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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Menschliches Verhalten ist komplizierter, als man denkt · Neuere Untersuchungen kommen wieder auf Umwelteinflüsse zurück

Alles Schicksal in den Genen?

Von Peter Markl

Wenn es zurzeit in der Wissenschaft · und vor allem im Wissenschaftsjournalismus · eine Modeströmung gibt, dann ist es eine übermäßige Betonung der Rolle der Gene.
Vor allem in der Medizin scheint es fast unmöglich, eine Krankheit zu nennen, bei der genetische Faktoren nicht eine dominierende Rolle spielen. Alles scheint einen mehr oder minder primitiven
genetischen Determinismus zu bestätigen.

Das hat natürlich Gründe: der atemberaubende Fortschritt der Genanalytik liefert eine nur selten durchbrochene Serie von Schlagzeilen · mindest ein- bis zweimal pro Woche wird ein Gen identifiziert,
von dem behauptet wird, dass es bei der Ausprägung irgendeines Merkmals während des Heranwachsens neuen Lebens eine so dominante Rolle spielt, dass das Wechselspiel der Gene mit der Umwelt nur mehr
wenig beitragen kann. Die Gene allein sind solchen Berichten nach schon das Schicksal. In der Realität sind es jedoch nur wenige, vielleicht etwa 2.000 der 70.000 bis 100.000 Gene, von denen man
heute weiß, dass es zu nicht mehr reparierbaren Schäden führt, wenn sie in einer defekten Form vorliegen.

Vorher war es eine Zeitlang Mode gewesen, die Ursache von fast allem, was schief lief, in Umwelteinflüssen zu suchen: Schon die Muttermilch schien manchen damals eine Quelle nicht hinnehmbarer
Risiken. Selbst wenn man für einen Moment zu vergessen bereit ist, dass es immer ein Wechselspiel zwischen genetischen und Umweltfaktoren ist, welche die Ausprägung eines Merkmals bestimmen, so dass
die Trennung von Umweltfaktoren und genetischen Faktoren nur in einem unrealistischen und daher falschen Modell des Entwicklungsprozesses möglich scheint, ist in der Diskussion das Pendel zu schnell
in das andere Extrem zurückgeschwungen. Die Ansichten genetischer Deterministen sind mit Sicherheit eben so fern von der Wahrheit wie diejenigen der „Umwelt-Extremisten".

Darüber hinaus aber ist in den letzten Jahren klar geworden, dass man bisher einen Typ der Wechselwirkung der Moleküle des Erbguts mit ihrer Umwelt in seinen Auswirkungen unterschätzt hat. Bei
manchen Krankheiten, die man im Wesentlichen genetischen Defekten zuschrieb, scheinen Umwelteinflüsse eine bisher unterschätzte Rolle zu spielen · Einflüsse, die nicht erst nach der Geburt, sondern
bereits im Mutterleib wirksam werden und sich erst Jahrzehnte später auszuwirken beginnen.

Fahndung nach Belegen

Viele der Forschungsresultate auf diesem Gebiet sind umstritten. Das ist nicht weiter verwunderlich, es ist schließlich schwierig, die Vermutung zu verifizieren, dass es sehr frühe Umwelteinflüsse
auf Gene gibt, deren Folgen erst sehr viel später sichtbar werden. Man müsste hinreichende Informationen über die Umweltbedingungen haben, welchen zum Beispiel Herz-Kreislauf-Patienten vor
Jahrzehnten im Uterus ausgesetzt waren. Und man muss · was noch schwieriger ist · all die anderen als Risikofaktoren bereits bekannten nachgeburtlichen Einflüsse als Ursachen der Erkrankung
hinreichend plausibel ausschließen können. Man ist damit in einem hoffnungslos scheinenden Beweisnotstand, aus dem nur raffinierte epidemiologische Untersuchungen heraushelfen könnten, die es erst
seit wenigen Jahren gibt.

Harte Kritik hat daher schon die ersten epidemiologischen Untersuchungen in diese Richtung begleitet · Versuche, die Mitte der Achtzigerjahre von David Barker von der Universität Southhampton
unternommen wurden. Er ging der Vermutung nach, dass ein niedriges Geburtsgewicht mit Jahrzehnte später auftretendem Bluthochdruck einhergeht. Selbst wenn man akzeptiert, dass es hier eine Verbindung
gibt, bleibt offen, ob sie darauf zurückgeht, dass das niedrige Geburtsgewicht die Spätfolgen verursacht hat. Es gibt schließlich eine Reihe bereits bekannter genetischer Risikofaktoren für
Bluthochdruck und sehr gut belegte Risikofaktoren, die alle erst nach der Geburt wirksam werden. Darüber hinaus gibt es auch genetische Faktoren, die schon im Uterus wirken und so das niedrigere
Geburtsgewicht verursacht haben könnten · etwa eine genetisch verursachte fetale Insulinresistenz.

Verhalten · ein Umwelteffekt?

Trotzdem hat die Vermutung, dass die Umwelt schon im Uterus bei einer ganzen Reihe von Jahrzehnte später auftretenden Erkrankungen eine wichtige Rolle spielen könnte, aus zwei Gründen immer mehr
Anhänger gefunden. Grund dafür ist vor allem, dass man ja in einigen Fällen sehr gute Belege für den Einfluss der Umwelt auf den sich entwickelnden Fetus hat · etwa den schädlichen Einfluss von
Alkohol und Zigaretten. Zum anderen fand man aber auch immer mehr plausible Mechanismen für andere Schädigungen, die auch in Tierversuchen bestätigt werden konnten. So erzeugt zum Beispiel
Unterernährung der Mutter Stress, die dabei ausgeschütteten Stresshormone beeinträchtigen die normale Entwicklung der Placenta, so dass die Enzymbarriere, welche normalerweise verhindert, dass die
Stresshormone das Baby erreichen, nicht gut ausgebildet wird. In Tierversuchen führt das zu hohem Blutdruck.

Plausible Schädigungsmechanismen und Tierversuche, welche sie stützen, haben auch die Suche nach besseren epidemiologischen Belegen für die Spätwirkungen einer Umweltschädigung von Menschen bereits
im Uterus attraktiver gemacht. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl und Aussagekraft der epidemiologischen Untersuchungen zu dem Thema gestiegen. Beispiel dafür sind einige vor kurzem
veröffentlichte Arbeiten amerikanischer Teams.

So erschien am 4. August 1999 im Journal of the American Medical Association eine Arbeit von Ärzten der Columbia-Universität in New York und der Harvarduniversität in Cambridge, welche ein
verblüffendes Stück medizinischer Archäologie ist · methodisch raffinierte und statistisch einwandfreie Epidemiologie, aber doch noch belastet durch die ständige Gefahr, in den Resultaten von
unerkannten und daher auch nicht nicht ausschließbaren Störfaktoren verzerrt zu sein, eine Gefahr, die besonders bei gesellschaftlich brisanten Themen hoch ist.

Und diese Arbeit ist von großer sozialer Brisanz, was den Autoren sehr bewusst ist: sie untersuchten den Einfluss von Unterernährung während der Schwangerschaft auf das sich entwickelnde Gehirn und
kommen zu dem von ihnen vorsichtig formulierten Schluss: „Unsere Daten lassen vermuten, dass schwere Unterernährung das sich im Uterus entwickelnde Hirn derart schädigen kann, dass es zu einer
Erhöhung des Risikos kommt, dass die Kinder antisoziales Verhalten entwickeln. Die sich daraus ergebenden Implikationen verdienen es, untersucht zu werden · sowohl in entwickelten als auch in
Entwicklungsländern, wo schwere Ernährungsmangel weit verbreitet sind und oft durch Krieg, Naturkatastrophen und Flüchtlingsbewegungen verstärkt werden."

Der letzte Satz ruft natürlich Skeptiker auf den Plan: er scheint ihnen nicht zuletzt für die Beurteiler künftiger Forschungsprojekte bestimmt, riecht nach Ideologie und wirft eine Reihe von Fragen
auf: Was hat man dabei unter „antisozialem" Verhalten verstanden? Glauben die Autoren nicht irgendwo doch, dass man antisozialem Verhalten in einer Gesellschaft einfach durch bessere Ernährung
während der Schwangerschaft beikommen könnte, obwohl es doch offensichtlich ist, dass „antisoziales Verhalten", wie immer man es auch definiert, viele soziale Ursachen haben kann? Woher stammen die
Daten, die einen solchen Zusammenhang belegen könnten?

Das erstaunlichste an der umfangreichen Arbeit, in der die Autoren auch auf solche Einwände eingehen, ist die Datenquelle, die Ezra Sussex von der Columbia-Universität entdeckt hat: Die
Nationalsozialisten haben im Hungerwinter 1944/1945 die Nahrungsmittelversorgung von genau abgegrenzten Bezirken Hollands blockiert, um die Niederländer für die Invasion der Aliierten zu bestrafen.
Vorher gab es in Holland hinreichend zu essen, und im Mai 1945, nach dem Abzug der Deutschen, besserte sich die Versorgung relativ schnell. In den Monaten dazwischen aber verordneten die Besatzer
besonders den Holländern in den westlichen Städten immer ungenügendere Rationen. Einige Holländerinnen waren schwanger, als das Strafhungern begann; andere wurden in den folgenden Monaten schwanger,
so dass die sich entwickelnden Kinder in verschiedenen Stadien der Entwicklung vom schwerem Hunger getroffen wurden.

Epidemiologische Goldmine

Da in Holland alle zum Wehrdienst einberufenen Männer im Alter von 18 Jahren auch psychiatrisch untersucht wurden, konnte man das Ergebnis dieser Untersuchung mit dem Zeitpunkt korrelieren, in dem
nicht weniger als 100.543 Jungmänner schon vor der Geburt Hunger ausgesetzt gewesen waren. Die im psychiatrischen Interview erhobenen Diagnosen wurden mit Hilfe der Internationalen Klassifikation von
Krankheiten bewertet: Eine „Antisoziale Persönlichkeitsstörung" schrieb man denjenigen zu, die kleine Diebstähle begangen hatten, in ihrer Gruppe durch aggressives antisoziales Verhalten aufgefallen
waren, logen oder ihre Schulden nicht beglichen. Hier liegt natürlich eine der Schwächen der Untersuchung: Selbst wenn man die Kriterien für eine „antisoziale Persönlichkeitsstörung" für plausibel
hält, muss offen bleiben, ob die Einberufenen bei der Wahrheit blieben und die Psychologen sie objektiv einstuften.

Das Resultat der Untersuchung war jedenfalls, dass Männer, die in den beiden ersten Dritteln der Schwangerschaft schwer unterernährt gewesen waren, im Vergleich zu den damals nicht zum Hunger
verurteilten Holländern ein etwa zwei- bis viermal so großes Risiko für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung zu tragen hatten. Dieses Resultat fügte sich zu dem Resultat einer anderen
Untersuchung, die bereits vorher publiziert wurde: damals hatte man gefunden, dass Söhne von Holländerinnen, die während des ersten Drittels ihrer Schwangerschaft dem Hunger ausgesetzt gewesen waren,
ein dreimal so großes Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, trugen.

Erstaunlicherweise hat man in der Zwischenzeit weiteres Untersuchungsmaterial aufgespürt, das zur Untersuchung der späten Auswirkungen von Umwelteinflüssen, die bereits im Uterus einwirken konnten,
noch geeigneter ist. In den Jahren von 1959 bis 1966 hat man in Kalifornien im Rahmen einer groß angelegten Untersuchung Blutproben von 15.000 schwangeren Frauen gesammelt und eingefroren. Ihre
Kinder kommen jetzt in das Alter, in dem Spätfolgen sichtbar werden könnten. Die Blutproben sind heute in noch gutem Zustand, so dass man aus ihrer Analyse genaue Daten darüber gewinnen kann, welchen
Umwelteinflüssen die werdenden Kinder während der Schwangerschaft ausgesetzt gewesen waren.

Eines der ersten Resultate der epidemiologischen Studien an 8.000 dieser Frauen stärkt einen alten Verdacht: Frauen, die sich in dem Zeitintervall vom 4. bis 6. Monat der Schwangerschaft eine
Infektion der Atemwege · etwa Grippe · zugezogen hatten, brachten Kinder zur Welt, deren Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, zweimal so groß war wie das Risiko einer nicht infizierten
Vergleichsgruppe. Dieses Resultat stützt die Vermutung, dass das Risiko, an Schizophrenie zu erkranken, eine genetische Komponente hat, die durch eine Infektion in einem ganz bestimmten Zeitpunkt der
Schwangerschaft erhöht wird. Und es demonstriert die immer gegenwärtige Gefahr bei epidemiologischen Untersuchungen, wichtige verzerrende Faktoren zu übersehen: Man hat ja in der Untersuchung der
holländischen Frauen auch bereits eine Erhöhung des Schizophrenie-Risikos der Kinder aufgespürt, das aber mit dem Zwangshungern in Zusammenhang gesehen. Man konnte nicht ausschließen, dass Hunger und
Schwangerschaft die Frauen so geschwächt haben, dass sie Infektionen zum Opfer vielen, welche dann die eigentliche Ursache der Entwicklungsstörung mit so späten Folgen gewesen sein könnte.

Freitag, 15. Oktober 1999

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