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Ein passionierter Entzauberer

Der italienische Chemiker Luigi Garlaschelli misstraut Blut weinenden Marien und Milch trinkenden Gottheiten
Von Martin Arnold

Als dem Mädchen Debora Moscogiuri im apulischen Dorf Manduria die Madonna leibhaftig erschien, glaubten ihr noch wenige. Doch verschlossene Fläschchen mit einem einzigen Olivenblatt als Inhalt, die nach einer Nacht in der Nähe einer Marienstatue plötzlich mit Olivenöl gefüllt waren, bekehrten die Einwohner. Zeugen bekreuzigten sich, sprachen von einem Wunder und selbst der Bischof schien geneigt, dem Mädchen Glauben zu schenken.

Auch in Indien ereignen sich Wunder. Berühmt und häufig zu sehen, ist jenes des Elefantengottes Ganesh. Er ist als Statue in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Materialien zu sehen. Und es wird von den Gläubigen als Beweis für Ganeshs Existenz angesehen, wenn er ein Löffelchen voll Milch, das man ihm direkt an den Mund hält, austrinkt.

Als in Assemini in Sardinien eine Marienstatue plötzlich Blut im Gesicht hatte, glaubten die Bewohner an ein weiteres Wunder, das die Allmacht Gottes unter Beweis stellt.

Natürlich zweifeln auch in Italien viele an diesen Zeichen Gottes, aber kaum jemand so sehr wie Luigi Garlaschelli - mit einer Mischung aus Neugier, Fachwissen und Hartnäckigkeit, die es erlaubt, gleich dutzendweise logische Erklärungen für diese Wunder zu finden. "Wir haben es mit Dingen zu tun, die aus Trickbetrügereien, Illusionen, optischen Täuschungen oder ganz einfach schlecht gemachten wissenschaftlichen Experimenten, die ein falsches Ergebnis vorgaukeln, entstanden sind. Manchmal gibt es auch eine natürliche Erklärung für ein so genanntes Wunder."

Der Chemiker an der Universität Pavia nimmt sich in seiner Freizeit so genannter paranormaler Phänomene an. Sie reichen von spuckenden Hügeln bis zu den blutigen Tränen der Heiligenstatuen. Vor allem die katholische Kirche bietet ein reiches Feld für Garlaschellis Untersuchungen. Alleine rund um Neapel sind 190 Blutreliquien registriert. Als 1995 eine Gipsmadonna aus Bosnien-Herzegowina - kaum aufgestellt - im Garten des Elektrikers Fabio Gregori am Fest der Maria Lichtmess Blut zu weinen begann, war die Aufregung in Civitavecchia, einer Kleinstadt in der Nähe Roms, groß - und ebenso die Andacht. Überall in Italien begannen darauf Dutzende Madonnenfiguren, blutige Tränen zu vergießen. Nun hat selbst die katholische Kirche eine Kommission, die solche Dinge untersucht, doch tut sie dies nicht mit dem Eifer des Luigi Garlaschelli, der von sich sagt, dass er den Dingen radikal auf den Grund gehen möchte und ein Wunder erst dann akzeptieren kann, wenn es keine wissenschaftliche Erklärung mehr gibt.

Madonna mit Männerblut

In Civitavecchia posaunte der Bischof sogleich die Überzeugung in die Welt hinaus, es handle sich hier um ein Wunder. Da solche Wunder oft nicht ohne monetäre Konsequenzen sind (Pilger sind seit dem Mittelalter wahre Goldadern), nahm ein misstrauischer Staatsanwalt die Gipsmadonna in Untersuchungshaft. Die untersuchte Mutter Gottes offenbarte keine Hohlräume, aus denen das Blut gesteuert hätte tropfen können. Aber eine DNA-Analyse zeigte, dass es sich beim Marienwunder um männliches Blut handelte. "Außerdem hat sie nur der Hausherr bluten sehen. Als weitere Zeugen hinzu kamen, war das Blut schon eingetrocknet und veränderte sich nicht mehr", erklärt Carlaschelli. Zu gerne hätte er eine Blutanalyse des Hausherren machen lassen, doch der weigert sich bis heute standhaft. "Denn", so die These des Chemikers, "er hat ihr vermutlich sein eigenes Blut unter die Augen gerieben."

Nicht immer sind die Kirchenvertreter so leichtgläubig. Im Falle von Debora Moscogiuri schöpfte auch der Bischof Verdacht und legte den Fall Carlaschelli vor. Der präparierte acht Fläschchen, legte Olivenblätter hinein, erweichte das Glas mit dem Bunsenbrenner und schloss die Öffnung sorgfältig zu. Anschließend fotografierte er den Verschluss von allen Seiten; kein Detail entging ihm. Dann händigte er sie dem Wundermädchen aus.

Nach einigen Wochen kamen sieben zurück, eine blieb verschwunden. Eine war geschwärzt und wies eine Blase auf, vier waren leer, und zwei waren mit Olivenöl gefüllt. Aber der Verschluss war deutlich verändert und ebenfalls geschwärzt. "Die Sache war klar, aber nicht immer handeln Fälscher so naiv", erklärt der Chemiker aus Pavia.

Im Falle der Marienstatue in Assemini konnte der Fälscher mit einer DNA-Analsyse überführt werden. Das Blut in Marias Gesicht stammte von der Besitzerin Christina Ilot.

Doch Tricks und Fälschungen sind in höchstens 10 Prozent der Fälle die plausible Erklärung für paranormale Phänomene. Oft gibt es eine natürliche Erklärung für ein "Wunder". Etwa beim Elefanten-Gott "Ganesh". Die Erklärung dafür ist der Kapillareffekt, eine physikalische Erscheinung, die es infolge der Oberflächenspannung einer Flüssigkeit möglich macht, eine kurze Strecke entgegen der Erdanziehungskraft fließen zu können. Dass anschließend die Milch über Körper und Beine an den Boden rann, sah in Indien meist niemand. Denn die Elefanten sind mit Stoffen bedeckt und der Boden mit Blumen übersät.

Selbst ein Magier

"Vor Leichtgläubigkeit sind nicht einmal Kollegen gefeit", erklärt Carlaschelli. Ein Professor der Elektrochemie in den USA, Autor 300 wissenschaftlicher Publikationen und eines Lehrbuches, das heute noch an den Universitäten Gültigkeit hat, fiel allen Ernstes auf einen Scharlatan herein, der behauptete, aus Kohle, Salpeter und Sulfat durch Erwärmung Gold zu machen. Tatsächlich fanden sich in der Asche kleine Goldpartikel. Doch sie stammten von der Legierung des Behälters, in dem das Feuer war. Auf diese Idee kam der Professor nicht.

Leichtgläubigkeit ist immer eine Voraussetzung für Wunder. Sie treten häufig in den katholischen Ländern auf. "Wer an die Existenz Gottes glaubt, spricht ihm auch die Fähigkeit zu, Wunderdinge zu tun", meint Garlaschelli.

Wo sich Wunder ereignen und ihm die Möglichkeit für eine direkte Untersuchung verweht wird, versucht er das Rätsel im Labor nachzuexerzieren. Für Blut, das unter bestimmten Bedingungen zu einem bestimmten Zeitpunkt flüssig wird, hat Carlaschelli eine Reihe chemischer Formeln auf Lager.

Einige Blutproben werden flüssig, wenn sie geschüttelt werden, andere durch eine Erhöhung der Temperatur auf 30 Grad. Beides trifft auf die sommerlichen Prozessionen im südlichen Italien zu, wo Blut flüssig wird. Mittlerweile präsentiert Carlaschelli seine eigenen Blutwunder. Zum Beispiel mit einem David, der im Kopf einen Hohlraum besitzt, aus dem Farbe in die Augen geleitet wird.

Wer immer noch an die Möglichkeit von Unerklärlichem glaubt, dem demonstriert Carlaschelli wie ein Fakir einen zwölf Zentimeter großen Nagel und hämmert ihn durch seine Nase in den Schädel hinein. Am Modell eines Schädels zeigt er, dass dies tatsächlich ohne Verletzung möglich ist. Der Chemiker kaut auf Wunsch auf Glasscherben, schluckt Feuer oder liegt auf dem Nagelbrett. Für alles hat er eine logische Erklärung. Ihm ist nichts heilig. Den Bartwuchs am Kopf eines Christusbildes enttarnte er als Pilz.

Die plötzlichen transparenten Tränen einer Marienstatue waren in Wahrheit eine Farbverdickung des übermalten Originals, das durch eine Lichtveränderung plötzlich sichtbar wurde. Auch das Grabtuch Christi in Turin ist nicht das, wofür es die meisten Katholiken halten.

Carlaschelli: "Mit der Kohlenstoffdatierung konnten wir die Herstellung des Tuches auf das 14. Jahrhundert festlegen. Das wurde von drei unabhängigen Labors bestätigt. Dies war übrigens auch die Zeit, aus der die ersten schriftlichen Hinweise zu finden sind. Wir haben ein Tuch auf einen regungslosen Mann gelegt und die Abdrücke sichtbar gemacht. Sie sind anatomisch völlig anders als jene auf dem Leichentuch."

Seit sich Carlaschelli vor 10 Jahren dem italienischen "Komitee der Beweisüberwachung paranormaler Phänomene" (CIAP) angeschlossen hat, sucht er mit detektivischem Spürsinn nach logischen Erklärungen, was andere als Zeichen Gottes betrachten. Ausgestattet mit viel Spürsinn, wollte er schon als Junge wissen, wie das genau funktionierte, als eine Frau im Zirkus zersägt wurde. Der Drang, die Wahrheit zu wissen, ist der Antrieb für seine Forschungen. Zur Zeit will er das Mysterium von San Galgano aufklären. Denn dort, in einer kleinen Kapelle in der Nähe der toskanischen Stadt Siena, steckt das Schwert des St. Michael in einem Stein. "Nicht wirklich hinein getrieben. Daran zweifelt selbst die Kirche nicht."

Dennoch möchte Garlaschelli mit Hilfe eines parallel gebohrten Loches herausfinden, ob das Schwert heil ist; er möchte es datieren und ebenso die in Vitrinen ausgestellten zwei Hände, die einer Legende nach angeblich von zwei Menschen stammen, die das Schwert aus dem Stein herausziehen wollten und deshalb von einem Wolf gerissen worden, beziehungsweise in einem Fluss ertrunken seien. Erstmals forscht Carlaschelli nicht unbezahlt in seiner Freizeit, sondern wird von einem italienischen Nachrichtenmagazin unterstützt.

Wunder zum Selbermachen

Jedes Jahr am ersten Maisamstag verflüssigt sich das in einem Fläschchen aufbewahrte Blut des Heiligen Januarius, des Patrons gegen Vulkanausbrüche in Neapel. Seit über 1.500 Jahren wiederholt sich dieses Ereignis regelmäßig. Bisher durfte Luigi Carlaschelli keine Untersuchungen am angeblichen "Blut" vornehmen. Aber er hat einen Lösungsvorschlag, wie sich ein roter geleeartiger Stoff beim Schütteln verflüssigt. Das Verfahren entspricht dem Wissenstand des frühen Mittelalters. Man verwendet Eisen(III)chlorid x Hexahydrat, aufbewahrt in einem festen Behälter, Kalciumcarbonat, zum Beispiel Eierschalen, Salz, destilliertes Wasser und einen Schlauch; im Idealfall eine Blase oder einen Darm vom Metzger.

25 Gramm Eisen(III)chlorid x Hexahydrat in 100 Milliliter Wasser auslösen, bis eine klare rötlich-orange Lösung entsteht. 10 Gramm der pulverisierten Eierschalen hinzufügen und langsam verrühren.

Nun den Schlauch auf zirka 30 Zentimeter schneiden, wässern, ein Ende verknoten und ihn bis zur Hälfte mit der zu reinigenden Masse füllen und in ein Gefäß stellen, das auf dieselbe Höhe mit dem destillierten Wasser gefüllt ist. Das destillierte und durch das Diffundieren rot gefärbte Wasser drei bis vier mal nach jeweils 24 Stunden wechseln.

Die Lösung in der Luft durch Verdunsten konzentrieren, in ein Gefäß füllen und etwas Salz beigeben. Das so genannte Thixotropierungsgel wird sich schnell bilden. Die Flüssigkeit verdickt und kann durch Schütteln jederzeit wieder flüssig gemacht werden. Die Mischung ist nicht toxisch und ermöglicht wahre Wunderauftritte.

Freitag, 07. September 2001

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