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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Die Kognitionswissenschaften versuchen herauszufinden, warum man lacht, wenn man gekitzelt wird

Vergnügen oder Folter?

Von Peter Markl

Manchmal sind es gerade die einfachsten und naheliegendsten Fragen, hinter denen sich die verblüffendsten Wissenslücken auftun. Zum Beispiel die einfache Frage, warum
man eigentlich lacht, wenn man gekitzelt wird? Die naheliegende Antwort ist natürlich, daß es Freude macht, gekitzelt zu werden, aber so ganz kann das nicht stimmen, denn man wehrt sich doch auch
ganz instinktiv dagegen! Vielleicht hat das Gelächter der Gekitzelten mit dem befreienden Lachen nach einem guten Witz reichlich wenig zu tun und ist einfach eine mehr oder minder automatisch
ablaufende physiologische Reaktion auf einen Reiz, über den es an sich nichts zu lachen gibt? Wenn das mit der Automatik so wäre, dann müßte man sich eigentlich selbst kitzeln können, aber das · und
da sind sich alle Experten einig · geht nicht. Fragen über Fragen · die übrigens sehr alt sind und die erhebendsten Geister beschäftigt haben.

Sokrates wollte nicht leugnen, daß Gekitzeltwerden auch etwas Angenehmes an sich hat, aber das sei eben nur die eine Seite · was meist überwiegt, sei eine unangenehme, schmerzverwandte Empfindung.
Und auch Aristoteles geriet über die Frage, warum man sich nicht selbst kitzeln kann, ins Sinnieren, wobei er zur Antwort kam, daß es damit zusammenhängen müßte, daß die volle Reaktion nur dann
ausgelöst werden würde, wenn der Reiz überraschend kommt · etwas, das beim Selbstkitzeln ja wegfällt. Sir Francis Bacon (1677) und Charles Darwin (1872) stimmten über Jahrhunderte hinweg wenigstens
darin überein, daß man sich in einem unbelasteten, „leichten" geistigen Zustand befinden muß, um wirklich lachen zu können. Darwin aber ging darüber hinaus: er vermutete, daß jeder, der lacht, in
einem ähnlichen geistigen Zustand ist, der befreit Lachende ebenso wie der nur Gekitzelte.

Arten des Kitzelns

Francis Bacon war da entschieden anderer Ansicht. Er erinnert daran, daß Menschen, die gekitzelt werden, sich manchmal des Lachens nicht erwehren können, wenn ihr Geist trauert. Das Problem dabei
ist, daß verschiedene mentale Zustände mit einem Symptom einhergehen können: auch Darwin hat natürlich nicht gemeint, daß jemand, der aus Leid Tränen vergießt, in demselben mentalen Zustand ist, wie
jemand, der Zwiebel schneidet.

Die Schwierigkeit mit der alten Literatur zu dieser Frage ist, daß man häufig nicht genau weiß, wovon da geredet wird, denn Kitzeln ist nicht immer gleich Kitzeln: es gibt verschiedene Arten des
Kitzelns, die sich sehr unterscheiden. Das wußte man natürlich schon lang, aber in der wissenschaftlichen Literatur wurde der Unterschied erst prominent, nachdem man ihn durch griechische Namen
hervorgehoben hatte und das war erstaunlicherweise erst 1897. Damals nannten G. Stanley und Arthur Allin das leichte Kitzeln Knismesis und verstanden darunter die Empfindung, die man hat, wenn
man mit einer Feder leicht auf der Haut gestreichelt wird. Was dann zustande kommt, hat man auch als ein Jucken bezeichnet, das sich auf der Haut fortbewegt. Dazu ist jede Stelle auf der Haut gut und
es gibt auch niemanden, bei dem die Empfindung nicht hervorgerufen werden könnte. Manchmal hält sie sogar noch Sekunden nach dem Aufhören des Kitzelns an.

Man hat diese Empfindung auch dann, wenn man sich selbst federleicht kitzelt. Aber im allgemeinen lacht dabei auch niemand und das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man sich die plausible
biologische Vorgeschichte vergegenwärtigt: wahrscheinlich ist die physiologische Reaktion entstanden als ein Schutzmechanismus gegen den Hautkontakt mit Insekten, weshalb auch die meisten Säugetiere
diese irritierende Empfindung zu haben scheinen. Ganz anders das Gargalesis getaufte Kitzeln mit höherem Druck: Wenn an den richtigen Stellen gekitzelt wird · und dafür ist nicht jede Stelle an
der Haut gleich geeignet · ,dann brechen Menschen in Gelächter aus, aber es ist eine noch offene Frage, wieviel dieses Lachen mit dem Lachen eines humorvollen Menschen zu tun hat: Es gibt kaum
Menschen, welche Humor mit Niveau nicht als angenehm und sehr willkommen empfinden, während es nur wenige gibt, welche Gargalesis suchen.

Es gibt keinen Zweifel daran, daß lange dauerndes Gekitzeltwerden extrem unangenehm ist · woher kämen sonst die Berichte darüber, daß Kitzeln eine Foltermethode sei und man zu Tod gekitzelt werden
könne. Die volle Reaktion auf intensives Kitzeln ist wahrscheinlich eine rein menschliche Erscheinung. Fraglich ist das nur bei den Primaten: Ob ihre Reaktion auf Gargalesis nicht über das
hinausgeht, was leichtes Kitzeln bei allen Säugetieren hervorruft, und so etwas wie ein evolutionärer Vorläufer des menschlichen Lachens sein könnte, ist bisher nicht klar geworden: Schimpansen
können jedenfalls schon aus physiologischen Gründen nicht „aus vollem Hals" lachen, wie es Menschen tun, aber es scheint, als ob sie im Spiel das Gekitzeltwerden suchen und dann auch eine Reaktion
zeigen, von der schwer zu sagen ist, inwieweit sie dem Lachen gekitzelter Menschen ähnlich ist.

Da liegt eben das Problem: wie weit gleicht humorvolles Lachen dem Gelächter der Gekitzelten? Damit haben sich natürlich die Psychologen beschäftigt. Was sie herausgefunden haben, hat unlängst
Christine Harris vom Center for Brain and Cognition der Universität von Kalifornien für den „American Scientist" (Juli/August 1999) zusammengefaßt. Das Thema Kitzeln stand übrigens bis vor
kurzem in den Forschungslaboratorien nicht gerade hoch im Kurs, aber jetzt ist man darangegangen, die Frage mit den Forschungsinstrumenten der Kognitionswissenschaften neu anzugehen. Vorher schon
hatten Psychologen Indizien dafür gesammelt, daß es zwischen humorvollem Lachen und der Reaktion auf Kitzeln selbst bei Kindern bereits einen Unterschied gibt: die Kinder scheinen im Spiel mit den
Eltern bereits zu lachen, bevor sie zu „lachen" beginnen, wenn man sie kitzelt · dieses Lachen scheint erst mit sechs bis sieben Monaten einzusetzen.

Wie so viele psychologische Experimente ist jedoch auch dieses Experiment nicht eindeutig. Man kann es auch umgekehrt deuten: die Kinder waren vielleicht früher im gelösten Spiel immer wieder auch
gekitzelt worden und hatten dabei einen konditionierten Reflex erlernt. Weitere Experimente stützten allerdings dann die Vermutung, daß sich humorvolles Lachen und durch Kitzeln verursachtes Lachen
unabhängig voneinander entwickeln können · auch wenn beide oft im Kontext des gleichen Spiels auftauchen.

Charles Darwin war auch der erste, der vermutete, daß bei der Reaktion auf Kitzeln der soziale Kontext wichtig sei: er wies darauf hin, daß ein kleines Kind, wenn es ein Fremder kitzelt, nicht lacht,
sondern schreit. Vielleicht · so vermuteten manche · ist die Reaktion auf Kitzeln in einem gewissen Sinn ein „soziales Konstrukt": etwas, daß mit der Beziehung zu anderen Personen zu tun hat. Das
würde es wenigstens plausibel machen, warum die Selbstkitzler nicht lachen. Wenn das so wäre, dann müßte eigentlich die Reaktion auf Kitzeln davon abhängig sein, wer oder was kitzelt. Kenner der
psychologischen Labors vermuten an dieser Stelle nicht zu Unrecht den Auftritt von Kitzelmaschinen. Christine Harris und N. Christenfeld haben in der Tat eine solche Maschine konstruiert und damit
experimentiert. Die Resultate waren etwas ernüchternd: Die Versuchspersonen lachten ebenso sehr, wenn sie glaubten, daß sie jemand kitzelte, wie wenn sie vermuteten, daß die Kitzelmaschine am Werk
war.

Das alles stützt natürlich die Vermutung, daß das Gelächter der Gekitzelten ein unwillkürlicher Reflex ist: unabhängig von allen Sozialkontakten, auslösbar durch eine Maschine · wie der Kniereflex,
aber eben mit dem entscheidenden Unterschied, daß man den auch selbst auslösen kann und er nicht zu verhindern ist. Es gibt aber eine andere Analogie, welche erklären könnte, warum man nicht selbst
Gargalesis auslösen kann. Diese Analogie stammt aus der Verarbeitung optischer Signale: Die Tatsache, daß die Welt sich nicht ruckartig zu verändern scheint, so oft man den Kopf dreht, verdankt
man dem Hirn, das sich „notiert" hat, daß es den Befehl ausgegeben hat, den Kopf zu drehen.

Vielleicht arbeitet das Gehirn beim Kitzeln ähnlich: der Befehl sich selbst zu kitzeln, hemmt die Empfindung des Kitzlig-Seins. Die Möglichkeit, in Funktion befindliche Nervenzellen durch magnetische
Kernresonanz abzubilden, sollte es eigentlich möglich machen, das Geflecht von Nervenzellen abzubilden, das auf Kitzeln hin aktiv wird. Zumindest einen Versuch gibt es, der in diese Richtung zielt:
man hat dabei entdeckt, daß im somatosensorischen Cortex andere Hirnzellen in ihrer Funktion gehemmt werden, wenn man sich selbst auf der Hand kitzelt oder von außen gekitzelt wird. Leider hat diese
Untersuchungstechnik ihre Grenzen: man kann mit ihr nur Kinismesis untersuchen und nicht feststellen, welche Aktionsgeflechte von Neuronen aktiv sind, wenn ein Gekitzelter lacht · er bewegt
sich dann so sehr, daß man keine Kernresonanz-Scans machen kann.

Christine Harris kommt nach der kritischen Sichtung der wenigen, bisher vorliegenden neurophysiologischen Untersuchungen zu dem Urteil: „Die Unfähigkeit, sich selbst zu kitzeln, könnte auf eine
Hemmung neuronaler Impulse auf relativ niedrigem physiologischem Niveau zurückzuführen sein · auch wenn man bisher nicht weiß, welche Mechanismen das sind". Wiederum aber findet man bei Sichtung
der Literatur dazu ein paar Indizien und große Lücken. Die Neurophysiologen haben herausgefunden, daß Kitzlig-Sein zumindest zum Teil von der Funktionstüchtigkeit von Nervenleitungen abhängt, die
auch Schmerzsignale weiterleiten. Wenn Chirurgen, um unerträgliche Schmerzen aushaltbarer zu machen, Schmerzleitungen durchtrennen, scheint die Haut auch weniger kitzlig zu werden.

Nervenkitzel und Evolution

Andere Befunde sprechen dafür, daß Kitzlig-Sein auch intakte Berührungssensoren voraussetzt. Wenn man Nervenzellen aushungert, indem man den Blutkreislauf zu einem Glied temporär unterbindet, dann
verschwindet dort die Schmerzempfindlichkeit erst, nachdem man weder Berührung noch Kitzeln spürt.

Christine Harris kann der Versuchung nicht widerstehen, sich eine Geschichte auszudenken, welche es plausibel macht, daß Kitzlig-Sein einen evolutionären Vorteil bringen könnte. Sie ist natürlich
nicht die erste, die damit auf den Markt der spielerischen Ideen kommt, die gelegentlich ernsthaftere Wissenschaft gebären. Schon vor ihr hat man vermutet, daß Kitzeln die Bindung zwischen Eltern und
Kindern stärken könnte · eine Version, die friedfertigen Leuten plausibler erscheint als denjenigen, die in Steinzeit-Manier Evolution vor allem als einen blutigen Kampf ums Überleben sehen. Die
favorisieren eine andere Geschichte: sie sind beeindruckt von der Tatsache, daß man genau dort am kitzligsten zu sein scheint, wo man im Kampf Mann gegen Mann auch am verwundbarsten ist. Kitzlig-Sein
ist für sie eine Art Kampftraining: man lernt instinktiv, diese Stellen zu schützen.

Christine Harris bietet einen Kompromiß an: „Die Leute machen ja Abwehrbewegungen und sagen im allgemeinen, daß sie Gekitzeltwerden als unangenehm empfinden, aber sie scheinen zur gleichen Zeit zu
lachen. Vielleicht ist dieser Bruch der Verbindung zwischen Gesichtsausdruck und Empfindung an sich schon adaptiv. Die unangenehme Empfindung motiviert das heranwachsende Kind (oder den Affen)
Abwehrbewegungen zu sammeln, die später auch im Kampf nützlich sind. Auf der anderen Seite aber signalisiert der Gesichtsausdruck: ,Mach nur weiter, ich mag, was Du tust'. Und das verlängert in einer
Art Rückkopplung die Trainingseinheiten."

Christine Harris ist fair genug, diese Version den anderen hinzuzufügen, ohne sie zu ernst zu nehmen, denn bei allen solchen Geschichten ist nicht auszuschließen, daß alles ganz anders war: „Es
ist immer möglich, daß ein biologisches Phänomen nicht selbst adaptiv ist, sondern nur die Nebenwirkung eines Mechanismus, der sich zu einem ganz anderen Zweck entwickelt hat. Dann bliebe dieser
Aspekt unseres biologischen Erbes der Primaten-Vorläufer noch auf lange Zeit ein Mysterium".

Und das Ganze ein sommerlicher Gedankenkitzel.

Freitag, 23. Juli 1999

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