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"Macht das Maul auf!"

Ärzte engagieren sich weltweit für nukleare Abrüstung
Von Barbara Schleicher

Macht das Maul auf! Dort, wo der Protest sich der öffentlichen Meinung der Völker bemächtigt und wo die öffentliche Meinung vieler Völker zusammenklingt, dort wird die Macht der Lüge gebrochen werden und der atomare Wahnsinn ein Ende finden. Diese aufrüttelnden Worte des legendären

Friedensnobelpreisträgers Albert Schweitzer aus den 50er Jahren haben selbst im Jahre 2000 nichts an ihrer pazifistischen Aussagekraft eingebüßt. Könnte es doch sein, dass in diesem Augenblick irgendwo auf diesem Planeten die absolute Waffe eingesetzt würde. Erinnert sei an die indisch-pakistanischen Atomwaffentests der jüngsten Vergangenheit oder denkbare nordkoreanische Nukleartests oder den Einsatz nordamerikanischer uranangereicherter Bomben im Kosovo.

Heute - mehr als ein Jahrzehnt nach Beendigung des Kalten Krieges - muss noch immer von einer atomaren Bedrohung gesprochen werden. Laut offiziellen Angaben der "Arms Control Association" hat die NATO 2.429 Interkontinental-raketen, 4.320 Strategische Langstreckenraketen und 1.946 bombergestützte Sprengköpfe in ihren Arsenalen gehortet; wohingegen die GUS-Staaten über 3.630 Interkontinental-Raketen, 3.060 Strategische Langstreckenraketen, 922 bombergestützte Sprengköpfe verfügen. Dazu gesellt sich noch eine unbekannte Anzahl russischer Topol-M und amerikanischer B61-11 Mini-Atombomben - allesamt Produkte aus der jüngeren Raketengeneration. Dass über diese Kernwaffenpotentiale direkt vor unserer Haustür nicht öffentlich diskutiert wird, lässt sich mit gesellschaftlichen Verdrängungsmechanismen erklären.

Eine politische Gruppierung, die das öffentliche Schweigen zum Rüstungswettlauf lautstark durchbricht, ist die "Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges" (IPPNW = International Physicians for the Prevention of Nuclear War). Ihre Gründung im Dezember 1980 geht auf den amerikanischen Herzspezialisten Dr. Bernhard Lown und seinen russischen Kollegen Dr. Evgueny Charzov zurück, die sich Jahre zuvor bei medizinischen Fachkongressen kennen und schätzen gelernt hatten. Beiden war schon damals bewusst, dass ein Atomkrieg der Supermächte das Überleben der gesamten Zivilisation bedrohe.

Dass sich Mediziner zweier verfeindeter Gesellschaftssysteme mit der Zielsetzung zusammentaten, einen Atomkrieg zu verhindern und sich für die Beseitigung aller Atomwaffen einzusetzen, rief ein gewaltiges Medieninteresse hervor. Verwunderlich war, dass selbst im sowjetischen Fernsehen darüber berichtet wurde. Die IPPNW, dem anfänglichen Selbstverständnis nach eine rein humanistische Organisation, fand schon bald zu einer politischen Positionierung, die neben der Forderung nach Abschaffung von Atomwaffen auch den Ausstieg aus der Atom- und Plutoniumwirtschaft verlangte und sich für die Einführung umweltfreundlicher Energietechnologien stark machte.

Immerhin kam es damals zum NATO-Doppelbeschluss, der Westeuropa die Stationierung von 108 Pershing-II-Rakten und 464 Cruise Missiles als atomares Gegengewicht zu den sowjetischen SS-20-Mittelstreckenraketen brachte. Bewaffnet bis an die Zähne setzten die Supermächte auf die Doktrin der gegenseitigen nuklearen Abschreckung bzw. der sicheren gegenseitigen Zerstörung (Mutual Assured Destruction = MAD). Im konservativ regierten Westdeutschland wurde besonders fleißig stationiert. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit begann man staatlicherseits mit dem Aufbau von Zivilschutz und Katastrophenmedizin. Dagegen lief die neu gegründete bundesdeutsche IPPNW-Sektion - unter Leitung des Psychoanalytikers Horst-Eberhard Richter - von Anfang an Sturm und entlarvte den Gedanken an die Überlebbarkeit eines Atomkrieges als Irrlehre. Die Ärzte gingen gemeinsam mit anderen Friedensaktivisten auf die Straße, organisierten Massendemonstrationen und Sitzblockaden. Dieses pazifistische Engagement brachte der IPPNW 1984 den UNESCO-Friedenserziehungspreis und im darauffolgenden Jahr den Friedensnobelpreis. Damals zählte die Organisation weltweit 150.000 Mitglieder.

Das Ende des Kalten Krieges

Mit dem Regierungsantritt von Michael Gorbatschow wurde das Ende des Kalten Krieges eingeläutet, da jener im Gegensatz zu seinen Amtsvorgängern auf ernsthafte Abrüstungsverhandlungen setzte. Seine Zweifel an der Sinnhaftigkeit von nuklearen Sicherheitskonzeptionen wurden von der IPPNW und dem russischen Gründungsvater Dr. Chazov genährt, der zum neuen Gesundheitsminister avancierte. Indes dachte Ronald Reagan gar nicht daran, seine Atomwaffen abzuziehen. Erst durch wachsenden internationalen Druck wurden die USA an den Verhandlungstisch und 1987 zur Unterzeichnung des geschichtsträchtigen INF-Vertrages (Intermediate-Range Nuclear Forces) gezwungen. Darin verpflichteten sich die Supermächte, alle Marschflugkörper und Mittelstreckenraketen zu vernichten. Dank des Abrüstungsvertrages wurde innerhalb kürzester Zeit eine ganze Kategorie von Nuklearwaffen außer Dienst gestellt, wobei die Atomverschrottung bis dato ungelöst ist.

Die Zauberformel von Glasnost und Perestroika führte zum Fall der Berliner Mauer und zur Auflösung des Ostblocks. Der Hoffnung auf eine friedlichere Welt folgte die Ernüchterung: So kämpft der frühere Feind Russland nicht erst seit dem Tschetschenien-Krieg mit inneren Auflösungserscheinungen. Einheiten, die für die Bewachung nuklearer Gefechtsköpfe abgestellt sind, können in Zeiten wie diesen nur sporadisch mit Sold und ausreichender Lebensmittelversorgung rechnen, ferner ist die Schutzkleidung durchwegs mangelhaft. Schon kleinste Arbeitsfehler werden mit drakonischen Strafen geahndet. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass solche missliebigen Arbeitsbedingungen den Nuklearschmuggel begünstigen.

Auch wenn Bill Clinton solche Troubles erspart bleiben, sollte man nicht vergessen, dass die USA allein im letzten Jahr für Betrieb und Erhaltung ihres Atomwaffenarsenals 34 Mrd. US-Dollar aufbrachten, was in Anbetracht der herrschenden Sozialprobleme bedenklich ist.

Gegenwärtig gehen Experten davon aus, dass die USA, Großbritannien, Frankreich, Russland/GUS, China, Indien, Pakistan und Israel über 45.000 Gefechtsköpfe, die der 10- bis 30-fachen Sprengkraft der Hiroshima-Bombe entsprechen, verfügen. Dabei wäre ein Jahrzehnt nach Ende des Ost-West-Konflikts eine neue globale Sicherheitspolitik längst angesagt. Aber auf den Ersteinsatz des von Willy Brandt beschimpften "Teufelszeugs" wollen die alten Atommächte - mit Ausnahme Chinas - nicht verzichten. Ganz im Gegenteil haben doch die Mitglieder des transatlantischen Bündnisses anlässlich ihres 50-jährigen Jubiläumsgipfels im Frühjahr 1999 ein gemeinsames Strategiepapier verabschiedet, in dem die "First-Use-Politik" ausdrücklich hervorgehoben wird, um einer Bedrohung durch biologische und chemische Waffen bzw. terroristische Aktionen von so genannten "Schurkenstaaten" zuvorzukommen. Notfalls wäre die NATO auch bereit, ihre Gefechtsköpfe gegen die Länder der Dritten Welt ohne Kernwaffen abzufeuern. Zu allem Übel hat Clintons USA erneut die Debatte über eine Raketenabwehr begonnen: Amerikanischen Pläne zufolge soll ein um die USA gelegter Radarschutzgürtel verbunden mit bis zu 200 Abfangraketen das Land vor drohenden Marschflugkörpern und Interkontinentalrakteten wirksam schützen.

Im Gegensatz dazu ging die vierwöchige UN-Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrages am 20. Mai 2000 erfreulich zu Ende. Unter massivem Druck einiger atomarer Schwellenländer haben sich die offiziellen Atommächte bereit erklärt, "ihre nuklearen Arsenale vollständig zu eliminieren und damit die nukleare Abrüstung herbeizuführen." Demnach wird nukleare Abrüstung nicht bloß als "Fernziel" sondern vielmehr als Vertragsverpflichtung angesehen. Obwohl das Etappenziel sensationell ist, darf nicht vergessen werden, dass 1. konkrete Zeitvorgaben für den Abrüstungsprozess der offiziellen Atomstreitmächte fehlen und 2. tickende atomare Zeitbomben wie Indien und Pakistan, aber auch Staaten wie Israel und Kuba dem Atomwaffensperrvertrag nicht beigetreten sind.

Erwähnenswert sind auch die Staatsverträge über die Verminderung strategischer Waffen START I, START II und START III zwischen den USA und Russland/GUS. Start II, der von der Duma nach siebenjähriger Blockade im April 2000 ratifiziert wurde, sieht vor, das strategische Kernwaffenpotential bis zum Jahre 2007 auf 3.000 (Russland) bzw. 3.500 (USA) Sprengköpfe zu reduzieren. Weitere Abrüstungsschritte könnte START III bringen. Stärker als zuvor spielt die veränderte geopolitische (Sicherheits-)Lage eine Rolle, aber auch die finanziellen Möglichkeiten der früheren Kontrahenten sind von Bedeutung. Laufende Kosten in Milliardenhöhe für Unterhalt, Wartung und Forschung von Nuklearwaffensystemen bedürfen einer Aufstockung des Rüstungsetats - was angesichts angespannter Staatskassen sowohl für Putin als auch für Clinton Probleme aufwirft.

Nukleare Enthaltsamkeit

Während sich die hochoffiziellen Abrüstungsverhandlungen - trotz Ende des Kalten Krieges - mühselig dahin schleppen, haben sich einige Nicht-Kernwaffenstaaten zu nuklearer Enthaltsamkeit entschlossen. Beispielsweise setzte Südafrika 1991 ein spektakulären Schritt, indem es seine atomaren Gefechtsköpfe verschrottete und den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnete. Ein klares Bekenntnis zur atomaren Abrüstung legten auch die beiden potentiellen Atomwaffenstaaten Argentinien und Brasilien, die der Vertragsgemeinschaft von Tlatelolco im Jahre 1994 beitraten. Dank dieser Abrüstungsinitiativen sind Lateinamerika, Afrika, Ozeanien und Südostasien mittlerweile atomwaffenfreie Zonen, was in der Öffentlichkeit wenig Beachtung findet.

Wenig mediales Interesse wird auch der "New-Agenda-Koalition" zuteil, die von Ägypten, Brasilien, Irland, Mexiko, Neuseeland, Slowenien und Südafrika im Sommer 1998 zur Ankurbelung der festgefahrenen Abrüstungsverhandlungen ins Leben gerufen wurde. Über die Resolution "Hin zu einer atomwaffenfreien Welt" wurde im November 1998 in der UN-Vollversammlung abgestimmt. Der überwiegenden Mehrheit von 97 Ja-Stimmen setzten, wie nicht anders zu erwarten, die Atommächte USA, Frankreich und Großbritannien sowie 16 weitere Staaten ein deutliches Nein entgegen. Zwölf NATO-Staaten - darunter Deutschland, Dänemark, Kanada, Niederlande u. a. - enthielten sich der Stimme. Erfreulicherweise votierte die österreichische Regierung für eine atomwaffenfreie Welt!

Neben diesen Initiativen auf Regierungsebene ist es die IPPNW, die gemeinsam mit den Städten Hiroshima und Nagasaki, der IALANA (Richter und Staatsanwälte gegen Nuklearwaffen), dem IPB (Internationales Friedensbüro) sowie 400 weltweit agierenden Bürgerinitiativen den Internationalen Gerichtshof (IHG) angerufen hat. Der erklärte am 8. Juli 1996 sowohl den Einsatz als auch die Androhung von Atomwaffen für "völkerrechtswidrig" und forderte die Weltgemeinschaft zu atomaren Abrüstungsverhandlungen auf. Ungeklärt blieb dagegen, ob in "einer extremen Notwehrsituation, in der das reine Überleben eines Staates auf dem Spiel" steht, die Androhung oder der Einsatzes von Nuklearwaffen rechtmäßig sei.

In diesem Zusammenhang sollte das globale Netzwerk "Abolition 2000" nicht unerwähnt bleiben, das 1995 von friedensbewegten Bürgerinitiativen - darunter auch der IPPNW - bei der Überprüfungs- und Verlängerungskonferenz für den Nichtverbreitungsvertrag in New York ins Leben gerufen wurde. Derzeit haben rund 1.000 Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) das Papier unterzeichnet, dessen Hauptanliegen "eine sichere und bewohnbare Welt für unsere Kinder und Enkel" ohne Atomwaffen ist.

Ein europäischer Ableger des internationalen Netzwerkes "Abolition 2000" wurde 1997 auf der Friedenskonferenz in Burg Schlaining aus der Taufe gehoben. Diese Tagung, maßgeblich organisiert und federführend konzipiert von Dr. Klaus Renoldner, dem langjährigen Vorsitzenden der österreichischen IPPNW, fand ein weltweites Medienecho. Angereist waren 120 Fachleute, unter ihnen Atomphysiker, Juristen, Politologen, Militärs und Ärzte. Zur Diskussion standen u. a. die NATO-Osterweiterung und die Schaffung von atomwaffenfreien Zonen. Wie im Schlaininger Manifest dokumentiert, streben die NRO's nach einer alternativen Sicherheitsstruktur für Gesamteuropa, die also auch die osteuropäischen Länder und Russland einschließt. Diese gleichberechtigte Sicherheitsarchitektur sollte verstärkt auf Konfliktprävention - also auf "frühzeitige Mediation und Schlichtung setzen, um die menschliche und soziale Tragödie eines Krieges zu verhindern".

Indes versucht die IPPNW neue Verbündete zu finden. In diesem Sinne kann das Auftreten der Ärztedelegation in Brüssel am 19. Jänner 1999 vor dem EU-Unterausschuss für Sicherheit und Abrüstung als Erfolg gewertet werden. In seinem Referat forderte Dr. Klaus Renoldner die Abgeordneten auf "den Antrag auf Schaffung eines atomwaffenfreien Europas zu unterstützen und alles zu unternehmen, damit wir ein weltweites Atomwaffenverbot erreichen". Über den Antrag, eingebracht von der irischen Grünen Patricia McKenna, hat Brüssel noch nicht abgestimmt; allerdings scheint - aufgrund herrschender Mehrheitsverhältnisse - ein Scheitern programmiert.

Die IPPNW will den eingeschlagenen Weg gemeinsam mit anderen Friedensaktivisten fortsetzen. In diesem Sinne sind die Worte des Friedensnobelpreisträgers Joseph Rotblatt zu verstehen, die auch jüngeren Menschen Mut machen sollen: "Die Schaffung einer atomwaffenfreien Welt ist kein utopischer Traum mehr. Es ist ein Ziel, das noch innerhalb der Lebenserwartung der Generation des Atomzeitalters erreicht werden kann - es bedarf jedoch einer enormen Anstrengung."

PS: Weitere Informationen im Folder, der über die IPPNW Österreich, 1020 Wien, Venediger Au 4 (Tel. oder Fax 01/729 64 26, E-Mail: ippnw@netway.at) erhältlich ist.

Freitag, 23. Juni 2000

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