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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Wie man Materialien nach dem Vorbild der Natur hart, fest und bruchsicher macht

Die hohe Schule der Bäume

Von Thomas Hübner

Markus Fischer trägt seit kurzer Zeit ein Zahnimplantat im Mund. Ein solcher künstlicher Zahn sitzt auf einer Schraube im Kieferknochen und ist von einem natürlichen
Beißer kaum zu unterscheiden. Die rund 20.000 Schilling an Kosten machen diesen Backenzahn zum Rolls Royce unter den Zahnersatzmodellen. „Doppelt ärgerlich", sagt der Materialforscher Claus Mattheck,
„wenn so ein Zahn einmal abbrechen sollte · etwa im Kampf mit einem dicken Steak". Um dem dentalen Supergau vorzubeugen und die Schraube noch sicherer gegen Bruch zu machen, hat die Firma Tiolox
Implant GmbH (Ispringen) den Titansockel am Forschungszentrum Karlsruhe optimieren lassen.

Professor Dr. Claus Mattheck vom Forschungszentrum konnte dem Zahnimplantat deshalb zu mehr Bissfestigkeit verhelfen, weil er die Wachstumsmechanismen von Bäumen studiert hat. Diese fangen
Belastungen ab, indem sie sich an den besonders strapazierten Stellen mit „Baumaterial" verstärken. Verursacht z. B. starker Wind oder Schneefall eine starke Biegebelastung an einem Ast, ,spürt` der
Baum an dieser Stelle eine deutlich höhere Spannung als in den daran angrenzenden Gebieten. Zum Schutz lagert die Pflanze so lange Gewebe an, bis die Spannung sich wieder gleichmäßig um die
betreffende Stelle verteilt.

Ein Programm namens Computer Aided Optimization (CAO) ahmt diese Strategie des Baumes nach. Zunächst wird errechnet, an welchen Stellen die Schraube wie stark belastet ist. Die Forscher übersetzen
die ermittelten Spannungswerte dann in Temperaturwerte, um ein bewährtes Simulationsprogramm namens „Abacus" nutzen zu können. Bereiche an der Schraube, die einer großen Belastung standhalten müssen,
bekommen einen hohen Temperaturwert zugewiesen, Stellen mit niedriger Belastung einen entsprechend geringeren. Gemäß diesen Vorgaben erhitzt Abacus das Bauteil am Bildschirm des Computers. Wie in der
Natur dehnt sich das erwärmte Metall aus · das Schraubenmaterial setzt an den stark belasteten Stellen den nötigen „Speck" an. An weniger gestressten Stellen wächst das Bauteil nur wenig oder gar
nicht, denn es bleibt kühl. Im Fall des Zahnimplantats führt die Karlsruher Behandlung dazu, dass die Gewindekerbung deutlich flacher verläuft, als es sonst bei Schrauben üblich ist. „Davon
profitiert speziell die erste Gewindedrehung", so Mattheck, die besonders anfällig ist für einen möglichen Bruch.

Allerdings kann mit dieser Methode nur die Oberfläche des Bauteils optimiert werden. Um auch das Innenleben zu erfassen, haben die Karlsruher Forscher die so genannte Soft Kill Option (SKO)
entwickelt. Das SKO-Verfahren simuliert Adaptionsvorgänge, wie sie am Säugetierknochen vorkommen. Wird z. B. ein Schienbeinknochen durch häufiges Joggen stark belastet, dann passt er sich an, indem
er festigende Mineralien einlagert. Umgekehrt ,weichen` dieselben Knochenbereiche wieder ,auf`, und der Knochen verliert an Substanz, wenn die Belastung über längere Zeit ausbleibt. Auf diesem Weg
erhält sich der Körper ein Gerüst, das optimal schlank und zugleich ausreichend fest konzipiert ist. Diese Leistung des menschlichen Organismus wird in der Abteilung II der Karlsruher
Materialforschung per Computer nachgeahmt.

Wie bei der CAO-Methode liefern die per Rechner ermittelten Arbeitsspannungen, die z. B. an einer Motorachse auftreten, die Datengrundlage. Das SKO-Programm überarbeitet dann virtuell die
Konstruktion: tragende, stark belastete Bereiche verdichten sich am Bildschirm. Weniger strapazierte Teile dünnen aus, und überflüssiges Material wird vollständig weggenommen (gekillt).

Die Adam Opel AG (Rüsselsheim) arbeitet sowohl mit dem CAO- als auch mit dem SKO-Verfahren des Karlsruher Forschungszentrums. Die Optimierung, sagt Dr. Lothar Harzheim, ein ehemaliger Mitarbeiter
Matthecks, sei bei Opel heute nicht mehr wegzudenken. „Wenn wir im Werk eine neue Achse, einen Achsschenkel oder eine Motorhalterung für ein Auto bauen", so der Diplomphysiker, „wird zuerst einmal
unsere Abteilung gefragt, und wir machen den ersten Designvorschlag." Bei einer Halterung für den Motor des neuen Opel Vectra wurde z. B. mehr als die Hälfte des ursprünglich etwa 1,5 kg schweren
Trägers durch Optimierung eingespart. Durch die Überarbeitung verlor das Bauteil so viel an Spannungen, dass der Träger jetzt aus leichtem Aluminium statt aus Stahlguss gefertigt werden kann. Beinahe
jedes Teil am Auto, das zugleich fest und leicht sein soll, könne so für seinen jeweiligen Einsatzbereich optimiert werden.

Über das ganze Ausmaß der geleisteten Arbeit an den neuen Modellen der Modelle Corsa und Vectra hüllt sich die Optimierungsabteilung in Schweigen. Dr. Harzheim verrät lediglich, dass die Optimierung
kein Selbstzweck ist. Das Gewicht, das insgesamt an der Autokonstruktion eingespart wird, wird entweder für sicherheitsrelevante Bauteile reinvestiert oder mindert als Netto-Einsparung den
Treibstoffverbrauch des Fahrzeugs.

Die jüngste Entwicklung am Forschungszentrum ist die Computer Aided Internal Optimization (CAIO). Bearbeitet werden damit so genannte Faserverbundwerkstoffe. Ein solcher Werkstoff entsteht, wenn
Materialien mit unterschiedlichen Eigenschaften miteinander kombiniert werden. Kohlenstofffasern z. B. verstärken an Segelflugzeugen die Tragflächen aus Kunststoff. So lange die Kohlefasern in
Richtung der angreifenden Kräfte ausgerichtet und in ihrem Verlauf nicht durchbrochen werden, sind sie belastbar. In Bereichen, wo Bohrungen für Schrauben oder Bolzen aufgebracht werden, ist der
Zusammenhalt des Faserverbundes aber gefährdet, weil bei Belastung die durchschnittene Faser im Verhältnis zu ihrer Umgebung verschoben werden kann. Die dadurch auftretende Schubspannung kann den
Bruch des Bauteils provozieren. In der Praxis wurden solche Stellen bislang mit viel Baumaterial verstärkt, um sie vor Bruch zu schützen. Bäume ersparen sich diesen Aufwand, indem sie ihre Fasern
einfach in sanften Kurven um die „störenden" Bereiche wie etwa Astanbindungen oder Kerben herum legen. So können angreifende Kräfte ungehindert durch die Holzfasern fließen.

Um diese Wachstumsstrategie am Computer nachzuahmen, und die optimale Raumlage einer Kohlefaser zu ermitteln, testen die Forscher zunächst virtuell ein Werkstück mit willkürlich ausgerichteten
Fasern. Eine Reihe unerwünschter Schubspannungen wird am Bildschirm sichtbar · und das Programm ermittelt anhand dieser Daten einen günstigeren Faserverlauf, um die Schubspannungen zu vermindern. Das
optimierte Werkstück durchläuft dann erneut das Prüfprogramm. „Nach zwei bis drei Durchläufen", sagt Mattheck, „verträgt ein Bauteil im Praxistest wesentlich höhere Belastungen als vorher."

Die Entwicklungen der Karlsruher Materialforscher sind gefragt. Etwa 40 Lizenzen hat das Institut an Autobauer, Maschinenbauer und Hersteller von Chemieanlagen bereits vergeben.

Freitag, 24. September 1999

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