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In Grünau im Almtal soll der vom Aussterben bedrohte Waldrapp angesiedelt werden

Zugvögel als Wetterhexen

Von René Freund

Grünau im Almtal (OÖ) ist einer jener Orte, von denen gerne behauptet wird, in ihnen wäre die Zeit stehengeblieben. Daß sich hier aber nicht nur Fuchs und Hase gute Nacht sagen, sondern auch vom
Aussterben bedrohte Tierarten, und daß zudem wissenschaftliche Forschung auf internationalem Niveau stattfindet, dafür sorgt die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie.

Beim „Auinger" im hinteren Almtal, dem Zentrum der Forschungsstelle, liegt noch etwas vom Pioniergeist des Konrad Lorenz in der Luft. Manche der herumstolzierenden Graugänse, die jeden ungewohnten
Besucher erbarmungslos „ausschnattern", haben den Nobelpreisträger noch persönlich gekannt. In einer großen Volière führen ein paar riesige schwarze Raben ein lautstarkes Spektakel auf · um die Gänse
zu unterhalten, wie eine anwesende Studentin meint. Warum aber die bunten Haushühner allesamt beleidigt gegen die Hausmauer schauen, versteht auch sie nicht. Vielleicht, um die Verhaltensforscher zu
unterhalten?

200 in freier Wildbahn

Prof. Kurt Kotrschal, das · um im Jargon zu reden · Alphatier der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle, zeigt die neuen Schützlinge des Instituts gerne her. Sie befinden sich hinter dem Haus in einer
großen Volière. Es sind große, schwarze Vögel mit langen, roten, gebogenen Schnäbeln. Die Flügelspannweite der guten, wendigen Flieger kann bis zu einem Meter erreichen. Sie sind, unwissenschaftlich
gesagt, sehr possierlich und auf Anhieb einnehmend. Daß sie von der Natur mit wenig Scheu und mit viel Neugierde ausgestattet wurden, merkt man an der Art, in der sie sich mit professionell wirkendem
„Posing" dem „Fototermin" stellen.

„Der Waldrapp ist heute leider so gut wie ausgestorben", erzählt Professor Kotrschal. „Es gibt heute zwar in Zoos 2.000 Waldrappe, in freier Wildbahn aber nur noch 200, und zwar in Marokko. 200 ist
nichts. 40 Kolonien sind in Marokko innerhalb der letzten 30 Jahre verschwunden. Jetzt gibt es noch zwei Kolonien, in Tamri nördlich von Agadir. Ein Insektizidunfall, und die Vögel sind weg."

Waldrappe kamen bis vor 350 Jahren in ganz Mitteleuropa vor. In Nordafrika und im Nahen Osten waren sie bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Durch Bejagung und Umweltzerstörung wurden
die Bestände stark dezimiert. 1989 verschwand die letzte Waldrapp-Kolonie der Türkei.

Auch in Italien war der Vogel früher vermutlich weit verbreitet. Es gibt jedenfalls kulturelle Spuren, die darauf hindeuten · z.B. die typische venezianische Karnevalsmaske: schwarz, mit einem roten,
gebogenen Schnabel. Beim ersten Kennenlernen erinnern die Waldrappe gleich an diese Karnevalsmasken. In Wahrheit aber dürfte es sich genau umgekehrt verhalten · die Karnevalsmasken erinnern an den
Waldrapp. Kotrschal: „Wenn man sich das Aussehen dieser Masken vor Augen hält, wird klar, daß es sich nur um den Waldrapp handeln kann. Das kulturelle Gedächtnis hat diesen besonderen Vogel auf diese
Weise verewigt. Möglicherweise hat aber das Verschwinden der Waldrappe auch mit den Überlieferungen rund um diese Maske zu tun. Es gibt Hinweise darauf, daß die Waldrappe mit den sogenannten ,agane`
in Verbindung gebracht wurden. So nannte man in Oberitalien die Wetterhexen. Es gibt sehr viele Flurnamen, die das Wort ,agane` enthalten, und zwar überall dort, wo sich Steilwände befinden · der
typische Lebensraum der Waldrappe. Möglicherweise sind die Vögel in Italien ausgerottet worden, weil sie als eine Art Unglücksbringer mit den Wetterhexen identifiziert wurden. In Österreich kennt man
ja Ähnliches von Raben und Krähen."

Nester auf Zinnen

Auch in Österreich gibt es Flurnamen, die an den Waldrapp erinnern, etwa das Rappenloch in Tirol · auch eine Steilwand. Höchstwahrscheinlich gab es bei uns deutlich mehr Brutstandorte, als die
historischen Quellen verraten. Im oberösterreichischen Grünau selbst befand sich vermutlich keine. Aber es ist bekannt, daß Waldrappe auf hohen Gebäuden und besonders gerne auf den Zinnen von Burgen
genistet haben. Historische Brutplätze im Zentrum von Salzburg sind verbürgt. Ein Erlaß des Salzburger Erzbischofs blieb erhalten, in dem untersagt wird, aus den Häusern der Getreidegasse auf die
Waldrappe zu schießen.

Nun will man im Konrad-Lorenz-Institut versuchen, eine Waldrapp-Kolonie wieder heimisch zu machen. Aber das ist nicht so leicht, wie der Laie sich das vielleicht vorstellt. Es genügt nicht, einfach
ein paar Vögel aus den Zoos zu holen und freizulassen. Es wäre auch nicht möglich, die letzte wilde Kolonie in Marokko mit Zoo-Tieren zu stabilisieren. Im Gegenteil: In Gefangenschaft aufgewachsene
Vögel könnten z.B. Krankheiten übertragen, gegen die ihre natürlich aufgewachsenen Verwandten nicht gerüstet sind. Oder sie könnten das sehr komplexe Sozialgefüge der Kolonien durcheinanderbringen.
Kotrschal: „In der Türkei hat man mit solchen Experimenten sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Dort gab es noch eine kleine Waldrapp-Kolonie, die man durch das Aussetzen von in Gefangenschaft
aufgewachsenen Waldrappen aufstocken wollte. Das hatte katastrophale Auswirkungen. Die Kolonie hat sich sofort halbiert, weil sich die Neuen mit den alten Vögeln nicht vertragen haben."

Bevor man sich auf solche Experimente einläßt, müssen also die Lebensbedingungen und Gewohnheiten der Vögel genau untersucht werden. Waldrappe sind eigentlich Zugvögel, aber ihr Zugverhalten ist noch
nicht sehr gut erforscht. Man weiß, daß sie von A nach B ziehen, dabei aber eher Familientraditionen folgen. Sie haben also kein fix „einprogrammiertes" Winterziel, wie etwa die Weißstörche. „Die
klimatische Wärme", erklärt Kotrschal, „spielt keine übermäßig große Rolle. Waldrappe sind nicht frostempfindlich. Sie brauchen nur eine sichere Nahrungsquelle. Im alpinen Grünau müßte dazu im Winter
natürlich zugefüttert werden. Aber wir verfolgen auch kein Freisetzungsprogramm im klassischen Sinn. Wir versuchen einfach, eine Kolonie freizuhalten. Das bedeutet, daß wir wahrscheinlich immer
zufüttern müssen, damit die Vögel nicht verschwinden oder verhungern."

Ist es nicht problematisch, Zugvögel auf diese Weise seßhaft zu machen?

Kotrschal: „Unsere Graugänse z.B. sind ja auch seßhaft geworden. Man kann schon versuchen, die Tradition herauszubringen. Ob das bei den Waldrappen auch gelingt, weiß ich nicht. Eine andere
Möglichkeit wäre, ihnen eine Kurzstreckenzugtradition beizubringen, die man noch managen kann. Zum Beispiel nach Salzburg, wo ein historischer Waldrapp-Standort war und wo sie im Tiergarten Nahrung
finden könnten." Und wie geht das? Kotrschal: „Man müßte nur einmal mit ihnen hinfliegen. In den USA hat man an Kanadagänsen und Schneegänsen erwiesen, daß Zugvögel einer Bezugsperson auch durch die
Lüfte folgen. Man bräuchte also nur ein Leichtflugzeug. Und einen Flieger." („Aber nicht mich!", fügt er hinzu.)

Diese typische Zugunruhe war es bis jetzt auch, die den Almtaler Ethologen seit Frühling 1997 in ihren Erfahrungen mit dem Waldrapp ein „Wechselbad der Gefühle" bescherte. Auch 1998, im zweiten Jahr
des Waldrapp-Projekts, gab es Rückschläge. Während die Waldrappe sich den Sommer über bei Schönwetter mit Ausflügen in die umliegenden Täler, z.B. das Stodertal, begnügten, so packte sie im Herbst
das Fernweh. Im Oktober verließen sie in zwei Gruppen das Tal. Von 13 Vögeln konnten nur 6 ins Almtal zurückgebracht werden. Zwei Tiere hatten sich an den ungarischen Plattensee begeben und waren
dort von einem aufmerksamen Vogelbeobachter „festgesetzt" worden. Zwei weitere Waldrappe wurden in der Nähe von Szeged in Südungarn gefangen und konnten genauso wie ein in Göttingen aufgegriffener
Vogel ebenfalls zurückgeholt werden. Weniger abenteuerlustig war Waldrapp Kevin, der nur nach Steinakirchen an die niederösterreichische Grenze geflogen war und von dort an die Forschungsstelle
zurückgebracht werden konnte. Den weitesten nachweisbaren Flug brachte Grobi hinter sich, der leider nur tot geborgen wurde · in der Nähe von Kaliningrad. Für den Laien ist es faszinierend, daß
Berichte über die Vögel die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle überhaupt erreichten. Kotrschal: „Es gibt ein dichtes Netz an vorwiegend privaten Vogelbeobachtern. Auch aus dem Osten kommen viele
Rückmeldungen, vor allem, wenn es um einen unverwechselbaren Vogel wie den Waldrapp geht. Und es hat sich auch über das ,European Bird Net` herumgesprochen, daß unsere Waldrappe zur Zeit die einzigen
sind, die sich in Europa herumtreiben."

Viel Arbeit, viel Geduld

Aus den Erfahrungen der Vergangenheit hat man gelernt. Die heuer im Mai aus dem Alpenzoo Innsbruck kommenden Nachwuchstiere werden intensiv „begluckt". Auch die bereits ausgewachsenen Waldrappe
des Forschungsinstituts verbleiben in ihrer geräumigen Volière und dürfen erst wieder frei fliegen, wenn die Jungen handaufgezogen wurden. Kotrschal: „Ab November lassen wir sie wieder fliegen und
hoffen, daß dann die Zugunruhe vorbei ist."

Mit Verlusten wird leider auch weiterhin gerechnet werden müssen. Manche Waldrappe verschwinden einfach über Nacht. Sie fallen wahrscheinlich dem Uhu zum Opfer. Trotz aller Rückschläge sind die
Ergebnisse immer noch ermutigend. Fernziel bleibt es, in Grünau eine stabile Kolonie anzusiedeln. Kotrschal: „Wenn die Vögel einmal selbständig zu brüten beginnen, sind wir aus dem Ärgsten raus."

Die Aufzucht erfordert viel Arbeit und viel Geduld. Erst nach drei Jahren sind die Tiere geschlechtsreif. (Das Weibchen legt drei bis vier Eier, die von den Partnern abwechselnd bebrütet werden.) Die
Jungvögel brauchen viel Betreuung. Ein ganzes Team steht seit Frühling 1997 dahinter, natürlich auch mit wissenschaftlichem Ehrgeiz: Die betreuenden Personen, studierte oder studierende Biologen,
untersuchen Nesterzusammensetzung, Ernährung, Brutpflege, Wachstum, Geschwisteraggression, sexuelle Prägung. Die Erfahrungen, die man in der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle bis jetzt gesammelt hat,
konnten auch international genutzt werden. In einem Workshop im März dieses Jahres in Agadir wurde ein internationaler Aktionsplan beschlossen, um diese Art vor dem Aussterben zu bewahren. Der
Beauftragte des International Council for Bird Preservation in Marokko konnte z.B. darüber informiert werden, daß in Jahren der Futterknappheit zugefüttert werden kann, ohne die Vögel zu gefährden.
Sie verlieren ihren Trieb nach Nahrungssuche dadurch nicht. „Sie sind geradezu süchtig auf das Herumstochern mit ihrem langen Schnabel", erzählt Kotrschal. Auch im Friaul, wo demnächst ein weiteres
Waldrapp-Ansiedelungsprojekt beginnen soll, wird man auf die Erfahrungen aus Grünau zurückgreifen können.

Nachbarschaftshilfe

Noch immer ist freilich nicht restlos geklärt, warum die Waldrappe überhaupt ausgestorben sind. In erster Linie wahrscheinlich durch Lebensraumvernichtung und direkte Verfolgung. „Waldrappe sind
gegessen worden", weiß Kotrschal. Auch ihr Leben in Kolonien macht sie für Feinde, von Raubvögeln bis zum Menschen, angreifbar. Wenn eine Kolonie einmal ausgestorben ist, dann bleibt das auch so.
Kotrschal: „Der Aufbau einer neuen Kolonie scheint etwas ungeheuer Schwieriges zu sein. Da ist sehr viel soziale Tradition involviert. Das sind sehr konservative Vögel, die viel von ihren Vorfahren
lernen. Daran arbeiten wir ja · daß sich Traditionen bilden, die für dieses Umfeld geeignet sind."

Mit Bauern und der Jägerschaft, auch in Grünau, gibt es keine Probleme. Im Gegenteil: Die Bauern, die bis jetzt bei der Heuernte Kontakt mit den heuschreckenjagenden Tieren aufgenommen hatten, waren
von den komischen Vögeln sehr angetan. „Der Waldrapp ist ein Nützling", sagt Kotrschal, wobei man seiner Aussprache von „Nützling" die dreifachen Anführungszeichen anhört. Waldrappe ernähren sich von
allem, was kreucht und fleucht: Insekten, Kleinreptilien, Würmern und Nagern... Kotrschal: „Im Mittelalter hat man handaufgezogene, flügelkupierte Waldrappe sogar im Hausgarten gehalten. Die
Waldrappe haben alle Schnecken gefressen · und im Gegensatz zu Enten keinen Salat."

Ein gutes Zeichen für die lokale Akzeptanz der Wiederansiedelungsversuche: Auch der Nachbar der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle hat das Waldrapp-Projekt gefördert · kein geringerer als Seine
Königliche Hoheit Ernst August von Hannover. Auch die Freunde des Tiergartens Schönbrunn förderten das Waldrapp-Projekt. „Ungefähr 150.000 Schilling kostet das Ganze im Jahr", so Kotrschal. Den
Kostenschwerpunkt bildeten das Personal sowie die Reisen, die nötig waren, um die verlorenen Tiere wieder heimzuholen. Einen Wunsch an potentielle Förderer hätte man freilich immer noch. Professor
Kotrschal: „Was toll wäre, was wir uns aber leider nicht leisten können, ist Satellitentelemetrie. Es gibt mittlerweile schon sehr kleine Sender, die man den Vögeln umhängen kann. Über Internet
bekommt man dann alle paar Stunden eine Positionsmeldung. Das wäre natürlich für unser Projekt ein Segen."

Informationen: Konrad-Lorenz-Forschungsstelle für Ethologie, A-4645 Grünau Nr. 11. Tel.: 0 71 6-85 10.

E-Mail: klf.gruenau@telecom.at.

Internet: http://evolution.humb.univie.ac.at/institutes/grunau.html

Freitag, 21. Mai 1999

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