen haben.

Die Rede ist von Leonard Bloomfield, der am 1. April 1887 als erster Sohn von deutschsprachigen Eltern in Chicago auf die Welt gekommen ist. Sein Vater war, selbst noch ein Kind, mit seinen Eltern, also Leonards Großeltern, 1867 aus dem oberschlesischen Bielitz, das damals zu Österreich gehörte und heute in Polen liegt, in die USA ausgewandert. Die Großeltern waren, wie viele Angehörige der weit verzweigten Familie - von der gleich noch genauer zu berichten sein wird - in der Textilbranche tätig und hatten es zu einigem Wohlstand gebracht. So konnten einige Familienmitglieder auch Tätigkeiten nachgehen, die nicht unbedingt dem Muster des Brotberufs entsprechen. Leonards Onkel Maurice studierte Indogermanistik und wurde ein zu seiner Zeit weit berühmter Sanskritist, und seine Tante Fanny Bloomfield Zeisler war als Konzertpianistin zu ihrer Zeit eine Berühmtheit. Und auch Leonard selbst konnte das eher exotische Studium der Sprachwissenschaft aufnehmen, in dem er es später, vor allem in den 30er- und 40er-Jahren, zu weltweiter Berühmtheit brachte.

Diese Berühmtheit ging in seinen späten Lebensjahren so weit, dass er als unangefochtene Autorität auf seinem Gebiet galt, der man nicht zu widersprechen wagte. Eine Wortmeldung in einer Diskussion etwa wurde mit den Worten eingeleitet: "Ich weiß, dass Bloomfield ein Heiliger ist, aber trotzdem glaube ich, dass er Unrecht hat", und das auch nur, als Bloomfield gerade abwesend war.

Beziehungen zu Österreich

Leonard Bloomfield hatte in den 30er-Jahren Kontakte mit dem Wiener Kreis und deren bedeutendsten Vertretern, vor allem mit Otto Neurath und Rudolf Carnap. Der Kontakt war durch Charles William Morris hergestellt worden, der heute allgemein als Begründer der Semiotik gilt; er half Carnap, 1936 in die USA zu emigrieren. In diese Zeit, d. h. den Anfang der 30er-Jahre, fiel die Vorbereitung des riesigen Projekts der "Encyclopedia of Unified Science", für das Morris eng mit Rudolf Carnap und Otto Neurath (dem Hauptherausgeber) zusammenarbeitete. Es handelt sich dabei, etwas verwirrend, um eine Buchreihe, die ursprünglich auf 270 Einzelbände (!) konzipiert war, von der aber dann nur 2 Bände (Volumes) mit je 10 Teilbänden erschienen. An diesem Projekt arbeitete eine Reihe der bedeutendsten Wissenschaftler der Zeit mit, u. a. Otto Neurath, Niels Bohr, John Dewey, Bertrand Russell, Rudolf Carnap, Roman Jakobson, Charles W. Morris und eben Leonard Bloomfield.

Im Zuge des (unveröffentlichten) Briefwechsels zwischen Leonard Bloomfield und Otto Neurath erscheint nun eine gemeinsame Vertraute und bisher nicht bekannte Verwandte Bloomfields, nämlich die Wienerin Martha Tausk geb. Frisch (1881 bis 1957). Ihre Eltern besaßen ein Papiergeschäft, eine Buchdruckerei und einen Verlag auf dem Wiener Bauernmarkt. Im Verlag Moritz Frisch wurde die "Fackel" von Karl Kraus gedruckt, zumindest der erste Jahrgang, bis sie Jahoda & Siegel übernahm. Moritz Frisch und sein Sohn Justinian führten sogar mit Karl Kraus einen Prozess um den Namen "Fackel", in dem sie aber unterlagen, allerdings erschien die berühmte Zeitschrift dann nur mehr ohne das bekannte Signet.

Die Familie Frisch gehörte zum liberalen Bürgertum und hatte gute Kontakte zu den großen Intellektuellen ihrer Zeit, so zu Otto Neurath und anderen. Moritz Frisch war einer der Gründer der Druckerei der "Arbeiter-Zeitung", die Mutter gehörte dem Vorstand des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins an; durch sie wurde Martha frühzeitig in die Arbeiter- und Frauenbewegung involviert. Sie wirkte dann als Sozialdemokratin und als eine der ersten Frauen in verschiedenen politischen Gremien der Ersten Republik, u. a. von Mai 1927 bis November 1928 im Bundesrat. Nach dem "Anschluss" emigrierte sie in die Niederlande. Ihr Mann, von dem sie relativ früh geschieden wurde, war Victor Tausk (1879 bis 1919), Mitglied der Freud'schen Mittwoch-Gesellschaft und einer der ersten Schüler Sigmund Freuds. 1919 verübte Tausk unter bis heute ungeklärten Umständen Selbstmord; die Ursachen dafür und die Rolle, die Sigmund Freud dabei spielte, lösten in den 80er-Jahren eine kontroversielle Diskussion aus.

Der bereits erwähnte Justinian Frisch (1879 bis 1949), der Bruder von Martha Tausk, war mit Auguste (Guste) Meitner verehelicht, der Schwester der berühmten österreichischen Physikerin Lise Meitner (1878 bis 1968), nach der sogar ein Krater auf dem Merkur benannt wurde. Sein Sohn und somit Neffe von Lise Meitner war Otto Robert Frisch (1904 bis 1979), der gemeinsam mit seiner Tante an der Deutung der Kernspaltung und der dabei freiwerdenden Energie arbeitete; gemeinsam prägten sie den deutschen Begriff "Kernspaltung". Frisch arbeitet auch in den USA an der Entwicklung der Atombombe im berühmt-berüchtigten "Manhattan-Projekt" mit.

Marie Frisch nun, Schwester von Justinian Frisch und somit die Tante von Martha Tausk, ehelichte Rafael Buber, einen in der Forschung eher unbeachteten Bruder von Carl Buber, dem Vater Martin Bubers; Rafael war also der Onkel von Martin Buber, seine Tochter Carola heiratete Sigmund Bloomfield, sie ist die Mutter von Leonard Bloomfield.

Daraus ergeben sich die neuen Erkenntnisse zum Stammbaum der Familien Bloomfield, Frisch und Buber: Martin Buber war der Cousin von Leonard Bloomfields Mutter, oder anders ausgedrückt: Leonard Bloomfields Großvater mütterlicherseits war der Onkel Martin Bubers.

Das Hauptwerk

Leonard Bloomfields Klassiker "Language" ist eines der meistzitierten Bücher auf seinem Gebiet, nach Aussage vieler Experten ist es das beste Buch, das jemals über Sprache geschrieben worden ist, und es dient heute noch als Quellen- und Nachschlagewerk, obwohl es sich nach Intention seines Autors in erster Linie für Studierende und interessierte Laien wenden sollte. Leider wurden seine Prinzipien nie konsequent auf das Deutsche angewendet, und das ist schade, denn das Deutsche spielt in dem Buch eine große Rolle - schließlich war sein Autor nicht nur deutschsprachiger Herkunft, sondern auch ausgebildeter Germanist. Aufschlussreich etwa ist die Gegenüberstellung des englischen und deutschen Verbsystems. Bloomfield berücksichtigt in seinem Werk alle damals bekannten Wissenschaftszweige der Linguistik, wie dies keiner seiner Zeitgenossen tut - auch nicht der Deutschamerikaner Edward Sapir oder der Däne Otto Jespersen , die etwa zur gleichen Zeit ebenfalls sprachwissenschaftliche Einführungen vorlegten. Dies alles und die Tatsache, dass ein Werk von solcher thematischer Breite und theoretischem Tiefgang als Leistung eines einzelnen Autors wohl nie mehr entstehen können wird, macht die Bedeutung dieses Buches erst offensichtlich. Zudem ist es der einzige sprachwissenschaftliche Klassiker, von dem keine deutsche Ausgabe vorliegt. In der deutschsprachigen Linguistik hat Leonard Bloomfield allerdings leider nie eine besonders große Rolle gespielt.

Aber auch im englischsprachigen Raum sind Leonard Bloomfield und sein Werk heute einer eigenartigen "damnatio memoriae" unterworfen worden. Der Grund dafür ist im so genannten Behaviorismus zu sehen, einer in den 20er- und 30er- Jahren vorherrschenden Richtung in der Psychologie, mit der Bloomfield über seinen Kollegen Albert Paul Weiss an der Ohio State University bekannt geworden war. Er versuchte, ihre Grundzüge auf die Linguistik zu übertragen und lehrte fortan, dass der Mensch als Kleinkind die Sprache durch reine Nachahmung erlernt, das heißt, gehörte Äußerungen nachbildet. Dabei würden "richtig" gebildete Äußerungen durch Lob der Eltern o. ä., verstärkt und "falsche" durch Misserfolge wie Ablehnung reduziert. Diese Theorie scheitert allerdings daran, dass Kleinkinder bekanntlich auch Äußerungen produzieren können, die sie noch niemals zuvor gehört haben, und das mit einer erstaunlichen Sicherheit und Fertigkeit. Moderne Theorien wie die Generativistik mit ihren sprachlichen Universalien sind daher heute felsenfest davon überzeugt, dass dem Menschen die Fähigkeit zur Sprache angeboren oder sogar in seinen Genen verankert ist - vielleicht wird die Entschlüsselung und Interpretation des Genoms in unmittelbarer Zukunft zeigen, ob es ein solches "Sprachgen" wirklich gibt.

Den Generativisten wie dem bei uns vor allem als Vietnam- und Medienkritiker bekannten Noam Chomsky oder dem ebenfalls sehr bekannten Chomsky-Schüler Steven Pinker müssen daher die Bloomfield'schen Ansichten als das genaue Gegenteil ihrer eigenen Lehre erscheinen. Allerdings gießen sie das Kind mit dem Bade aus, wenn sie mit dem Behaviorismus, der zugegebenermaßen heute veraltet ist, auch die in die Zukunft weisenden Teile von "Language" ablehnen oder verschweigen. Schließlich werden darin wesentliche Teile der generativen Grammatik und sogar schon die Termini "Nominalphrase" und "Verbalphrase" vorgebildet.

Unsterbliche Verdienste

Leonard Bloomfield zeichnete sich Zeit seines Lebens durch einen immensen Arbeitseinsatz aus. Unsterbliche Verdienste hat er sich, neben "Language", um die Erforschung des Tagalog, einer philippinischen Sprache, und der nordamerikanischen Algonkinsprachen gemacht - auch auf diesem Gebiet stellen seine Arbeiten heute noch in ihrer Genauigkeit und Darstellungsart "klassische" Texte dar. Im Sprachlehrprogramm der Militärs während des Zweiten Weltkriegs verfasste er nicht weniger als vier Sprachdarstellungen entweder selbst oder als Co-Autor, und er vertrat zukunftsweisende Ansichten auch auf sprachdidaktischem Gebiet, indem er sich etwa heute noch gültige Gedanken darüber machte, wie Kindern am besten das Lesen und Schreiben zu lehren sei. Leider wurde er aber auch auf diesem Gebiet viel zu wenig gehört und beachtet. Offenbar durch den gewaltigen Arbeitseinsatz und gleichzeitige private Probleme erlitt er 1946 einen Schlaganfall, der ihn bis zu seinem Tod am 18. April 1949 arbeitsunfähig machte. In einem seiner letzten Aufsätze ("Meaning" von 1943) zitiert er übrigens das niederösterreichische Reimopus "Da Roanad" von Johann Willibald Nagl - für einen amerikanischen Linguisten ein beachtenswertes Detail, das auch seine Nahbezüge zu Österreich offenbart.

Ao. Universitätsprofessor Peter Ernst hat zusammen mit Hans Christian Luschützky und unter Mitwirkung von Thomas Herok Leonard Bloomfields Hauptwerk "Die Sprache" erstmals ins Deutsche übersetzt, kommentiert und herausgegeben. Mit einem Geleitwort von

André Martinet ist das Buch unlängst in der edition praesens, Wien, erschienen.

Freitag, 07. September 2001

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