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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Zum Wandel von Inhalten und Organisationsformen der wissenschaftlichen Forschung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert

Die Dekade der Maus

Von Wolfgang Frühwald

Das Jahrhundertende, sofern es sich mit Katastrophenängsten, Untergangsvisionen und Endzeitvorstellungen verbindet, ist seit dem Ende der achtziger Jahre offenkundig vorbei, das 21. Jahrhundert
hat lange vor dem kalendarischen Ende des 20. begonnen. An dieser Erfahrung der Zeitbeschleunigung, der wir alle unterliegen, hat nicht zuletzt die Wissenschaft Anteil, die seit rund 40 Jahren nicht
nur zu einem ökonomischen Faktor ersten Ranges geworden ist, sondern in Theorie, Methode und Experiment am Ende des Jahrhunderts einen Aufbruch erlebt, wie er vielleicht nur alle 500 Jahre einmal zu
verzeichnen ist. Dieser Aufbruch wird · so jedenfalls lehrt es die Geschichte der Revolutionen, auch und gerade die der wissenschaftlichen · kulturrevolutionäre Folgen haben, so daß es gut ist, ihn
wenigstens in Ausschnitten zu kennen. Die Skizze dieses Aufbruchs, die ich hier zu geben versuche, legt keinen Wert auf Vollständigkeit und keinen Wert auf wissenschaftliche Sprache. Ich versuche,
die einer Explosion gleichende Entwicklung von Forschung und Wissenschaft am Ende des Jahrhunderts zu erzählen und nehme dabei Lücken und Unschärfen, um der Erzählbarkeit willen, in Kauf.

Modellorganismus

Daß wir am kalendarischen Ende des 20. Jahrhunderts in einer „Dekade des Gehirns" (decade of the brain) leben, haben wir uns einige Jahre gerne gefallen lassen. Schließlich ist das Gehirn
ein anerkannt edler Bestandteil unseres Körpers. Nun aber erscheint, inmitten der „Dekade des Gehirns" eine „Dekade der Maus" (decade of the mice), und wir wissen nicht, was wir davon halten
sollen. Die literarisch gebildeten oder halbgebildeten Menschen wissen zwar zumindest aus der Lektüre von Thomas Mann, daß der Gehirnstand von Ratte und Maus dem des Menschen sehr ähnlich ist. Mit
dem Gehirn des Schweines steht es ebenso, doch meint vermutlich die berühmte Verszeile Gottfried Benns: „Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch" · Anderes und Schlimmeres. Immerhin
sind Schweine heute die Modelltiere der Xenotransplantation, an ihren Organen wird die Verträglichkeit tierischer Organe im menschlichen Körper erprobt. Daß einmal Ratten und Mäuse zu Modelltieren
der Krankheitsursachen-Forschung avancieren würden, haben sich Felix Krull und sein Lübecker Schöpfer Thomas Mann, hat sich auch der Berliner Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten Gottfried
Benn nicht träumen lassen.

Seit die berühmte Harvard-Maus hergestellt wurde, das heißt eine Maus, „die genetisch so verändert wurde, daß sie immer und unweigerlich an Krebs erkrankt, wobei die Art des Krebses davon abhängt,
in welches der an die hundert Krebsgene eingegriffen wird" (Ernst Ludwig Winnacker), avancierte die Labormaus · das war früher ein Wort aus dem sexistischen Vokabular männlich bestimmter
Arbeitswelten · zu einem Modellorganismus, an dem erblich bedingte Krankheiten des Menschen erzeugt, in ihrer Entstehung und ihrem Verlauf erforscht und · vielleicht einmal · auch geheilt werden
können. Unterschiedliche technisch hervorgerufene Gendefekte erzeugen unterschiedliche Krankheiten, Krebs, Diabetes, die Alzheimersche Krankheit, und wer eine jeweils neue knock-out-Maus (also
eine Maus, bei der ein Gen ausgeschaltet ist) herstellt, zu dem wallfahrten die Forscher aus aller Welt. Daß die dem Menschen in seiner Gen-Ausstattung und nach der Zahl der etwa 3 Milliarden
Erbbausteine so nahe verwandte Maus uns einmal werde helfen können, einer der größten Menschheitsgeißeln, den Krebserkrankungen, auf die Spur zu kommen, ist allen Unkenrufen der Tierrechtsbewegungen
zum Trotz einer der größten Durchbrüche der biomedizinischen Forschung.

Dieser Durchbruch geschah in dem Augenblick, in dem der von dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon seinerzeit ausgerufene dreißigjährige Krieg gegen den Krebs schon verloren war, weil in diesen
dreißig Jahren intensiver Krebsforschung die Zahl der Krebstoten statistisch nochmals angewachsen, nicht gesunken war. Mit Mäusen und Ratten als Modelltieren für komplizierte menschliche Krankheiten
und Krankheitsverläufe stehen wir jetzt vor einer inhaltsschweren medizinischen Revolution. Wir haben die Möglichkeit, in genveränderten Säugetieren Modelle menschlicher Krankheiten (monogener und
polygener Krankheiten) herzustellen, um die komplexen Systeme des menschlichen Organismus, zum Beispiel das Nerven- oder das Immunsystem, zu erforschen. Auf den weißen Labormäusen ruhen die
Hoffnungen von vielen Tausenden todgeweihter Menschen. Rund 400 auf Gentechnik beruhende Pharmaka sind weltweit in Erprobung, 280 davon werden bereits klinisch getestet, rasche Erfolge sind
allerdings nicht zu erwarten, die Krankheitsursachen-Forschung steht erst am Anfang ihrer Entwicklung.

Damit ist das Jahrzehnt der Maus nicht zufällig in die Dekade des Gehirns eingelagert, weil derzeit offenkundig aus der Verbindung von Neurobiologie, Entwicklungsbiologie und Genetik ein neues
Wissenschafts-Paradigma entsteht, das sich einer zusammenhängenden Theorie nicht mehr zu verweigern scheint. Wenn die Bildung einer solchen Theorie aber gelingt, wird sie auch tief in die Geheimnisse
der Sozial- und Geisteswissenschaften eindringen. Angesichts dieser Perspektive der Wissensentwicklung aber ist die verbreitete These vom baldigen Forschungsende, weil alles schon erforscht oder auch
„überforscht" sei, eine lächerliche Reprise der Situation, die schon Ende des 19. Jahrhunderts einmal diskutiert wurde. Als sich nämlich Max Planck 1880, mit 22 Jahren, für das Fach Theoretische
Physik habilitierte, gab es Deutschland gerade zwei Lehrstühle seiner Disziplin. Es sei, meinten Plancks Mentoren, in seinem Fach alles längst erforscht, neue Ergebnisse könne man nicht mehr
erwarten. Und mit Max Planck hat die moderne Physik erst begonnen.

Mit der Hefe verwandt

Der Theoretischen Biologie scheint es heute ähnlich zu ergehen. Eine empirisch abgestützte und weiterentwickelte Evolutionstheorie würde wie eine universelle Säure wirken, die alle unsere
tradierten Bilder vom Menschen, von der Welt und der Schöpfung zersetzen könnte. Nach der kopernikanischen Kränkung, die den Menschen aus der Mitte des Weltalls katapultiert hat, und nach der
freudianischen, die auch die erhabenen Gefühle des Menschen an seine Natur und sein Triebleben gebunden hat, steht uns jetzt eine dritte Kränkung bevor, die darwinische, wonach der Mensch auf einer
umfassenden Treppe der Natur letztlich sogar mit der Bäckerhefe verwandt ist.

Die Rede von „menschlichen" Genen scheint mir irreführend zu sein, weil es streng genommen keine menschlichen, keine pflanzlichen und keine tierischen Gene gibt, sondern nur Gene, in denen die
archaische Erbsubstanz des Lebens hochkonserviert erhalten ist. Auch wenn eine konsistente Theorie der Evolution, durch welche die Übergänge von einem organismischen Organisations-Niveau zum anderen
erklärt werden könnte, noch nicht die durch Jahrtausende vergeblich gesuchte Weltformel bringen wird, so wird sie doch in das Problem der Kausalität (der Ursächlichkeit) eindringen und damit auch das
Definitionsmonopol im Reich der Begriffe erstreben. Die Fülle der ihr zur Verfügung stehenden Daten und die Computer-Werkzeuge zu deren Ordnung und Bewältigung rufen geradezu nach einer solchen
Theorie.

Noch halten sich Philosophie und Theologie in dieser Debatte auffallend zurück und überlassen das Feld den philosophierenden Naturwissenschaftlern, während Soziologie, Ökonomie, Informatik und andere
Fächer der Sozial- und Geisteswissenschaften gleichsam mit fliegenden Fahnen in das Lager der naturwissenschaftlichen Theoriebildung überlaufen. Daß sich bei solchen Grenzverschiebungen zusammen mit
den Methoden auch die Inhalte der Fächer ändern werden, ist unzweifelhaft. Es ist, als würde unter all den kulturellen Überschreibungen, mit denen der Mensch das Buch der Natur seit Jahrtausenden
bedeckt hat · also in einem Prozeß, den wir kulturellen Wandel nennen ·, die Urschrift des Lebens wieder sichtbar. Sie wird, richtig verstanden, zu radikal neuen Denkformen zwingen, zu veränderten
Welt- und Menschenbildern, zur Überprüfung überkommener Ethik-Konzepte, kurz zur Anerkennung neuer Wirklichkeiten.

Neben der Frage nach dem Aufbruch und der Konjunktur der Neurowissenschaften und der Genbiologie gibt es ungezählte weitere Beispiele für die Erschließung wissenschaftlichen Neulands, die zusammen
erst das Bild eines neuen Wissenschafts-Kontinents entwerfen. Nur wenige Beispiele werden hier skizziert, die großen Bereiche der Informationswissenschaften, unter deren Einfluß die Welt erstmals als
ganze erfahren wird, und der Nanotechnologie, die erst am Anfang ihrer Entwicklung steht, bleiben hier ausgespart.

Die Geologie

Ausgerechnet die Wissenschaften von der festen Erde, die Geowissenschaften, haben uns in jüngster Zeit gelehrt, daß die Erde, auf der wir und von der wir leben, nicht fest, sondern ungemein
beweglich und schwankend ist. Diese Wissenschaften nämlich haben in eben den dreißig Jahren, in denen die biologischen und die medizinischen Wissenschaften ihre Datengebirge aufgetürmt haben, durch
die uns inzwischen Wege und Stege verlorengegangen sind, begonnen, eine neue Erddimension zu erschließen. Nach der Erforschung der Lage an der Erdoberfläche, auf der heute kein „weißer Fleck" mehr
existiert, nach der Erforschung von Atmosphäre, Stratosphäre und Weltraum, nach der Erforschung der ozeanischen Böden wird nun das Erdinnere in einer Tiefe von etwa 100 km erschlossen. Zum ersten Mal
sind die Ozeanböden geologisch vollständig kartiert, so daß wir unsere Lage einschätzen, Katastrophen und Veränderungen besser vorhersagen können. Die durch Tiefseebohrungen und das Kontinentale
Tiefbohrprogramm bestätigte Theorie der Platten-Tektonik besagt, daß die Erdoberfläche, Kontinente ebenso wie ozeanische Böden, aus einem Mosaik von Platten besteht. „Sie sind rund 100 km dick,
können aber laterale Dimensionen von Tausenden von Kilometern haben. Normalerweise bestehen sie aus einer um 6 Kilometer dicken ozeanischen und einer bis über 40 Kilometer mächtigen kontinentalen
Kruste und dem obersten Teil des Erdmantels. Diese sogenannten Lithosphärenplatten driften auf einem plastischen Untergrund, der Asthenosphäre, relativ zueinander in verschiedene Richtungen." (Eugen
Seibold und Jörn Thiede in „Die Geschichte der Ozeane nach Tiefseebohrungen", Mainz 1997)

Aus dem Erdinneren aber steigt ständig glutflüssiges Material auf und verändert die Kruste. Die Grenzlinie zwischen Kruste und Erdmantel zu erbohren und damit experimentell zu beweisen, was
theoretisch festzustehen scheint, ist der Wunschtraum der Meeresgeologen heute. Wo die über die Erde (oft relativ schnell, das heißt mehrere Zentimeter pro Jahr) wandernden Platten
aufeinandertreffen, wo etwa wie am San Andreas-Graben in Kalifornien · er zieht sich wie eine gewaltige Narbe durch das Land und mitten durch San Francisco · die nach Nordwesten wandernde Pazifische
Platte unter die in andere Richtung wandernde nordamerikanische Kontinentalplatte gedrückt wird, verkaufen geschäftstüchtige Makler in den USA schon einmal Grundstücke in der Wüste Nevada. Nach dem
großen Beben, das alle erwarten und von dem niemand spricht, könnte nämlich Kalifornien vom Festland abgesprengt sein, könnte die Küstenlinie im Südwesten der USA entlang der Wüste Nevada verlaufen.

Wir nennen derartige erdgeschichtliche Vorgänge Katastrophen, doch die Natur kennt keine Katastrophen, ihre Bewegungen sind katastrophal nur für das Leben. Die Immobilienhändler in Kalifornien also
handeln in Wahrheit mit einer sehr „beweglichen" Ware und die Wissenschaften von der festen Erde sind Wissenschaften von der dynamischen Erde, aus Erdgeschichts-Wissenschaften zu prädiktiven
Wissenschaften geworden, die fieberhaft an der Verbesserung ihrer Katastrophenvorhersage arbeiten. Mit den Summen, welche die internationalen Bohrprogramme der Geologen verschlingen, können nur die
Weltraumforschung, die Hochenergiephysik und das Human-Genom-Programm konkurrieren.

Komplexitäts-Forschung

Wir stehen vor der fast unlösbaren Aufgabe, in allen Natur- und Lebensbereichen komplexe Systeme zu erforschen. Nicht nur hochkomplizierte Systeme, sondern komplexe Systeme, zum Beispiel
vielzellige Organismen, bei denen das Ganze jeweils mehr ist als die Summe der Einzelteile. Das bedeutet, daß bei solchen Systemen niemals vom Teilsystem auf die Funktionsweise des Gesamtsystems
geschlossen werden kann, sondern daß das Ganze als Ganzes erforscht werden muß. Dies ist bis heute die Rechtfertigung für Tierversuche, weil alle Ersatzmethoden den komplexen Organismus in seiner
Funktion noch immer nicht abzubilden oder zu simulieren verstehen. „Im Verlauf der Evolution hat die Komplexität biologischer Systeme von selbstreplizierenden Molekülen über Prokaryoten, Protisten
(einzelligen Eukaryoten) bis hin zu mehrzelligen Organismen und Superorganismen (in Form geschlossener Sozialverbände) ständig zugenommen.

Vielfach gingen dabei Systeme höherer Komplexität aus dem Zusammenschluß niederorganisierter Systeme hervor. In jedem Fall war jedoch mit dieser Zunahme an Komplexität eine Leistungssteigerung
verbunden, die sich zum großen Teil aus der kooperativen Arbeitsteilung zwischen zunehmend spezialisierten Nukleinsäuren und Proteinen, Zellen und Zellverbänden, Spermium und Ei oder Soma und
Keimbahn ergab." (Rüdiger Wehner: „Theoretische Biologie. Zukunftsperspektiven der modernen Biologie", in: Neue Zürcher Zeitung vom 25. 6. 1997)

Das komplexeste und damit auch das leistungsfähigste System, das wir kennen, ist das menschliche Gehirn. In ihm interagieren ständig zwischen 10 und 100 Milliarden Nervenzellen. 10300
Funktionszustände sollen in jedem Augenblick, der mit 2/1000 Sekunden berechnet wird, möglich sein. Da wir aber nur 1082 Teilchen im Weltraum kennen, bedeutet die Zahl 10300 de facto die Zahl
„Unendlich". Dieses komplexe Gebilde Gehirn haben wir nicht nur zu erschließen begonnen, wir bilden die Nervenbahnen des Gehirns auch ab in den Kommunikationsnetzen der elektronischen
Weltverbindungen, anders ausgedrückt: wir bilden unsere elektronischen Welten nach den Schaltplänen des menschlichen Gehirns. Mit großen Maschinen, zum Beispiel den PET-Geräten (Positronen-Emmissions-
Tomographie), lesen wir zwar nicht die Inhalte, aber doch die Struktur von Gedanken, können auf dem Computer-Bildschirm sichtbar machen, ob die diagnostizierte Person stumm zählt oder ebenso stumm
denkend Sätze bildet.

Und trotzdem · vielleicht sogar deswegen · stehen wir am Rande eines Ozeans des Nichtwissens, auf den wir uns ähnlich zaghaft und neugierig hinausbegeben wie die Eroberer und die Entdecker des
16. Jahrhunderts auf die ihnen unbekannten Meere.

Extraterrestrik

Für das Jahr 2019 hat die NASA, sicher auch um ihr Budget zu sichern, aber nicht nur deswegen, die erste bemannte Mars-Expedition angekündigt. Eine solche Expedition · mit einer Reisezeit von etwa
18 Monaten · ist eine qualitativ andere Reise als eine Mondfahrt, auch wenn sie durch die Entdeckung von Wasserreserven in Form von Eis erleichtert werden könnte. Bei einer Marsfahrt verlassen die
Raumschiffe das Magnetfeld der Erde und sind der tödlichen Strahlung des Weltraums direkt ausgesetzt. Der Landung des Menschen auf dem Mars werden · so sagen Aachener Ingenieure voraus · innerhalb
von etwa 50 Jahren (und das heißt noch in der Lebenszeit unserer Enkelkinder) ortsfeste Raumstationen auf Mond und Mars folgen, das Zeitalter der Besiedelung des Weltraums durch den Menschen beginnt.

Wegen der langen Transportwege werden die Baumaterialien für ortsfeste Stationen auf dem Mars nicht transportiert werden können, sie müssen dem Marsboden selbst entnommen werden, und schon gibt es
Szenarien über den Bau von Siedlungen, über Energieversorgung, Sozialsysteme, Mobilität und Kommunikation auf dem Mars. Mit diesem ersten Besiedelungsschritt aber beginnt das extraterrestrische
Zeitalter der Menschheit und das menschliche Denken steht vor Abenteuern, für die es keine „irdischen" Grenzen mehr gibt. Der Mensch verläßt den Raum, in dem Leben entstanden ist, der in mehr als
einem Sinne seine „Heimat" ist; er versucht, die Evolution gleichsam von hinten zu überholen, den sechsten Schöpfungstag, seinen Genesis-Tag, mit dem ersten zu konfrontieren, als erst der Himmel und
die Erde geschaffen wurden. Wir stehen vor völlig unbekannten Herausforderungen an die Technik, die Ökonomie, an das soziale und das kulturelle Denken, und die Universität hat die Aufgabe, all dem
„vorauszudenken". Heimweh aber wird die extraterrestrisch lebenden Menschen nicht nach einer Region, einer Stadt, einer Sprache erfassen, sondern nach dem fernen „blauen Planeten" am Rande der
Galaxie.

Drei Perspektiven

Drei Perspektiven eröffnen sich somit aus der Wissenschaft in das neue Jahrhundert:

1. Wir sind endlich den Ursachen des Lebens auf der Spur, seiner Entwicklung, der Entwicklungsgeschwindigkeit, seinen Defekten, seinen für das Individuum oft verhängnisvollen Veränderungen. Zugleich
also mit dem Verlassen des tradierten „Lebensraumes" wird Leben selbst Ziel der Forschung. Ursachenforschung lautet die erste Perspektive.

2. Wir sehen uns im Inneren wie im Äußeren einer komplexen (im Unendlichen sich verlierenden) Welt gegenüber, die immer mehr ist als die Summe ihrer Teile, die in allen natürlichen und in allen vom
Menschen geschaffenen Systemen (in deren Wechselwirkung) als ganze erforscht werden muß. Daß wir dabei die Welt als Ganzes nicht mehr denken können, weil schon die Erforschung der Teile unsere
Fähigkeiten übersteigt, ist eines jener Paradoxe, denen sich moderne Wissenschaft ausgesetzt sieht. Eine solche methodische Neuorientierung aber meint Globalisierung in der Wissenschaft.
Komplexitätsforschung ist die zweite Perspektive.

3. Damit erwacht ein Begriff zum Leben, der seit dem 18. Jahrhundert in einer idealistischen Nische geschlummert hat, den wir jetzt erst, mit neuen Kommunikations-Techniken und -Möglichkeiten, mit
extraterrestrischem Siedlungs-Denken konkret erfahren können und erfahren werden: die Menschheit. Die Menschheit, verstanden als die Gesamtheit einer Lebensform, deren gemeinsame Herkunft,
deren Verbindung, deren Entwicklung wir erforschen und erschließen.

Historische Anthropologie

An dieser Stelle kommen die Geistes- und die Kulturwissenschaften ins Spiel, da die Frage nach der Menschheit sogleich die nach dem kulturellen und dem sozialen Wandel aufwirft, der mit evolutivem
Denken allein nicht zu fassen ist. Und das Verhältnis von natürlicher Evolution und kulturellem Wandel ist noch immer · wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts · ideologieanfällig. Offenkundig · und das
ist eine Geschichte, die heute schon erzählt werden kann · hat jede Epoche nur eine bestimmte Anzahl von Themen und Problemen, auf die hin sie bezogen ist, derer sie sich mit Aussicht auf Lösung in
ihren Diskursen annehmen kann.

Unsere Zeit scheint in allen Wissenschaftszweigen fasziniert von jenen „Körperwelten", die in der gleichnamigen Mannheimer Ausstellung 1997/98 Triumphe feierte. Mehr als 700.000 Besucher hat diese
Ausstellung bis zum 1. März 1998 angezogen. (Unter dem Titel „Mythos Mensch" ist sie derzeit in den Kellerräumen des Museums Schottstift in Wien, Freyung, zu sehen · d. Red.) Der Erfinder jenes
Plastinationsverfahrens, das die Anatomen der ganzen Welt begeistert, weil es menschliche und tierische Präparate in jedem Zustand plastinieren, also so mit Kunststoff anfüllen kann, daß sie haltbar
sind und in jeder Lage geschnitten werden können, schreibt sich die Erfindung einer neuen Kunstform zu und verlegt den Anatomiekeller · ohne Formalingestank · ins Museum.

Das Ende des 20. Jahrhunderts scheint weltweit von diesen Körperwelten fasziniert zu sein. Die Hirnforschung, die Neurowissenschaften, die Genforschung, aber auch die Informationswissenschaften, die
wie selbstverständlich von „neuronalen Netzen" sprechen, als seien Urbild und Abbild dasselbe, und von einer Mensch-Maschine-Synthese träumen, vollziehen den einen Schritt der Konzentration: den auf
die Entdeckung des menschlichen Körpers und seiner Funktionsweisen. So gehören die PET-Maschinen und die Historische Anthropologie zum gleichen Ensemble der Körperentdeckung, weil die Historische
Anthropologie nicht mehr nach menschlichen Universalien fragt, sondern von der These ausgeht, daß der Mensch, in seiner spezifischen, von anderem Leben unterschiedenen Existenz, nur in der jeweiligen
Erscheinungsweise eines historisch faßbaren und zu beschreibenden Zustandes zu erkennen ist. Geschlechtergeschichte und Körpergeschichte sind daher die großen Themen der Historischen Anthropologie.

Das Ende des

18. Jahrhunderts

Daß sich damit das Ende des 18. und das Ende des 20. Jahrhunderts (nicht nur in der Faszination durch Körperwelten und Anatomie) zusammenschließen, ist einsichtig. Goethe hat im sechsten Buch
seines Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre" als eine wesentliche Entwicklungsstufe seiner Titelfigur noch den engen Zusammenhang von pietistischer Religion und medizinisch-diätetischer Praxis seiner
Zeit gekennzeichnet. Die pietistischen Ärzte, die den achtzehnjährigen Goethe nach seiner Rückkehr aus Leipzig geheilt haben, waren schließlich Ärzte des Leibes und der Seele. Goethe hat im „Wilhelm
Meister" den von den Zeitgenossen enthusiastisch geglaubten und umrätselten Zusammenhang von Sünde und Krankheit für Wilhelm Meisters Entwicklung diskutiert. Die Erzählerin dieser das sechste Buch
von „Wilhelm Meisters Lehrjahren" umfassenden „Bekenntnisse einer schönen Seele" wird nicht von der Ästhetik zur Ethik geführt, nicht von der Schönheit zur Gesundheit, sondern aus der Meditation
eigener körperlicher Leiden zum Genuß der Schönheiten der Natur und zu einer fast romantischen Auffassung von Kunst, · dem einzigen Instrument des Menschen zur Rückkehr in das Paradies.

Diese Erzählerin nämlich, die sich in langen Übungen daran gewöhnt hat, ihre Leiden zu mißachten, ihren Körper und seine Funktionen in strenger Selbstbeobachtung von ihrem Ich, als dem beobachtenden
Organ, zu scheiden, wird von dem pietistischen Arzt angeleitet, ihre „Aufmerksamkeit von der Kenntnis des menschlichen Körpers und der Spezereien auf die übrigen nachbarlichen Gegenstände der
Schöpfung" zu richten, „und führte mich wie im Paradiese umher, und nur zuletzt . . . ließ er mich den in der Abendkühle im Garten wandelnden Schöpfer aus der Entfernung ahnen".

Schon Goethes Zeitgenossen haben sich verwundert die Augen gerieben, daß ein Dichter, der soeben erst die „Erotica Romana" veröffentlicht hatte, die als obszön und abgeschmackt beurteilt wurden,im
„Wilhelm Meister" (im gleichen Jahr) einen so tief anrührenden religiösen Text publizierte. Die Erklärung dafür ist so einfach wie kompliziert: Beide Texte nämlich, die 1795 in den „Horen" erstmals
gedruckten „Römischen Elegien" und das 1795 erstmals erschienene sechste Buch von „Wilhelm Meisters Lehrjahren" gehören zu jener Entdeckung der Leiblichkeit, die zu Goethes Zeiten nicht nur durch
Blick und Sehen, sondern jetzt auch durch Berührung und Fühlen gekennzeichnet ist:

„Aber die Nächte hindurch hält Amor mich anders beschäftigt,

Werd ich auch halb nur gelehrt, bin ich doch doppelt vergnügt.

Und belehr ich mich nicht? wenn ich des lieblichen Busens

Formen spähe, die Hand leite die Hüften hinab.

Dann versteh ich erst recht den Marmor, ich denk' und vergleiche,

Sehe mitfühlendem Aug', fühle mit sehender Hand."

(Text nach dem Erstdruck der Fünften Römischen Elegie)

Sander Gilman hat erläutert, daß am Ende des 18. Jahrhunderts die Berührung, das Taktile jener Sinn des Menschen wird, der eng verschwistert ist mit dem nicht rationalen, dem direkten,
unreflektierten, physisch nahen Be-greifen der Welt.

Daß sich dabei Sehen und Fühlen zueinander verhalten wie weibliches und männliches Begreifen der Welt, ist nur eine Nuance aus dem Abenteuer literarischer Entdeckung menschlicher Körperwelten.

Der Historismus der

Evolutionstheorie

Ob die These von Stephen Jay Gould richtig ist, wonach die Evolution in den letzten 500 Millionen Jahren kein neues Prinzip mehr hervorgebracht habe, sondern nur noch Verzweigungen der
Artenvielfalt, ist schwerlich beweisbar, aber des Nachdenkens wert. „Full House", so der Titel von Gould's Bestseller, bedeutet ja, daß die Lebensbühne gefüllt, daß sogar die biologische Evolution an
ein Ende gekommen ist. Immerhin scheint ein Ergebnis der erzählenden Evolutionsforschung deutlich zu sein: Die Menschen sind vermutlich die leistungsfähigste Spezies auf Erden, aber auch die
zerbrechlichste. Und die Überlebenskunst der Halobakterien, die lange vor der Entwicklung von Pflanzen auf der Erde existierten und noch immer existieren, die Netzbaukunst der Spinne, das Radarsystem
der Fledermäuse, die natürliche Statik der Weizenähre etc. sind Rätsel und Entwicklungen, die menschlichen Fähigkeiten weit überlegen sind.

Was also heute infragesteht, ist das „anthropische Prinzip", die These, daß die Schöpfung ganz auf den Menschen hin orientiert und seiner Herrschaft unterworfen ist. Wenn der Mensch aber nur eine und
vielleicht sogar eine sehr zerbrechliche und vergängliche Art unter Millionen anderer Lebensformen der Erde ist, dann könnte es sein, daß wir das biblische Gebot des „dominium terrae", der
menschlichen Herrschaft über die Erde, falsch gelesen haben. Die wenigen Arten nämlich, mit denen und über die wir herrschen, sind nur ein schmaler Ausschnitt aus der Geschichte der Evolution. Selbst
ein möglicher Holocaust des Menschen an seinesgleichen wird die Kakerlaken kaum bekümmern.

Es könnte also sein, lautet die vom Philosophen Odo Marquard vorgestellte These, daß der Evolutionstheorie ihr Historismus, wonach jede Epoche um ihrer selbst willen und nicht um der Folgeepochen
willen existiert, erst noch bevorsteht: „Vielleicht gibt es schon irgendwo einen evolutionsbiologischen Ranke mit dem Satz: ,jede Art ist unmittelbar zu Gott'; jedenfalls die Evolutionstheorie hat
ihren Historismus noch vor sich . . ." Unter allen Kränkungen, die der Mensch im Laufe seiner Erkenntnisgeschichte zu ertragen hatte, wird dies die bitterste sein, doch fürchte ich, daß sie uns
bevorsteht.

Wolfgang Frühwald ist Professor am Institut für Deutsche Philologie an der Universität München und war bis 1998 Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Vorliegender Text ist eine
gekürzte Fassung eines Referats, das Prof. Frühwald heuer bei dem vom ORF veranstalteten Symposion „Zukunft der Forschung" im RadioKulturhaus gehalten hat.

Freitag, 19. März 1999

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