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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Einmal mehr fordert der Wissenschaftsschreck John Horgan Abklärung statt Aufklärung

Theatralische Theorien

Von Peter Markl

Auch wenn John Horgan ein routinierter Wissenschaftsjournalist ist, der sein Handwerk beim "Scientific American" gelernt hat und daher alle die Tricks kennt, mit denen man Leser wach hält: Die außerordentliche Resonanz auf sein erstes Buches "The End of Science" muss ihn überrascht haben. (Der Luchterhand Verlag wollte den provokanten englische Titel und den nicht minder plakativ formulierten Untertitel seinen anscheinend besonders schreckhaften deutschen Lesern nicht zumuten: "The End of Science" wurde zu "An den Grenzen des Wissens", und "Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age" mutierte zu "Siegeszug and Dilemna der Naturwissenschaften".)

Das Buch wurde in den USA in kürzester Zeit zu einem Bestseller und stand im Mittelpunkt einer heftigen Diskussion. Horgan, ein großer Liebhaber von Grundlagenforschung mit weltanschaulichen Implikationen, der für angewandte Wissenschaft wenig Geduld aufbringt, war zur Ansicht gekommen, dass die große Zeit der Naturwissenschaft sich dem Ende zuneigt: so wie nach dem Ende des Zeitalters der großen Entdeckerfahrten kein neuer Kontinent mehr zur Entdeckung anstand, hätten auch die Naturwissenschaften bereits die wichtigsten Züge dessen, was sich mit den Mitteln der Naturwissenschaft in Erfahrung bringen lässt, abgesteckt. Natürlich würde es noch einen Strom von Anwendungen geben und diese Anwendungen würden das Leben in Zukunft ebenso sehr prägen wie die Anwendungen der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen des letzten Jahrhunderts: Quantentheorie, Relativitätstheorie und Darwins Evolutionstheorie. Was noch bleibt, ist Horgans Ansicht nach weitaus weniger faszinierende Detailarbeit.

Natürlich kennt Horgan alle die großmundigen Ankündigungen fundamentaler Durchbrüche, welche heute Schlagzeilen machen, aber er hält sie zum Großteil für wenig seriöse Public-Relations-Übungen oder aber für Beispiele einer ganz bestimmten Art von Wissenschaft, deren Existenz ihm aufgestoßen war, als er - spät nachts und nach "zu vielen Tassen Kaffee" - eine Art "Glaubenskrise" erlebte: er war gerade darangegangen, sich in eine weitere Interpretation von James Joyce "Ulysses" einzulesen, als ihm der Gedanke kam, dass man einige der heute propagierten Theorien nicht mehr als naturwissenschaftliche Theorien im alten Sinn sehen sollte, die man zumindest nach einer Periode der Abklärung als wahr oder falsch bewerten konnte.

Ironische Wissenschaft

Die neue Generation von Theorien glich eher Textinterpretationen, wie man sie in der Literaturtheorie propagiert: Vermutungen über verschiedene Bedeutungsebenen eines Textes, ohne dass man behaupten wollte, dass eine dieser Bedeutungsebenen die "maßgebliche" sei. Horgan war noch bereit gewesen, zuzugestehen, dass einander zeitlich ablösende naturwissenschaftliche Theorien in einem intuitiv plausiblen, aber etwas vagen Sinn der Wahrheit immer näher kamen, während diese neue Art von Theorien "ironische Wissenschaft" sind: "Wissenschaft, die die Wirklichkeit niemals richtig durch Erkenntnis erfasst und sich folglich nicht der Wahrheit nähert. Die ironische Wissenschaft stellt keine präzisen Tatsachenbehauptungen über die Welt auf, die empirisch bestätigt oder wiederlegt werden könnten." (Horgans Paradebeispiel ist natürlich die Vielwelten-Deutung der Quantentheorie.)

Solche Theorien sieht Horgan nirgends so sehr in Blüte wie auf den Gebieten, die sich mit dem menschlichen Geist befassen. Er hat daher seinem ersten Buch ein zweites Buch folgen lassen, das sich diesen Gebieten widmet: "Der menschliche Geist - Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen."

Nägelkauender Gott

John Horgan hatte sein erstes Buch mit einem Kapitel enden lassen, in dem er seine eigene Weltanschauung ausbreitet - eine sektenähnliche, etwas verquere Sicht der Welt mit einem vor Langeweile nagelkauenden Gott. Nicht nur in dieser Hinsicht ist Horgan sehr amerikanisch: bereit zu lernen und sich begeistern zu lassen, aber nicht minder entschlossen, sich nichts vormachen zu lassen, nicht einmal von den Stars der heutigen Wissenschaft. Er hat den Vorteil, dass er die meisten von ihnen im Rahmen seiner Arbeit als Wissenschaftsjournalist auch persönlich kennengelernt hat und daher einen Eindruck davon hat, welche Art Mensch diese Wissenschaftler sind.

Die Reaktionen vor allem der Wissenschaftler auf das erste Buch sind zum Teil auch durch Horgans Persönlichkeit erklärbar: sie reichten von der Einschätzung seiner Person als die eines etwas spinösen Journalisten bis zu heller Empörung.

Für die Mehrheit der Wissenschaftler war es ein sehr anregendes Buch eines etwas seltsamen Autors, der nicht nur gute Kenntnisse der Naturwissenschaften hat, sondern auch die Leute und das Klima kennt, in dem heute Naturwissenschaft produziert wird. Oft mit dem Nachsatz: Was mein Gebiet betrifft, sehe ich die Situation sicher anders, aber es ist schon verblüffend treffsicher, wie er meine Kollegen ins Visier bekommen hat.

Alles das kommt nun auch seinem neuen Buch zugute. Es ist kurzweilig und stimulierend wie sein Vorgänger. Eines aber ist das Buch ebenso wenig wie sein Vorgänger: Horgan legt es ganz bewusst nicht darauf an, den Anschein zu erwecken, dass er eine "objektive" Darstellung der heutigen Situation geben könnte. Das fördert natürlich seine Lesbarkeit, hat aber seinen Preis: Wer die These belegen will, dass auf dem Gebiet der Erklärung des Geistes wirkliche Neuheiten extrem selten sind und alte Erklärungsparadigma in immer neuen modischen Verkleidungen auftreten, braucht nur einen Standpunkt zu wählen, von dem aus Details nicht mehr auszunehmen sind und die ganz großen Linien klarer hervortreten.

So gesehen gehören die Vorstellungen der Phrenologen sicher zum gleichen Erklärungstyp wie jene heutige Ansicht, dass das Hirn modular gebaut sei; und es stimmt auch, dass beide Richtungen - Horgan nennt sie "reduktionistisch" - im Hinblick auf die Frage, wie sich denn die Leistungen der einzelnen Module zu dem Ganzen des bewussten Erlebens zusammenfügen, heute noch in einem analogen Erklärungsnotstand sind.

Trotzdem wird es niemanden geben, der in dem heutigen Bild des modularen Gehirns, wie es sich immer detailreicher aus den Daten der bildgebenden Verfahren erschließen lässt, die Vorteile übersieht. Da ist fortschreitende Annäherung an die Realität nicht wegzureden. Anders ist die Situation auf dem verwirrenden Gebiet der Psychotherapie, besonders wenn man sich auf den Versuch einlässt, herausfinden zu wollen, welche der üppig ins Kraut schießenden Versionen nun einen größeren Heilerfolg hat als die anderen. Das ist natürlich methodisch ein extrem schwieriges Terrain, das noch dazu von den Ideologen der verschiedenen Richtungen sorgfältig vermint wurde. Selbst wenn man sich nur auf dem Terrain der Psychoanalytiker aufhält, sind die Risken ungeheuer - kaum ein anderer Stamm ist so streitbar.

"Dodo"-Hypothese

Horgan - und mit ihm viele andere Außenbeobachter - hält es für ausgemacht, dass Lester Luborsky und Paul Rosenzweig mit ihrer "Dodo Hypothese" im wesentlichen Recht haben: alle Psychotherapien sind vermutlich etwa gleich wirksam. Und was die Psychoanalyse betrifft, vermutet Horgan, dass sie schon lange als historische Kuriosität angesehen würde, wenn es irgendeine in allen ihren Funktionen - von den Therapieversuchen bis zum religionsähnlichen Kern einer Weltanschauung - auch nur halbwegs plausible Alternative gäbe. (In den angelsächsischen Ländern ist die Kritik an psychoanalytischen Thesen in einem Ausmaß Allgemeingut geworden, wie das niemand vermuten kann, der die jüngste Freud-Ausstellung gesehen hat.

Man hat den Eindruck, dass bereits die schlichte Frage, ob denn zum Beispiel die Freudschen Vorstellungen über die Bedeutung der ersten Kindheitsjahre richtig sind, in Österreich einfach als ungehörig angesehen wird. Jerome Brunner, einer der führenden Experten, hat jüngst für die "New York Review of Books" zusammengefasst, was die Entwicklungspsychologie heute über den "Mythos der ersten drei Jahre" zu sagen hat - ein Mythos, den nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch manche Deutungen der Ergebnisse der modernen Gehirnforschung zu stützen scheinen.)

Hier und in allen anderen Kapiteln des Buches zeigt sich eine von Horgans Stärken: er kennt und zitiert die jüngste, zu den kontroversen Themen relevante Literatur. Wer Horgan nicht glaubt, weiß, wo er weiter zu suchen hätte.

Horgan beschränkt sich auf die Diskussion der kontroversesten Fragen: Sind Psychopharmaka wirklich immer wirkungsvoller als Placebos? Sind die Gene wirklich der Schlüssel zu allem Verhalten, wie einige genetische Deterministen glauben machen wollen? Klärt die darwinistische, evolutionäre Psychologie wirklich so viel, wie ihre Anhänger behaupten? Soll man sich von den Erfolgsmeldungen aus den Labors, welche an "künstlicher" Intelligenz arbeiten, sehr beeindrucken lassen? Stehen wir vor einer Erklärung der Entstehung und der Leistungen des Bewusstseins? Gibt es haltbare Argumente dafür, dass die Erklärung des "harten Problems" des Bewusstseins, nämlich des subjektiven Erlebens von neuronalen Prozessen, auf immer außerhalb der Reichweite der Naturwissenschaften und damit noch viel mehr - aller anderen Wissenschaften bleiben muss? Sind sich die Diskussionspartner in dieser Frage überhaupt darüber einig, was sie als befriedigende Erklärung gelten lassen würden?

Alle diese Themen tauchen immer wieder in den Massenmedien auf, meist sind sie allerdings so kurz gehalten, dass Außenseiter gar nicht ahnen können, wie die Problemsituation zur Zeit ist. Was da wiedergegeben wird, ist oft nur der Reflex auf ein öffentlichkeitswirksames Signal einer der streitenden Parteien. Der Meldung, dass jemand behauptet, dass er ein Gen "für" Homosexualität gefunden habe, wird nur wenige Tage später die Meldung folgen, dass genau das bei einem weiteren Versuch in diese Richtung nicht gelang.

Wieso es dazu kommen kann, wäre natürlich einer Klärung wert, aber die wird selbst in stundenlangen Talkshows nicht geliefert, weil der Talkmaster jede nicht triviale Diskussion wegen für ihn untragbarer Risken für die Quote unterbindet.

Horgans Buch strukturiert die Themen so, dass kritische Urteile möglicher werden, und er skizziert die Positionen der Diskussionspartner sehr präzise.

Von den Philosophen, die er gesprochen hat, hat ihn Karl Popper offensichtlich am nachhaltigsten beeindruckt. Nicht, dass er ihn nicht auch heute noch missverstehen würde.

In einem aber stimmt er ihm zu: er hält die Art, wie Popper die Wissenschaft sieht, auf dem Gebiet der Erforschung des menschlichen Geistes für sehr plausibel: "Popper nannte seine Philosophie kritischer Rationalismus: Ich ziehe den Begriff optimistischer Skeptizismus vor. Zu wenig Skepsis lässt uns wissenschaftlichen Quacksalbern auf den Leim gehen. Zu viel Skepsis kann zu einer radikalen postmodernen Anschauung führen, die nicht nur die Möglichkeit menschlicher Selbsterkenntnis, sondern die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt bestreitet. Falls dieses Buch auch nur annähernd sein Ziel erreicht, wird es den Leser dazu bringen, die wissenschaftliche Erforschung des Geistes mit optimistischen Skeptizismus zu betrachten."

Sehr anregende, leichte Lektüre - selbst für die heißeren Tagen.

John Horgan: Der menschliche Geist. Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen. Übersetzt von Thorsten Schmid. 428 Seiten, München: Luchterhand, 2000, ISBN 3-630-88002-9.

Freitag, 19. Mai 2000

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