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Über den Literaturwissenschaftler Harry Zohn (1923 bis 2001)

"Wo ich nutze, ist mein Vaterland"

Von Michael Hansel

Am 3. Juni dieses Jahres verstarb in West Newton/Massachusetts ein bedeutender "österreichischer" Literaturwissenschaftler: Professor Harry Zohn. Der vor mehr als einem halben Jahrhundert von den Nationalsozialisten aus Wien vertriebene Zohn lebte und wirkte seit seinem 16. Lebensjahr in Amerika. Dem Sprachverlust, der für viele Exilanten - nicht zuletzt für viele Schriftsteller - ein Trauma bedeutete, stellte sich Zohn früh entgegen: ". . . ich habe mir meine Muttersprache nicht vermiesen oder rauben lassen, sondern wurde Germanist." (1) Derart blieb die deutsche Sprache ein Hort, eine Heimat (nicht nur) im Geiste, obgleich er in Interviews und Aufsätzen stets festhielt, dass diese eigentlich nicht Hochdeutsch war, sondern ein Gemisch aus galizischem Jiddisch und Wienerisch.

Durch den Willen, die Muttersprache und deren Kultur zu pflegen, entwickelten die Emigranten oftmals eine doppelte Loyalität, sowohl zu ihrem Geburtsland als auch zu ihrem Gastland, das für viele zur neuen Heimat wurde. Harry Zohn wies stets auch auf den dritten Aspekt seiner Identität hin, wenn er sich als in Wien gebürtiger amerikanischer Jude bezeichnete, wobei er die Betonung immer auf das Substantiv "Jude" legte und damit auf den Ursprung seiner Familie bewusst aufmerksam machte.

Der Vater, Abraham Leon Zohn, kam vor dem Ersten Weltkrieg aus Janów in Galizien nach Wien und war einer der bekanntesten Schildermaler Wiens. Die Mutter, Adele Dora Awin, stammte aus Lemberg. Harrry Zohn kam als jüngstes Kind und einziger Sohn der sechsköpfigen Familie am 21. November 1923 in Wien zur Welt. Er besuchte ein Knabengymnasium, das Sperl-Gymnasium in der Leopoldstadt, dessen prominentester Absolvent wohl Sigmund Freud war und das sich in der Nähe des Vergnügungsetablissements "Zum Sperl" befand. Mit Einmarsch der Hitler-Truppen wurde das Gymnasium vorübergehend geschlossen. "Nach dem ,Anschluss' konnten wir erst Ende April (glaube ich) wieder in die Schule gehen. Da kamen dann Juden aus anderen Bezirken dazu, und es wurde zum jüdischen Gymnasium. Aber nur ein paar Monate." (1)

Ab Juni 1938 konnte der Mittelschüler keine Schule mehr besuchen. In Erinnerung an jene Zeit hielt der Germanist fest: "Antisemitismus, Stänkereien, Raufereien, Radau gab's immer. Antisemitismus war ein way of life. Die Kinder haben einander verhauen. Aber es hat keine so bedenklichen Formen wie später angenommen, damit konnte man noch leben, das wusste man. Aber der ,Anschluss' selbst . . . Was sich dann die kochende Volksseele der lieben Wiener geleistet hat, also davon weiß ich ein Lied zu singen, obwohl meiner engsten Familie, meinen Eltern und den drei Schwestern nichts passiert ist. Wir sind alle mit heiler Haut davongekommen. Dafür muss ich dankbar sein. Aber wir wussten gleich vom ersten Moment an, was uns blühte, als der ,Anschluss' kam. Was in Deutschland fünf bis sechs Jahre gedauert hat, hat sich in Österreich alles innerhalb von Tagen und Wochen entladen, sodass wir sofort ans Auswandern denken mussten."

Die älteren Schwestern konnten bereits im Sommer 1938 das Land in Richtung London verlassen. Im Spätherbst traf per Post die Einreisegenehmigung für den damals 15-jährigen Zohn ein, der seinen Schwestern damit Anfang Februar 1939 folgen konnte. Vater und Mutter kamen erst sukzessive nach, die Mutter gar erst eine Woche vor Kriegsausbruch. Zunächst war der junge Mann in Ramsgate, einem Badeort in der Grafschaft Kent untergebracht. Eine Gruppe von Londoner Ärzten unterhielt dort ein Heim für Jungen.

Einen großen Einschnitt für das Leben im englischen Exil bedeutete jedoch der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Mit der Besetzung Frankreichs und der Benelux-Staaten durch Hitler im Frühjahr 1940 kam es auch in England zur Internierung der Exilanten aus Deutschland und Österreich, die nun als "enemy aliens", als feindliche Ausländer eingestuft wurden. Mit Hilfe einer Bürgschaft zur Einwanderung in die Vereinigten Staaten, die der Familie Zohn von einer Bekannten gestellt worden war, konnten die Eltern und ihr Sohn im Mai 1940 England mit dem Zielort Boston verlassen. Erst in Amerika konnte Harry Zohn seine Schulbildung fortsetzen: "Zwischen Juni (glaube ich, war es) 1938 und Herbst 1940 hatte ich keinen Unterricht. Aber, und das muss man schon sagen: Diese autoritäre Erziehung in Wien war so gut, dass ich aufgrund meiner Zeugnisse und Kenntnisse dann später so eingestuft wurde hier in Boston, dass ich keine Zeit verlor. Ich hatte dann noch ein Jahr an der High School zu machen und war mit siebzehneinhalb

Jahren (was ganz normal ist) fertig." (1)

Die Entscheidung, aufs College zu gehen, war für Zohn eine selbstverständliche. Allerdings musste er, da er bei seinen Eltern wohnte und der Vater noch keine Schildermalerwerkstatt hatte, in einem Kreditbüro als Postjunge, Austragsjunge, Laufbursche und Schreiber von Kreditreporten Geld dazuverdienen. In diesen fünf Jahren war er Werkstudent an der Suffolk-Universität, deren Ehrendoktorat er nebenbei bemerkt 1976 verliehen bekam. Ursprünglich den Beruf eines Journalisten im Sinn, kam Harry Zohn zu dem Schluss, Deutschprofessor zu werden, seine Muttersprache zu lehren und die in ihr enthaltenen literarischen, kulturellen und ethnischen Werte zu pflegen, zu bewahren und neuen Generationen zu vermitteln. "Meinen ersten Magister erwarb ich in Education, an der Clark University in Worchester. Ich hatte einige Angebote, Lehrer zu werden, wollte aber am College lehren. Und dazu braucht man das Doktorat. Dann kam die Gelegenheit, als Assistent in Harvard zu arbeiten, wo ich vier Jahre war, noch einen Magister machte und Anfang 1952 mein Doktorat." (1)

Seit 1951 war Zohn Mitglied der Abteilung für germanische und slawische Sprachen an der BrandeisUniversität in Waltham/Massachusetts, wo er ab 1967 die Professur für deutsche Sprache und Literatur erhielt.

Zwischen den Kulturen

Über 40 Jahre fand Harry Zohn in der Brandeis-Universität eine ihm besonders gemäße Wirkungsstätte, die in demselben Jahr wie der Staat Israel gegründet wurde und als Beitrag des amerikanischen Judentums zum amerikanischen Hochschulwesen gilt. Mit Vorliebe unterrichtete der Professor österreichische Literatur, bot aber immer wieder bei den Studenten beliebte Kurse über Musik, Kunst und

Architektur, besonders des Fin de Siècle, an. Die Liebe zum Beruf spiegelt sich in einer beinahe unüberschaubaren Zahl an Publikationen wider - Monografien, Aufsätze, Rezensionen und vor allem Übersetzungen. Nicht zuletzt waren es die Übersetzungen, u. a. von Stefan Zweig, Theodor Herzl, Gershom Scholem, Karl Kraus, Kurt Tucholsky oder auch Sigmund Freud, die ihm eine Mittlerrolle zwischen den Kulturen einnehmen ließ. Bereits das Thema seiner Dissertation, "Stefan Zweig als Mittler in der europäischen Literatur", die Zohn bei dem angesehenen Literarhistoriker Karl Vietor schrieb, weist auf das besondere Selbstverständnis des Geistes- und Kulturwissenschafters hin: "Die Arbeit an dieser Studie deckte eine gewisse Wahlverwandtschaft oder Wesensgemeinschaft mit diesem österreichisch-jüdischen Dichter auf, die durch meine sich über zwei Jahrzehnte erstreckende innige Freundschaft mit seiner in Connecticut lebenden ersten Frau Friderike Maria Zweig noch wesentlich vertieft wurde." (2) 1957 war Harry Zohn auch mitverantwortlich an der Gründung einer Internationalen Stefan Zweig-Gesellschaft beteiligt.

"Ich möchte aber betonen, dass es zumeist nicht so sehr Werke, Themen oder Strömungen waren, die mich mit der österreichischen Literatur und Kultur verbanden, sondern aus Wien ausgewanderte, erlesene Menschen, denen ich in vielen Fällen nahe stehen durfte. Außer Friderike Zweig nenne ich Mirjam und Naemah Beer-Hofmann, Franz Mittler, Franzi Ascher-Nash, Felix Pollak, Friedrich Torberg, Ernst Waldinger, Hertha Pauli, Alfred Farau, Robert Rie, Mimi Grossberg, Ernst Krenek, Otto Zausmer, Theodor Kramer, Irene Harand, Frank Zwillinger, Max Knight und Joseph Fabry (die viele Jahre lang unter dem gemeinsamen Pseudonym Peter Fabrizius schrieben), und - last not least - die beinahe hundertjährige Lola Blonder, ein selten begabter schöpferischer und lebensbejahender Mensch." (2)

Zohn - der auch einer der aktivsten amerikanischen Forscher der Exilliteratur war - bewährte sich ebenso als "menschlicher Mittler". Zwischen den Jahren 1951 und 1958 trat der Germanist mit dem damals in Guildford/England im Exil lebenden und isolierten Lyriker Theodor Kramer in eine mehr als 220 Briefe umfassende Verbindung. Er nahm sich des oftmals schwierigen, hypochondrischen und in der Folgezeit schwer kranken Dichters helfend an. So finden sich in den Briefen nachweislich Dankesbezeugungen Kramers für die von Zohn geschickten Schecks, die im Schnitt 10 Dollar ausmachten und über finanzielle Engpässe hinweg halfen.

Über Oskar Maria Graf konnte er Kramer eine Publikationsmöglichkeit im "Aufbau" vermitteln und sorgte selbst mit zwei Aufsätzen über ihn in den renommierten Zeitschriften "German Life & Letters" und "Books Abroad" für eine Rezeption des österreichischen Lyrikers in Amerika. Für den damals jungen Wissenschaftler hatte die Verbindung zu Kramer persönlich wie beruflich einen großen Stellenwert. "Ich war sehr froh einem wirklichen Dichter helfen und meinen Studenten Einsicht in einen wirklichen Dichter bieten zu können." (3)

Der Wiener Musik ergeben

Im Sommer 1955 kam Harry Zohn auf Einladung des Bundespressedienstes das erste Mal nach Wien zurück. Trotz oftmaliger Reisen zu Vorträgen in seine alte Heimatstadt hat es keine Überlegungen gegeben, nach Österreich zurückzukehren, obgleich Wien für ihn nie seine Anziehungskraft verlor. "Gezeichnet hat mich diese Stadt unter anderem in dem Sinn, dass ich auch mehr als ein halbes Jahrhundert, nachdem ich sie verlassen musste, hellhörig geblieben bin für ihren unwiderstehlichen Sirenengesang und dass ich ihrem unüberhörbaren Ruf, beruflich wie privat, physisch wie psychisch, immer wieder Folge leiste. . . . Ich bin aber schon durch meinen Beruf exponiert oder ,anfällig' und deshalb immer in der Lage, mich fallen zu lassen. Schon oft habe ich mich

gefragt, ob meine Beziehung zu meiner Heimatstadt eine ebenso

innige wäre, wenn ich nicht Germanist mit österreichischer Note geworden wäre, sondern etwa Arzt, Jurist, Techniker oder Geschäftsmann." (2)

Zohns Verbindung zu Wien war auch stets eine Verbindung zu den jüdischen Menschen dieser Stadt, ihren Leistungen und ihrer Bedeutung für die Kultur - ob dies die weltweit anerkannten Werke Gustav Mahlers und Arnold Schönbergs, die Werke eines Schnitzler, Zweig und Kraus oder der vielfach missbilligte Feuilletonismus um die Jahrhundertwende war.

Seine große Leidenschaft war jedoch die Musik dieser Stadt: "Die Wiener Musik - von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert über Brahms, Bruckner, Mahler und die Strauß-Dynastie bis zur sogenannten Zweiten Wiener Schule (vornehmlich Berg, Schönberg, Webern) - ist natürlich eine Weltbezauberung, aber vielleicht haben Menschen, die in Wien aufgewachsen sind, eine besonders innige Beziehung dazu." (2) Zwei dieser musikalischen Vorbilder durfte der Literaturwissenschafter auch zu seinen väterlichen Freunden zählen - Robert Stolz und Max Schönherr. Vielleicht wäre auch aus Harry Zohn ein bedeutender Musiker hervorgegangen, hätte er sich nicht für die Germanistik entschieden, sondern seine musikalischen Ambitionen intensiver betrieben. Viele Jahre über spielte er in verschiedenen Amateurorchestern Bratsche, zuletzt sogar im Brandeis Symphonie Orchester. Im Umfeld vieler Vorträge verstand er es immer wieder, Kollegen mit Darbietungen von Wienerliedern und Operetten zu vergnügen. Diese Liebe zur Musik und Literatur konnte er überdies an seine beiden Kinder - der Sohn ist Musikwissenschaftler, die Tochter Schauspielerin - weitergeben.

1960 wurde Professor Harry Zohn mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Bedauerlich, wenn auch bezeichnend, dass er von seinem ehemaligen Heimatland erst 24 Jahre später das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst überreicht bekam. Im Jahre 1999 folgte mit dem Ehrenring der Stadt Wien eine weitere große Würdigung. Heute liegt es vor allem an der Germanistik, die Arbeit und den ruhmvollen Verdienst des Wissenschaftlers gerade an der österreichischen Literatur in Erinnerung zu halten.

",Ubi bene, ibi patria', sagten die alten Römer. Sehr viele, vielleicht sogar die meisten Menschen leben nach diesem Grundsatz und fühlen sich dort beheimatet, wo es ihnen - gewöhnlich materiell - am besten geht. Ich aber beherzige das Wort aus ,Wilhelm Meisters Lehrjahren', das der ebenfalls aus seinem Heimatland emigrierte Professor Karl Vietor mir in ein Exemplar seines Goethe-Buches schrieb: ,Wo ich nutze, ist mein Vaterland'." (2)

Zitate: (1) Harry Zohn: Ich habe mir meine Muttersprache nicht vermiesen oder rauben lassen. Interview von Lola Fleck mit Harry Zohn. In: Lebenswege und Lektüren. Österreichische NS-Vertriebene in den USA und Kanada. Hg. von Beatrix Müller-Kampel unter Mitarbeit von Carla Carnevale, Tübingen 2000

(2) Harry Zohn: Ich stamme aus Wien. In: Wiener Journal, Heft 243/244 (Dezember 2000/Jänner 2001), XIV-XVI.

(3) E-Mail von Harry Zohn an Michael Hansel vom 9. Dezember 2000.

Michael Hansel ist Literaturwissenschaftler und untersuchte in seiner kürzlich fertig gestellten Diplomarbeit den Briefwechsel zwischen Theodor Kramer und Harry Zohn.

Freitag, 07. September 2001

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