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Herausragende Erkenntnisse und Leistungen im Wissenschaftsjahr 1998 · Ein Rückblick

Von Sternen und Würmern

Von Peter Markl

Immer wenn ein Jahr vorbei ist, beginnt das große Bilanzmachen · auch in den Wissenschaftsredaktionen. Dort ist das vielleicht noch schwieriger als anderswo, weil die
verschiedenen Wissensgebiete so weit voneinander entfernt sind, daß sich Errungenschaften auf einem Gebiet kaum mehr ernsthaft mit dem vergleichen lassen, was an Außerordentlichem auf einem anderen
Gebiet gelang. Wie sollte man etwa bewerten, ob es eine größere Leistung war, die spukhaften Fernwirkungen der Quantenmechanik zur Teleportation auszunützen, was letztes Jahr einem Innsbrucker
Physikerteam gelang, oder die Leistung jener Teams von Biologen, welche in den letzten beiden Jahren viele der molekularen Details der inneren Uhr aller Zellen herausfanden und erste Hinweise darauf
entdeckten, wie dieser Zeitgeber mit dem Rhythmus der Sonne synchronisiert wird?

Natürlich bleiben als zusätzlicher Bewertungsmaßstab immer noch potentielle Anwendungen, aber selbst auf dem Gebiet der Medizin ist heute der Einsatz vieler neuer Ergebnisse der Wissenschaft
umstritten, obwohl auch außerordentliche therapeutische Möglichkeiten dadurch in Reichweite kommen. So ist es zum Beispiel letztes Jahr erstmals gelungen, im Reagenzglas embryonale Stammzellen zu
spezialisierten Zellen weiterzuentwickeln. Das eröffnet für die Transplantationsmedizin neue Möglichkeiten, weil aus körpereigenen embryonalen Zellen derart gezüchtete Gewebe nicht vom Immunsystem
abgestoßen werden. Man denkt zum Beispiel daran, geschädigte Herzmuskelzellen durch neu gezüchtete Muskelzellen aus dem Reagenzglas zu ersetzen · bereits jetzt sind ähnliche Versuche an Mäusen
gelungen.

Solche Neuentwicklungen machen den Einsatz embryonaler Zellinien in Forschung und Therapie noch interessanter · und das wirft ethische Fragen auf, die man in Österreich, den USA, Deutschland,
Frankreich, England, Norwegen und Dänemark zur Zeit durch verschieden weitgehende Regelungen und Verbote zu beantworten versucht.

Die führende amerikanische Wissenschaftszeitschrift „Science" ist bei ihrem Jahresrückblick auf 1998 solchen Fragen ausgewichen, indem sie eine irritierende Entdeckung aus der reinen
Grundlagenforschung zum überragenden Ereignis des Jahres erklärte: Bei einer kritischen Sichtung der heute vorliegenden Daten über Dutzende von Supernovae sind zwei Teams von Astrophysikern zu ihrer
eigenen Überraschung zur Ansicht gekommen, daß sich die Fluchtgeschwindigkeit der entferntesten Sterne nicht · wie man angenommen hatte · verlangsamt. Im Gegenteil: Die Fluchtgeschwindigkeit scheint
immer größer zu sein, je weiter die Sterne entfernt sind. Wenn das stimmt, dann enthält das Universum zuwenig Materie, um seine weitere Expansion zum Stillstand bringen zu können. Das Universum dehnt
sich dann für immer weiter aus.

Albert Einstein hätte die neue Entdeckung sicher begrüßt: Er hatte bereits 1917 an einem Modell des Kosmos gebastelt, in dem er eine „Anti-Gravitationskraft" vorsah, welche auf große Distanzen die
anziehenden Gravitationskräfte überwiegen sollte. In seinen Gleichungen kam diese Kraft in Form der sogenannten „kosmologischen Konstante" vor · eine Konstante, die er eingefügt hatte, weil er
überzeugt war, daß er in einem statischen Universum lebte, während in seinem Modell die Gravitationskräfte zu einem Kollaps des Universums geführt hätten.

Als Edwin Hubble dann 1929 die Expansion des Weltalls auch experimentell nachweisen konnte, gab Einstein seine kosmologische Konstante auf. Später hat er sie als den größten Fehler bezeichnet, den er
je gemacht hatte. Jetzt, so scheint es, ist sie wieder aktuell · zumindestens dann, wenn man nicht eine andere Erklärung für die unerwarteten Fluchtgeschwindigkeiten findet, wonach die Kosmologen zur
Zeit hektisch suchen. Irgend etwas stimmt da nicht: Entweder die Deutung der Meßergebnisse oder etwas in den grundlegenden Theorien der Materie · und das sind beides erregende Möglichkeiten.

Meilenstein der Biologie

Trotz der Faszination, die von Kosmologie ausgeht, kann man der Ansicht sein, daß sowohl im Hinblick auf die Bedeutung für die Grundlagenforschung als auch für wahrhaft unabsehbare Anwendungen ein
anderes Forschungsergebnis der letzten Jahre wahrscheinlich ungleich bedeutender ist: Die (fast) vollständige Aufklärung der Aufeinanderfolge der 97 Millionen Basenbausteine im Erbgut eines nur 1 mm
langen und vollständig durchsichtigen Fadenwurms mit einem wahrhaft unaussprechlichen Namen: Caenorhabditis elegans. Dieser Wurm hat bereits jetzt Biologiegeschichte gemacht und es gibt
niemanden, der bezweifelt, daß das, was man bisher mit seiner Hilfe herausgefunden hat, erst der Anfang ist.

Es war Sydney Brenner, einer der Großen der Molekularbiologie, der Anfang der sechziger Jahre in Cambridge auf die Idee kam, sich diesen Fadenwurm genau anzusehen. „Wir wollen", so heißt es in
einem Forschungsantrag des Laboratoriums für Molekularbiologie des Medical Research Council in Cambridge, „das Problem der zellulären Entwicklung angehen, indem wir den allereinfachsten
differenzierten Organismus auswählen und ihn mit den heutigen Mitteln der Mikroben-Genetik untersuchen. Wir suchten daher nach einem vielzelligen Organismus mit einem kurzen Lebenszyklus, der leicht
zu züchten und so klein ist, daß man ihn in großer Zahl handhaben kann · wie einen Mikroorganismus. Er sollte relativ wenige Zellen haben, so daß man eine erschöpfende Studie der Zellstammbäume und
Entwicklungsmuster machen kann, und er sollte einer genetischen Analyse zugänglich sein. Wir glauben in Form eines kleinen Nematoden, C. elegans, einen guten Kandidaten zu haben. Wir schlagen vor,
damit anzufangen, jede Zelle in dem Wurm zu identifizieren und die Zellstammbäume während der Entwicklung zu verfolgen. Wir werden auch studieren, wie konstant die Entwicklungsvorgänge sind und durch
das Studium von Mutanten untersuchen, wie die Entwicklung genetisch gesteuert wird."

„Damals haben die Leute gesagt, daß wir verrückt sind", erinnert sich Brenner, „Jim Watson hat gesagt, daß er mir dafür keinen Penny geben würde." Das alles käme zu früh. Der englische
Medical Research Council aber hat das Projekt finanziert und Sidney Brenner fand enthusiastische Mitarbeiter, weil sein Modellorganismus ein geradezu ideales Labormodell eines Vielzellers schien:
Sein grundlegender Körperbau gleicht im wesentlichen dem höherer Tiere · man findet Haut, Muskelzellen, Eingeweide und ein rudimentäres Nervensystem.

Es war dann vor allem John Sulston, ein zum Biologen mutierter organischer Chemiker, der mit einem relativ kleinen Team bereits 1983 den ersten Teil des Forschungsprogramms zum Abschluß bringen
konnte: Man hatte den Wurm in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien salamiähnlich in unzählige Scheibchen zerschnitten und unter dem Mikroskop verfolgt, wie sich aus einer Eizelle der fertige
Organismus, der aus etwa 1.000 Zellen besteht, entwickelt. (Genau genommen sind es bei der erwachsenen Zwitterform des Wurms · eine Art Weibchen, das einige wenige Spermatozoen produziert und sich
mit ihnen selbst befruchten und so eine genaue genetische Kopie seiner selbst herstellen kann · 1.031 Körperzellen und etwa 1.000 Keimzellen. Aus den befruchteten Keimzellen entwickelt sich während
einer nur drei Tage dauernden Individualentwicklung und einem fast vollständig invarianten Entwicklungsablauf die nächste Generation der Fadenwürmer, die in den zwei Wochen ihres erwachsenen Lebens
ihrerseits wieder etwa 350 Nachkommen hervorbringen werden.)

C. elegans ist der erste mehrzellige Organismus, dessen Entwicklung Zelle für Zelle verfolgt werden konnte. Was dabei sichtbar wurde, hat die Vorstellungen über gesetzmäßige Abläufe während der
Entwicklung von Vielzellern revolutioniert. So wurde zum ersten Mal die Bedeutung des vorprogrammierten Zelltods · heute auch im Zusammenhang mit der Entstehung von Krebs ein heißes Thema · sichtbar.

Es war klar, daß die genetische Steuerung des Ablaufs der Individualentwicklung erst dann aufgeklärt sein würde, wenn man alle dabei zusammenwirkenden Gene kennt und herausgefunden hat, in welcher
Reihenfolge die einzelnen Gene während dieses Prozesses angeschaltet oder abgeschaltet werden. Man hat daher parallel zur Aufklärung des zellulären Ablaufs der Entwicklung bereits begonnen, das Genom
zu vermessen, indem man eine „physikalische" Karte ausarbeitete, aus der ersichtlich ist, in welchen Regionen auf den sechs homologenen Paaren von Chromosomen die etwa 19.000 Gene des Wurms sitzen.
Zur Zeit kennt man nur die Funktion von etwa 7.000 dieser Gene. Eine vollständige Aufklärung der Entwicklungsprozesse machte es aber notwendig, auch die Funktion und Basensequenz der restlichen
12.000 Gene aufzuklären.

Effektive Sequenziermethode

Es war wiederum gegen nicht zu überhörende Gegenstimmen, als man am Beginn der neunziger Jahre daranging, die Basensequenz von C. elegans vollständig aufzuklären. Es besteht heute kein Zweifel
daran, daß es die dabei entwickelten Methoden waren, welche wesentlich dazu beitrugen, daß man es wagte, ein so gigantisches Projekt wie das Human Genom Project, die vollständige Aufklärung der
Basensequenz der drei Milliarden Basenpaare eines Menschen, überhaupt in Angriff zu nehmen. Es waren dann vor allem zwei Gruppen · die Gruppe um Robert Waterston an der Washington Universität in St.
Louis und jene um John Sulston, heute am Sanger Centrum in Hinxton, welche die Sequenziermethoden immer effektiver machten. 1993 hatte man die Methoden soweit automatisiert und verbilligt, daß man
etwa eine Million Basenpaare pro Jahr sequenzieren konnte, was immer noch an die 100 Jahre gedauert hätte. Heute, nach sieben Jahren, in denen die perfektionierten Sequenziermaschinen Tag und Nacht
liefen und Computerprogrammierer dabei waren, Programme zu schreiben, mit denen man die anfallenden Daten handhaben und auswerten kann, ist das C. elegans Genom entschlüsselt.

Was am 11. Dezember in der „Science" veröffentlicht wurde, ist · so Francis Collins, der Leiter des Human Genom Projects · „ein Meilenstein in der Biologie, eine Plattform im Meer noch
unbekannten biologischen Wissens, das man von dieser Plattform aus erkunden wird".

Obwohl C. elegans und der Mensch durch mindestens 600 Millionen Jahre Evolution getrennt sind, gibt es viele gemeinsame Entwicklungsprinzipien und Bausteine, welche in der Evolution konserviert
wurden, weil sie sich bewährt haben. Sie sind es, welche die Basis der Einheit aller Lebensprozesse sind. So sind zum Beispiel die Gene, welche die Information zum Bau der Enzyme enthalten, mit denen
DNA kopiert oder Proteine synthetisiert wurden, in dem Einzeller Hefe fast noch dieselben wie in C. elegans oder sogar in höheren Spezien.

Wer in Hinkunft ein Bruchstück eines Gens identifiziert hat und nach seiner Funktion sucht, kann damit beginnen, mit Computerprogrammen im Genom von C. elegans nach einer ähnlichen Sequenz zu suchen.
Falls er dort fündig wird, hat er einen Hinweis darauf, zu welchem Gen der Genabschnitt gehören könnte und · bei einigem Glück · auch welche Funktion das Gen in dem Wurm hat. Das funktioniert trotz
des immensen evolutionären Abstands selbst zwischen Mensch und C. elegans verblüffend oft: Von den 18.891 geprüften Wurm-Genen fanden sich 36 Prozent verwandte Gene unter 5.000 damit verglichenen
menschlichen Genen.

Folgen auch für die Medizin

Das an C. elegans Erkundete ist nicht nur für die biologische Grundlagenforschung, sondern auch für die medizinische Forschung von Bedeutung. Dafür nur ein Beispiel: Weil man Alterungsvorgänge
verlangsamende Mutationen schon bei Taufliegen gefunden hatte, war es keine Überraschung, als Cynthia Kenyon vor fünf Jahren Exemplare von C. elegans entdeckte, die anstelle der üblichen Lebensdauer
von zwei Wochen zwei weitere Wochen überlebten. Diese Würmer hatten eine Mutation in einem einzigen Gen: daf-2. Als Dr. Kenyon in einer Gen-Daten-Bank nachsah, entdeckte sie, daß dieses Gen dem
Gen für das Rezeptorprotein des insulin-ähnlichen Wachstumsfaktors 1 (IGF-1) der Säugetiere sehr ähnlich ist. Und das brachte Lee Sweeney von der Universität von Pennsylvania auf die Idee, daß auch
der insulinähnliche Wachstumsfaktor IGF-1, der das Wachstum von Muskelzellen stimuliert, die Altersvorgänge von Muskeln verlangsamen könnte.

In normalen Muskelzellen wird das Gen zur Produktion von IGF-1 jedoch nur angeschaltet, wenn Muskelzellen geschädigt worden waren. Es ging also darum, in nicht geschädigten Zellen das IGF-1-Gen
anzuschalten, was Dr. Sweeney mit Hilfe eines gentechnisch derart manipulierten Virus gelang. Diese Viren wurden in die Beinmuskeln von Mäusen injiziert · und sie funktionierten: Nach einigen Monaten
waren diese Muskeln 15 Prozent stärker geworden als vorher. Und die Wirkung hielt an, diese Muskeln schienen nicht zu altern.

Das alles ist sicher kein Rezept zur Verlängerung menschlichen Lebens. Das kann es · wie es heute scheint · nie geben. Aber man kann jetzt mit einigen solideren Anhaltspunkten in der Realität davon
träumen, daß eine solche Gentherapie einmal Menschen mit tödlichem Muskelschwund helfen könnte.

Literatur: „Science" vom 11. Dezember 1998.

Freitag, 15. Jänner 1999

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