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Loriots „Steinlaus" existiert tatsächlich · u. a. am Wiener Stephansdom

Vom Fernsehstar zum Biofilm

Von Harald Zaun

Wohl selten hat eine aus der Feder eines Humoristen entsprungene Zeichentrickfigur Jung und Alt in gleichem Maße erheitert wie die von Vicco von Bülow alias Loriot zum Leben erweckte
Steinlaus. Was der findige Spaßvogel vor 22 Jahren in der Maske von Professor Grzimek mit erstaunlicher Imitationsgabe via Mikroskop entblößte, entzückte damals die ganze Fernsehnation. Auf den
Bildschirmen gab sich eine possierliche und kurzsichtig wirkende Comiclaus beim Verspeisen von einigen Krümeln Stein die Ehre. Und zum ersten Mal zeigte ein wirklich „lausiger" angehender Fernsehstar
sein wahres Gesicht, ohne dabei sein Gesicht zu verlieren. Das sechsfüßige Wesen mit den zwei Fühlern und hasenartigen Zähnen machte eine recht gute Figur · trotz seiner Volleibigkeit.

Nicht minder ansehnlich präsentiert sich nunmehr der lebende Zwillingsbruder des TV-Originals. Daß die „echte" Steinlaus unter dem Elektronenmikroskop ihrem telegenen Bruder zur Ehre gereicht, ist
dem Oldenburger Geomikrobiologen Wolfgang Krumbein zu verdanken · dem wahren Entdecker der Steinlaus: „Das erste Mal habe ich die Steinlaus auf der Balustrade des Stephansdoms in Wien gesehen.
Dort flitzten auf einmal 30 bis 40 kleine rote Tierchen über den Algenfilm."

Strenggenommen zählt die loriotumwobene Steinlaus zur Familie der Milben, von denen bislang 30.000 verschiedene Arten bekannt sind. Daß derlei Parasiten in nahezu allen Lebensräumen Nischen besetzen,
stellt der bekannteste Artgenosse, die Hausmilbe, des öfteren unter Beweis. Ihre unliebsame Gegenwart kommentieren Allergiker meist mit Schnupfen oder Husten. Die „Krumbeinsche Lausmilbe" hingegen
ist für Mensch und Tier völlig ungefährlich. Im Unterschied zur unersättlichen Fernsehlaus verspürt sie noch nicht einmal Appetit auf Kiesel, Granit oder Quarz. Auf ihrem Speiseplan stehen statt
dessen Mikroorganismen à la Pilze und Algen. Da diese sich infolge der Zunahme organischer Luftschadstoffe gerne auf Steinen ansiedeln, verdichtet sich die Mikroflora auf Gebäuden immer schneller.
Der hierbei aufblühende Biofilm bietet Steinläusen optimale Lebensbedingungen und reichhaltige Nahrung.

Doch was für Parasiten Delikatessen sind, ist für Denkmäler höchst delikat. Krumbein hierzu: „Dem mikrobiologischen Geschehen wurde bei der Denkmalzerstörung bislang kaum Beachtung geschenkt. Im
Vordergrund standen meist profane Ursachen wie Taubenkot oder saurer Regen. Jetzt wissen wir, daß auf Bauwerksoberflächen nicht nur zerstörerische Mikroben aktiv sind, sondern auch Steinläuse."
Gemessen am Gesamtschaden, den Bakterien, Algen, Flechten und Pilze an Bauwerken anrichten (er liegt bei 70 Prozent), übt sich die Steinlaus während ihrer Grasetätigkeit auf den Biofilmen jedoch in
Zurückhaltung. Nur 2 Prozent aller mikrobiologisch bedingten Gesteinszersetzungen gehen auf ihr Konto. Immerhin bleibt dieser Wert trotz ihrer enormen Fortpflanzungsrate und knapp einjährigen
Lebensdauer relativ stabil.

Freilich grasen die zwischen 0,3 bis 3 mm „großen" Kleintiere nicht nur aus kulinarischen Gründen auf felsigen Belägen. Vielmehr bewohnen sie dort vorhandene Steinritzen, bauen dieselben sogar zu
kleinen Höhlen aus · und „untermauern" so ihre unterminierende Kraft. Kriechen Steinläuse aus ihren Verstecken, üben sie sich als Nacht-und Tagesweidegänger oder Nacht- und Tagesräuber.

„Zuerst wollte man mir nicht glauben, daß Heerscharen von Kleintieren die Biofilme beweiden", erzählt Krumbein. Mittlerweile sieht dies anders aus. Nicht zuletzt deshalb, weil die
Geomikrobiologie im interdisziplinären Konzert der Denkmalpflege zunehmend den Ton angibt. Gerade Biologen und Ökologen, die früher nur klassische Trivialökosysteme wie Felder, Wälder oder Seen
erforschten, widmen sich jetzt verstärkt dem mikrobiologischen Geschehen auf und in Steinen · und damit auch der „Lausmilbe".

Mag sein, daß Loriots und Krumbeins „nobelpreisverdächtige" Leistung keine entsprechende Würdigung erfährt. Gleichwohl haben beide mit Bravour bewiesen, daß sich Wissenschaft und Humor zuweilen
wunderbar ergänzen.

Freitag, 08. Jänner 1999

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