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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Neurotiker und Fliegenfänger

Über Biographie und Autobiographie zweier hochkarätiger

Wissenschafter: Paul Erdös und Edward O. Wilson
Von Peter Markl

Unter den Büchern, die in der letzten Zeit erschienen, finden sich auch zwei Biographien von Männern, die beide · der Mathematiker Paul Erdös und der Biologe Edward O. Wilson · sicher zu den
bedeutendsten Wissenschaftern gehören, die ihr Fach in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Sie selbst und die Wissenschafter-Gemeinden, in denen sie Karriere machten, hätten unterschiedlicher kaum
sein können. Als Gast muß Paul Erdös der reinste Horror gewesen sein · vor allem in seinen letzten 25 Jahren, als seine Mutter gestorben war und er sich 19 Stunden am Tag mit Mathematik beschäftigte.
Daß er nicht zusammenbrach, verdankte er dem Konsum von täglich 10 bis 20 Milligramm Benzedrin, starkem Espresso und zwischendurch geschluckten Koffeintabletten, welche ihn so wach hielten, daß er
mit seinen Gastgebern bis zwei Uhr morgens angeregt diskutierte und dann um halb fünf darüber erstaunt war, daß sie · geweckt durch Küchenlärm · wenig Lust zeigten, die Diskussion über Mathematik
wieder aufzunehmen.

Plattfüße und Seide

Niemand kann sich daran erinnern, den nur 1,57 m großen Mann je anders als ausgemergelt gesehen zu haben · und das schon bevor er drogensüchtig geworden war. Seine Füße steckten in absonderlich
geformten Sandalen, eine Spezialanfertigung, die es ihm möglich machen sollte, mit Plattfüßen und einer schwachen Archillessehne zu Rande zu kommen. Seine Kleidung bestand zur Gänze aus Seide, denn
etwas anderes vertrug seine Haut nicht. Er trug seidene Socken und Unterwäsche, von der er allerdings so wenig besaß, daß die Gastgeber damit rechnen mußten, sie mehrmals in der Woche waschen zu
müssen. Er selbst wusch sich fünfzig Mal am Tag die Hände und hatte einen Horror vor jeder körperlichen Berührung. Und natürlich verachtete er Sex ebenso wie jede andere Form von Erotik. Der Moment,
in dem er sich mit elf Jahren zum ersten Mal darauf einließ, die Schuhe selbst zu binden, blieb ihm ebenso in Erinnerung wie seine mit 21 Jahren gemachte Entdeckung, daß es gar nicht so schwer ist,
ein Butterbrot zu streichen · vorher hatten das immer seine Mutter oder seine Haushälterin besorgt.

Nach dem Tod seiner Mutter war er ein ungebundener Mann: ohne feste Stellung und eigentlich ohne Zuhause. Was er besaß, trug er in einem alten schäbigen Koffer und einem vergilbten Plastiksack aus
dem Budapester Kaufhaus „Centrum Aruhaz" mit sich, auf seinen nie endenden Reisen durch 25 Länder auf vier Kontinenten · von Konferenz zu Konferenz, auf der Suche nach jungen mathematischen Talenten
von einem Institut für Mathematik zum nächsten, wo er dann unerwartet auftauchte, von einem der Mathematiker eingeladen wurde, einige Tage lang intensiv arbeitete und dann weiterzog. Alles das wäre
natürlich unmöglich gewesen, wenn er nicht immer wieder auch ohne alle Berechnung von direkter Herzlichkeit sein konnte. Vor allem aber: wenn Paul Erdös, der am 20. September 1996 im Alter von 83
Jahren starb, nicht schon zu seinen Lebzeiten zur Legende geworden wäre.

Er hat allein oder mit 485 Co-Autoren insgesamt 1475 mathematische Arbeiten veröffentlicht · freigiebig mit seinen Ideen wie kein Mathematiker vor ihm. Es war eine Ehre, mit ihm eine Arbeit
veröffentlichen zu können. Wer das schaffte, bekam in der Welt der Mathematik einen begehrten Rang, der den Einfluß von Erdös' Gedanken und widerspiegelt und · halb ernst gemeint · als eine Art
Qualitätsausweis angesehen wird: Eine mit Erdös gemeinsam verfaßte Arbeit verschaffte die Erdös-Zahl 1. Ein Träger der Erdös-Zahl 2 hat wenigstens mit jemandem publiziert, der noch mit Erdös selbst
gearbeitet hat. (Albert Einstein war das gelungen). Es gibt heute einen praktizierenden Mathematiker, von dem bekannt ist, daß er Träger der Erdös-Zahl 7 ist. (Und was den Rest der Menschheit
betrifft, trägt sie natürlich die Erdös-Zahl „Unendlich".)

Keine Gleichungen

Paul Hoffman, ein Mathematikenthusiast, der einmal beim „Scientific American" die legendäre mathematische Kolumne von Martin Gardner betreute und heute Herausgeber der Encyplopaedia
Britannica ist, hat diesem Säulenheiligen unter den Mathematikern nun eine Biographie gewidmet:

Paul Hoffmann:

Der Mann, der die Zahlen liebte. Die erstaunliche Geschichte des Paul Erdös und seine Suche nach der Schönheit in der Mathematik. Aus dem Amerikanischen von Regina Schneider.

Ullstein-Verlag 1999, 320 Seiten.

Wer in den Kreis um Paul Erdös gekommen war oder die Mathematik liebt und einigermaßen kennt, wird dieses unterhaltsam geschriebene Buch mit Interesse lesen. Wer nicht zu diesem Kreis gehört, wird
die Frage nicht los, warum eigentlich alle diese zum Teil reichlich belanglosen Anekdoten um diesen hochneurotischen Außenseiter so erzählenswert sein sollten. Es wäre natürlich anders, wenn auch
Laien verständlich gemacht werden könnte, wieso Mathematiker so von ihm fasziniert waren. Leider aber kursiert unter den Wissenschaftern zur Zeit ein Satz, den ein umsatzbewußter Verleger in der Welt
gesetzt hat: Jede Gleichung, die in einem für das weitere Publikum gedachten Buch vorkommt, kostet Tausende von Lesern. Und das macht es zur Zeit fast unmöglich, Mathematik verständlicher zu machen.

Paul Hoffman will viele Leser: In diesem Buch gibt es keine einzige Gleichung. Er hat auch davon abgesehen, das nach außen hin nicht sehr ereignisreiche Leben von Paul Erdös chronologisch zu
erzählen. Dafür macht er immer wieder auch den Versuch, wenigstens zu erklären, wo die Probleme liegen, auf die große Mathematiker stießen, und er spickt das Buch mit zahlreichen Anekdoten über Gauß
und Wiles und Russel und Fermat · alle meist vergnüglich zu lesen. Das macht das Buch zu einer leichten Lektüre und liefert Impressionen vom Leben unter Mathematikern, aber es ist doch fraglich, ob
ein normaler Leser davon mehr hat als eine Bestätigung seines Vorurteils, daß die ein etwas seltsamer und skurriler Stamm sind.(Übrigens: es gibt in Amerika bereits eine zweite Biographie von Paul
Erdös: Sie stammt von Bruce Schechter: My brain is open: The Mathematical Journeys of Paul Erdös. Das soll eine wesentlich konventionellere Biographie sein, in der auf die Mathematik viel
weiter eingegangen wird).

Großer Biologe

Ganz anders die vor kurzem auch in deutscher Übersetzung erschienene Autobiographie von Edward O. Wilson · fraglos einem der großen Biologen unseres Jahrhunderts, Harvard Professor für Biologie,
einer der großen Spezialisten für Insektenstaaten, ein großer Evolutionsbiologe und Begründer der Soziobiologie. Was das Lesen dieses Buches so lohnend macht, sind Wilsons Persönlichkeit und sein
reiches Leben: Vor allem aber auch: er kann schreiben, was allerdings nicht überraschend ist, da er für frühere Bücher bereits zwei Mal mit dem Pulitzer-preis ausgezeichnet wurde:

Edward O. Wilson:

Des Lebens ganze Fülle. Eine Liebeserklärung an die Wunder der Natur. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt.

Claassen-Verlag 1999, 400 Seiten

Wilsons Leben führte aus dem provinziellen Alabama in die intellektuelle Hochburg Harvard, vom geduldigen Naturbeobachter zum umstrittenen Biologen in ideologiegetränkten Diskussionen um die
menschliche Natur. „Meine Kindheit", so schreibt er, „war glücklich. Ich wuchs im alten Süden auf, in einer wunderschönen Landschaft, ohne große Berührungspunkte mit seinen sozialen
Problemen. Schon früh beschloß ich, Naturwissenschaftler zu werden, um im engen Kontakt mit der Natur zu bleiben. Die Verzauberung des Knaben ist nie gewichen, aber sie bildete gleichsam eine Insel
in einem ,heraklitischen` Fluß, in dem sich alles andere verändert hat · alle meine Vorstellungen darüber, wie die Welt funktioniert, und alles, was ich über die Stellung des Menschen in der Welt
dachte. Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu erfahren, warum ich heute so denke, und um die Elemente, die den Kern meiner Überzeugungen bilden, dem Leser und mir verständlich zu machen und
vielleicht auch, um zu überzeugen." Es gibt in diesem Buch bewegende Kapitel · alle jene, in denen Wilson seine Begegnungen mit der Natur beschreibt, vor allem auf seinen ausgedehnten Expeditionen
· sowie seine Begegnungen mit anderen Wissenschaftern (etwa Konrad Lorenz, der an der Harvard-Universität einen Vortrag hielt, der Wilsons Leben änderte). Man findet prägnante Porträtskizzen
berühmter Kollegen wie James Watson oder Richard Lewontin und Kurzberichte über die intellektuellen Feldzüge der Molekularbiologen und Genetiker gegen die traditionelleren Biologen, die Wunden
hinterließen, die noch nicht ganz verheilt scheinen · als man versuchte, die zukünftige Entwicklungsrichtung der Biologie abzuschätzen, um die Universität dafür zu rüsten, ging es um mehr als um
intellektuelle Scharmützel.

Wälzer über Ameisen

Als Wilsons Kollege und Freund Bert Hölldobler nach einem Arbeitsaufenthalt an der Harvard-Universität wieder an seine deutsche Universität zurückging, beschlossen sie, einmal alles das
niederzuschreiben, was sie über Ameisen wußten. Während der Arbeit wurden sie kühner: sie modifizierten ihren Plan und gingen daran, das gesamte gegenwärtige Wissen über Ameisen zusammenzufassen. Als
das Buch 1990 erschien, bestand es aus 732 zweispaltigen Seiten, Hunderten von Abbildungen und einer Bibliographie von 3.000 Literaturzitaten. „Das alles", schreibt Wilson, „erfüllte mein
Kriterium für ein Opus magnum · ein Buch, das schwer genug ist, um einen Menschen zu erschlagen, wenn man es vom Dach eines dreistöckigen Gebäudes fallen läßt".

Doch keine Angst vor diesem Wälzer: 1991 erhielt das Buch in der Sparte „Allgemeines Sachbuch" den Pulitzerpreis, als das erste von Wissenschaftern für Wissenschafter geschriebene Buch mit
überwiegend wissenschaftlichem Inhalt. Darauf, daß dieser Preis ein literarischer Preis war, ist Wilson heute noch stolz. Seine Autobiographie profitiert davon.

Postskriptum: Auf Seite 80 des Buches findet man als Service für den Leser eine Rarität: eine praktische und sogar illustrierte Anleitung dazu, Fliegen mit der bloßen Hand zu fangen ·
wohlfundiert durch das, was die moderne Wissenschaft über die Wahrnehmungsphysiologie der Fliegen herausgefunden hat. Und es funktioniert!

Freitag, 30. April 1999

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