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Alois Riedlers Kampf um die Gleichstellung der Ingenieure

Maschinenbau als Bildungsgut

Von Günther Luxbacher

Das 19. Jahrhundert kann zu Recht als eine Zeit beschrieben werden, in der technische Entwicklung und gesellschaftliche Modernisierung weit auseinander klafften. Auf der einen Seite Kapitalanhäufungen, mit denen gigantische Produktivitätsfortschritte erreicht wurden, auf der anderen ein Heer von Habenichtsen, das Proletariat, dazwischen eine daraus alimentierte, altenständischen Idealen verhaftete Akademikerelite, die das Ganze mehr schlecht als recht staatlich verwaltete und im weltwirtschaftlichen Konkurrenzkampf ins Hintertreffen geriet. Manche sahen das Heil in der Revolution, manche im Niederhalten der Arbeiter, einige im Nichtstun und andere im Krieg, während die meisten nach Ventilen suchten, um jeweils das Schlimmste zu verhindern. Die Wiener waren hier klüger, denn sie wussten schon: "Gott behüt' uns vor allem, was grad noch ein Glück ist."

Schon das 19. Jahrhundert neigte dort, wo es scheinbar zu keinen gesellschaftlichen Lösungen kommen konnte, zu technischen Lösungen. Neben dem Heer waren es zuerst die städtischen Verwaltungen, die technisches Fachwissen im Rahmen der neuesten stadttechnischen Errungenschaften wie Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke in ihre Reihen holten. Die Ära der modernen "Leistungsverwaltung" begann und mit ihr eröffneten sich für Ingenieure bald völlig neue berufliche Perspektiven. Das Zeitalter der sachtechnischen Vernunft begann dort, wo jenes der gesellschaftlichen Vernunft endete. Manche begannen im Typus des Ingenieurs das Idealbild nicht nur des Fabrikmanagers zu sehen, sondern in dessen (angeblichen) Kennzeichen, Rationalität, Sachverstand, Logik u. dgl. die Voraussetzung für die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. Es war ein Ingenieur und Maschinenbauer aus der Steiermark, der im wilhelminischen Deutschland an der Spitze der so genannten "Technikerbewegung" für diese Ideale focht.

"Schnellbetrieb"

Alois Riedler wurde 1850 in Graz geboren und studierte am dortigen polytechnischen Institut Maschinenbau. Nach mehrjähriger Assistentenzeit an den Technischen Hochschulen in Brünn und Wien auf dem Fachgebiet des praktischen Maschinenbaus wurde er Maschinenkonstrukteur an der Technischen Hochschule Wien. Hier arbeitete er eng mit dem weltberühmten Johann von Radinger zusammen, einem der wichtigsten Vertreter des Dampfmaschinenbaus und der Maschinentechnik seiner Zeit. Das Fach war erst drei Jahrzehnte zuvor überhaupt ausgebildet worden. Die Wiener Schule des 1815 gegründeten polytechnischen Instituts war daran wesentlich beteiligt gewesen, indem einer ihrer Absolventen, der Maschinenbauer Ferdinand Redtenbacher (aus der oberösterreichischen Sensenschmiedendynastie stammend) als Direktor der ersten deutschen Technischen Hochschule in Karlsruhe die Grundlagen mit der Einteilung in einen praktischen und einen theoretischen Maschinenbau legte.

Riedler untersuchte zunächst noch für die österreichische Regierung die Maschinenexponate auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876, der ersten Weltausstellung auf amerikanischem Boden. In den USA entdeckte er auch ein in Laborübungen praktisch geprägtes Maschinenbaustudium, das, so seine Folgerung, die Ursache für das allmähliche Überholen der USA auf dem Feld der Maschinentechnik darstellte.

1880 ging er als Prädikatsprofessor an die Technische Hochschule München und 1884 erhielt er seinen ersten Ruf als etatmäßiger Professor an die damals erst seit zehn Jahren bestehende Technische Hochschule Aachen, die als besonders praxisnah galt.

Der massive Aufschwung bei der Maschinisierung aller industriellen Bereiche ließ den Ruf der Interessensvertretungen der Unternehmer nach praktisch ausgebildeten Maschinenbauern immer lauter werden. Das preußische Kultusministerium beschloss daher, die Weichen an den eigenen Hochschulen ebenfalls stärker auf praktische Maschinen- und Laborarbeit abzustellen und begann dabei bei der Technischen Hochschule Charlottenburg (heute TH Berlin): auf Betreiben des Ministeriums bot sie Riedler 1888 einen Lehrstuhl an und setzte damit einen Kontrapunkt zum bis dahin eher theoretisch betriebenen Maschinenbau. Riedlers größter Gegenspieler war der Maschinentheoretiker Franz Reuleaux, der ebenso wie jener eine Reform des deutschen Maschinenbaus anstrebte, nur von der theoretischen Seite her. Reuleaux' Urteil über deutsche Maschinenbauprodukte auf der Weltausstellung in Philadelphia 1876 als "billig und schlecht" hatte für einen Skandal in Deutschland gesorgt und die Debatte erst so richtig angeheizt.

Als der "Theoretiker" Reuleaux schließlich mit dem "Praktiker" und "wortgewaltigen und nicht eben taktvollen" Riedler den Kampf aufnahm, zog Reuleaux den kürzeren. Der "Theoretiker" verließ die Hochschule und Riedler löschte das von ihm initiierte Maschinenbaufach "Kinematik" sogar noch nachträglich aus den Lehrplänen.

In gewisser Weise konnte man den Ausgang dieses Kampfes als Kennzeichen der Zeit sehen, da nunmehr Effizienzdenken, Rationalisierung und Wirtschaftsanbindung die Köpfe der Ingenieure zu beherrschen begannen. Während zuvor eher das Durchdringen mehr theoretisch und systematisch ausgerichteter mechanisch-technologischer Probleme an den Hochschulen im Vordergrund stand, wurde nun der praxisnahe "Schnellbetrieb" (so der Titel einer Riedler-Publikation) eines noch dazu besonders kriegerischen Zeitalters ausgerufen. Der Wettlauf der Nationen spielte sich nun vorrangig auf der Ebene von Unternehmensgrößen, Maschinen und Produktivität, Umsatz und Exportraten und nicht zuletzt auf der von Geschützreichweiten ab, eine Realität, die Riedler zuerst in den USA wahrgenommen hatte und nun an die deutschen Hochschulen holen wollte.

Die Weltausstellung in Chicago 1893 bot ihm Gelegenheit, mit Nachdruck für eine praxisbetontere Ingenieursausbildung in Deutschland einzutreten:

"Tatsache ist, dass mindestens drei Viertel aller Ingenieurbauten und Unternehmungen technischer Art der Welt von der englischsprachigen Rasse ausgeführt werden . . . Soll nicht minderwertige Veranlagung als Ursache solcher Zustände angenommen werden, wofür keinerlei Nachweis erbracht werden kann, so muss die Ursache in der Erziehung gesucht werden."

Das klang nachvollziehbar, doch wirklich logisch war es nicht, denn es konnte noch eine Reihe anderer Gründe dafür geben, etwa die andernorts andere Dimensionen erreichenden Bevölkerungs-, Land-, Rohstoff-, und Kapitalmassen, doch eine derartige Analyse wäre viel zu vielschichtig gewesen, als dass Riedler sie propagandistisch für seine Zwecke hätte auswerten können. Und so erreichte er, was er wollte, sein Bericht erregte große Aufmerksamkeit und wurde sogar in der Tagespresse erörtert.

Riedlers Vorschläge stießen auch beim ehrwürdigen "Verein deutscher Ingenieure" (VDI) auf Gehör. In den sogenannten "Aachener Beschlüssen" wurde festgelegt, dass nicht mehr "akademische Erörterungen über die Ausbildung der Ingenieure" zu diskutieren seien, sondern dass es ganz im Sinne wilhelminischer Expansionspolitik darum gehe, "die gefährdete Stellung im Wettbewerb der Völker zu erhalten". Man stehe der drückenden Notwendigkeit gegenüber "welche uns der Wettbewerb des Auslandes in Verbindung mit unseren vielfach schwierigeren Verhältnissen auferlegt. Es heißt jetzt einfach sich der eigenen Haut wehren. Diejenige Ausbildung, die sich am fruchtbringendsten erweist, ist die allein richtige."

"System Riedler"

Diese martialisch klingenden und wohl auch so gemeinten Beschlüsse waren offensichtlich nach dem Geschmack der (rhein)preußischen Bürokratie und Kaiser Wilhelms II., dem sie vom berühmten Funktechniker Adolf Slaby vorgelegt worden waren. In Berlin brachte das Jahr 1896 die Eröffnung des ersten großen Maschinenbaulabors an der TH Charlottenburg, geleitet natürlich von Riedler, 1900 folgte z. B. auch die Wiener Technische Hochschule mit einem neuen Labor für elektrische Maschinen unter dem bekannten Elektrotechniker Walter Hochenegg. Noch 1907 eröffnete das Berliner Kraftfahrzeug-Institut unter den Vorzeichen von Riedlers "Schnellbetrieb". Die neuen Hochschulinstitute wurden (mit leisem zynischen Unterton?) als "System Riedler" bezeichnet. Auf der einen Seite entsprachen die Reformen den so genannten Notwendigkeiten der Zeit, auf der anderen ließen sich dadurch die Technischen Hochschulen nun von außen praxis- und finanzstärker ihre Lehrinhalte vorschreiben - ein echt moderner Zwiespalt. Hervorzuheben ist, dass die Modernisierung des deutschen Maschinenbaus in eine Zeit massiver Aufrüstung fiel, damit zwar mit den angloamerikanischen Vorbildern prinzipiell gleichzog, gleichzeitig jedoch eine ganz andere, ursprünglich nicht intendierte, tendenziell stärker militärische Begründung als diese erhielt.

"Dr. Ing."

Um die Jahrhundertwende wandelte sich der technische Praktiker Riedler in einen Gesellschaftstheoretiker. Sein prinzipielles Ziel wurde die Gleichstellung des Ingenieurstandes mit dem Stand der hohen Staatsbeamtenschaft. Dies wollte er durch die Verleihung des Promotionsrechts der Technischen Hochschulen erreichen. Inhaltlich jedoch, so Riedler, müsse es genau umgekehrt sein: "Nicht die Technischen Hochschulen müssen sich den Universitäten, sondern die Universitäten müssen sich den Technischen Hochschulen angleichen", denn die Universitäten stünden in keinem lebensvollen Zusammenhang mehr mit den "praktischen und sozialen Aufgaben der Zeit" und er ging sogar soweit, die "überlieferte Klassenherrschaft", die durch die Universitäten aufrecht erhalten würde, zu verdammen. Gegner nutzten derartige Vokabeln, um Riedler Sozialismus vorzuwerfen, was ihn die Salonwürdigkeit gekostet hätte, doch er war weit vom Sozialismus entfernt.

Auf der einen Seite kritisierte Riedler zwar die einem veralteten humanistischen Bildungsideal anhängenden "Müßiggänger" und ihren Anspruch auf Alimentierung durch die schaffend Arbeitenden, auf der anderen Seite aber, so Riedler, müsse alles getan werden, um einer "Proletarisierung" des Ingenieurstandes entgegenzuwirken. Ingenieure und Arbeiter dürften nicht dieselben Interessen vertreten. Dies könne nur erreicht werden, indem man den Ingenieuren gleichrangige staatstragende Aufgaben zuwies wie den humanistisch-geschichtlich Gebildeten. Hier dürfte Riedler jedoch einen Stellvertreter-Angriff gestartet haben. Denn es waren gar nicht die humanistisch-geschichtlich Gebildeten, die die Mehrzahl der staatstragenden Ämter innehatten, sondern juristisch Gebildete. Gegen das damals so genannte "Juristenmonopol" im Staatsdienst vorzugehen, war eines der Kennzeichen der aufkommenden "Technikerbewegung", Riedler selbst blieb dabei wohl aus strategischen Gründen vorsichtig.

Riedler erhielt Zugang zum Kaiser, ein Privileg, das vorher nur dem AEG-Mann Adolf Slaby gegönnt war. 1899, auf der glanzvollen Hundertjahrfeier der TH Charlottenburg verlieh der Staatenlenker der Lehranstalt das Promotionsrecht. Damit hatte Riedler und mit ihm die Technikerbewegung ein erstes wichtiges Ziel erreicht, die formale Gleichstellung mit den anderen Eliten durch den Titel Dr. Ing.

Riedler wurde Rektor der angesehensten deutschen Technischen Hochschule. Bei seinen weitergehenden Plänen zur Schaffung einer "Akademie der technischen Wissenschaften" läuteten bei den Formal- und Naturwissenschaftlern (vor allem Physikern und Mathematikern) jedoch alle Alarmsirenen. Schließlich hatten auch sie Pfründe zu verlieren. Da sie, ebenso wie die Juristen im Staatsdienst, an den Technischen Hochschulen einen Großteil der Mannschaft stellten, konnten sie den ungestümen Riedler mit Gegengutachten stoppen, indem sie heftig mauerten. Sie stellten sich nun allesamt auf die Seite des Totschlag-Arguments, dass es eine "technische Wissenschaft" nicht gäbe, sondern nur die ihr zugrunde liegenden Natur- und Formalwissenschaften, die bereits an Universitäten und Akademien (durch sie) vertreten seien. Riedler war jedoch von Aussagen wie: "Das Wissen selbst ist eine Tochter der Anwendung, nicht umgekehrt" nie abgerückt. Die Gegnerschaft der Naturwissenschaftler konnte aber auch ein Riedler nicht überwinden, die Symbiose zwischen Technik und Wirtschaft hatte in das zweite Glied zu treten, es blieb bei der Dominanz der Koalition zwischen Naturwissenschaften und Technik (im Wesentlichen bis heute).

"Kämpfernatur"

Noch einmal verhalfen Riedler die Umstände des Krieges zu erneuter Bekanntheit. Im Ersten Weltkrieg wurde Walther Rathenau, der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau, dem Riedler nahe stand, Leiter der Kriegsrohstoffabteilung. Das war eine Art Zentral-Lenkungsorgan der Kriegswirtschaft, deren Eigentümlichkeiten plötzlich auf eine wirtschaftlich aufgeklärte Ingenieursausbildung drängten.

Auch die massiven ökonomischen Probleme nach dem verlorenen Krieg zwangen die Hochschulpolitik geradezu in die Richtung der Überlegungen Riedlers, doch hatte die politische Szene gewechselt. Riedler zählte plötzlich zu den "Alten" und außerdem meinte man in den Thesen der US-Rationalisierungsbewegung, allen voran Frederick Winslow Taylor und später Henry Ford, längst adäquaten Ersatz gefunden zu haben. Riedler musste zusehen, wie die von ihm bereits vor Jahrzehnten propagierten US-Vorbilder an ihm vorbei in die deutsche industrielle Landschaft einzogen, während er sich höchstens am Motto des Historikers Hermann Heimpel hätte ergötzen können: "Belesenheit schützt vor Neuentdeckungen". Er mischte sich zwar noch in die Debatten über die Ausbildungsprofile deutscher Ingenieure in der Weimarer Republik ein, doch galt er nun mehr und mehr als Außenseiter.

Von Kollegen als "Kämpfernatur" eingeschätzt gab er nicht auf und wandte sich etwa der Technikgeschichte zu, einer beliebten Freizeit-Sportart unter pensionierten Ingenieuren (die meisten Historiker behandelten das Fach damals mit derselben höflichen Distanz wie heute).

1920, mit 70 Jahren, schied Riedler aus dem Lehrbetrieb aus. Er gilt heute als Modernisierer der deutschen Technischen Hochschulen und Anführer der frühen Technikerbewegung. Doch sein eigentliches Anliegen, die wirtschaftliche und soziale Reform einer modernen Industriegesellschaft durch die gleichberechtigte Integration des Ingenieurs in Staat und Kultur schlug fehl, weil die sich daraus ergebenden Denkumstellungen an den Grundfesten gesellschaftlicher Werte rüttelten (und noch rütteln).

Alois Riedler starb, ohne dass jemand Notiz davon genommen hätte, 1936 in Wien, wo er seine letzten Lebensjahre verbracht hatte.

Freitag, 07. September 2001

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