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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Streit um Kuhns Bart

Von Peter Markl

Natürlich hat es schon immer Naturwissenschafter gegeben, die nach einem flüchtigen Blick auf die Sozial- oder Kulturwissenschaften mit ihrem Eindruck, daß es auf diesen Gebieten mit den
Qualitätsstandards nicht immer zum besten steht, nicht hinterm Berg hielten. Sie hatten besonders die sich strukturalistisch und postmodern gebenden Vertreter im Verdacht, mit einem
Ragout von unverständlichen Vokabeln ihre arglosen und unkritischen Anhänger beeindrucken zu wollen. Was sie schrieben, schien den Naturwissenschaftern eine wenig lohnende Lektüre, und die geringe
Resonanz, welche diese Thesen fanden, ließ eine öffentliche Kritik an ihnen als verlorene Zeit erscheinen.

Dann aber wendete sich das Blatt: Die Naturwissenschafter bekamen öffentlichen Gegenwind. Die Argumente ihrer Kritiker kamen zum Teil aus dem, was da neuerdings von Wissenschaftshistorikern und
Soziologen verbreitet wurde. Das traf besonders die Hochenergiephysiker in den USA: Es gelang ihnen nicht mehr, die Mittel für ihre nächste große Beschleunigermaschine, den „Superconducting
Supercollider", aufzutreiben. Das Ärgerlichste an den Kritikern schien jedoch vielen Physikern, daß sie sich bei ihren Attacken gegen die Dominanz der Naturwissenschaften oft auf den 1997
verstorbenen angesehenen Physiker und Physikhistoriker Thomas Kuhn beriefen. Vor allem sein Buch über „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" hatte großen Einfluß gerade unter den Nicht-
Naturwissenschaftern.

Steven Weinberg, Nobelpreisträger und einer der großen alten Männer der theoretischen Physik, hat jetzt in einem Artikel in der „New York Review of Books" zentrale Thesen von Thomas Kuhn
kritisiert. Seiner Ansicht nach sind die jüngsten Umwälzungen in der Physik nicht so abgelaufen, wie man sie · nach Kuhn · erwartet hätte. Ein Paradigmenwechsel hat die Standards, nach denen Erfolg
beurteilt wurde, nicht berührt: Wer in den Naturwissenschaften eine Suche nach objektiver Wahrheit über die Realität sieht, hat nicht einfach nur in dogmatischem Schlummer die Thesen der
Kulturwissenschafter verschlafen.

Die Diskussion kehrt damit wieder an ihren Ausgangspunkt und zu den wirklichen Fragen zurück. Sie war durch die sogenannte „Sokal-Affäre" ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten. Diese „Affäre"
hatte ein grelles Licht auf die Qualitätsstandards unter einer bestimmten Spielart von Kulturwissenschaftern geworfen. Es war Alan Sokal, einem theoretischen Physiker von der New York University,
gelungen, in der Zeitschrift „Social Text" einen langen, mit nicht weniger als 240 Literaturzitaten gespickten Artikel mit dem Titel „Grenzüberschreitungen · für eine transformative
Hermeneutik der Quantengravitation" zu veröffentlichen. Nach der Veröffentlichung des Artikels hat Alan Sokal in der Zeitschrift „Lingua Franca" das Rezept veröffentlicht, nach dem er den
Artikel angefertigt hatte: „Mein Artikel", so schrieb er, „ist eine Melange aus Wahrheiten, Halbwahrheiten, Viertelwahrheiten, falschen Behauptungen, Trugschlüssen und Sätzen, die zwar
syntaktisch richtig sind, aber überhaupt keinen Sinn ergeben. Leider gibt es von den letzteren in dem Artikel nur eine Handvoll: ich habe mich wirklich angestrengt, so etwas zustande zu bringen, aber
abgesehen von seltenen inspirierten Augenblicken kriege ich das einfach nicht hin. Darüber hinaus habe ich auch einige andere Strategien verfolgt, die in diesem Genre · wenn auch gelegentlich
unabsichtlich · gut etabliert sind: Appelle an die Autoritäten, statt an Logik; spekulative Theorien, die man als etablierte Wissenschaft hinstellt, bemühte oder sogar absurde Analogien, eine
Rhetorik, die zwar gut klingt, deren Sinn aber mehrdeutig ist und die verwirrende Vermischung der alltäglichen Bedeutung von Wörtern mit ihrer technischen Bedeutung in der Fachsprache."

Sokals „Verführung"

Sokal hatte seinen Artikel mit verführerischen Argumenten gespickt, die all dem recht zu geben schienen, was die Herausgeber ohnehin glaubten: „Es gibt viele Naturwissenschafter, besonders
Physiker, welche immer noch den Gedanken ablehnen, daß Fächer, die sich mit Sozialkritik und Kulturkritik befassen, für ihre Forschungsarbeit jenseits einiger Randglossen etwas beitragen können. Noch
weniger akzeptieren sie die Idee, daß die Grundlagen ihres Weltbildes revidiert oder im Licht solcher Kritik neu gelegt werden müssen. Sie ziehen es vor, sich an das alte Dogma zu klammern, das dem
intellektuellen Weltbild des Westens durch die nach-aufklärerische Hegemonie auferlegt wurde. Nämlich, daß es eine Außenwelt gibt, deren Eigenschaften von Menschen unabhängig sind; daß diese
Eigenschaften durch die ,ewigen` Gesetze der Physik beschrieben werden und daß Menschen von diesen Gesetzen ein verläßliches, wenngleich unvollkommenes und vorläufiges Wissen erlangen können, wenn
sie sich nur an die ,objektiven` Verfahren und erkenntnistheoretisch einengenden Vorschriften halten, wie sie die sogenannte wissenschaftliche Methode vorschreibt.

Die jüngste feministische und poststrukturalistische Kritik hat den Kern der westlichen Wissenschaftspraxis demystifiziert und gezeigt, daß sich hinter der Fassade der ,Objektivität` eine
Herrschaftsideologie verbirgt. Es sei immer offensichtlicher geworden, daß die physikalische ,Realität` im Grunde ebenso ein soziales und linguistisches Konstrukt sei wie die soziale Realität. Was
Wissenschafter sagen, kann daher · trotz aller nicht zu leugnenden Meriten · keinen Sonderstatus beanspruchen: Es steht erkenntnistheoretisch auf derselben Stufe wie die narrativen Beschreibungen,
die nun von Alternativen oder sozialen Randgruppen kommen."

Soviel Seelenmassage war zuviel für das kritische Urteilsvermögen der Herausgeber: sie druckten alles · so lang auch immer es sein mochte. Daß dieser Artikel erschien, bleibt eine blamable Panne ·
trotz der gewundenen Erklärungen, die inzwischen darüber zu lesen waren. Und der Schaden traf vor allem ernsthafte Kulturwissenschafter, die mit Leuten, die solches zu schlucken vermochten, nichts zu
tun haben.

Keine Erfolgskriterien durch

Paradigmenwechsel

Doch das ist nun Vergangenheit. Die Fragen, die Thomas Kuhn aufgeworfen hat, sind fruchtbar geblieben. Steven Weinbergs langer Artikel ist nur ein weiterer Beleg dafür. Man kann ja
Naturwissenschaften wie ein Handwerk betreiben, ohne sich über die erkenntnistheoretischen Probleme oder Implikationen klar zu sein. Soviel aber ist sicher: Wer sich die von Thomas Kuhn aufgeworfenen
Fragen überlegt, verliert einiges von dieser Naivität. Kuhn hatte die Entwicklung der Naturwissenschaften als eine Aufeinanderfolge von langen Perioden gesehen, in denen es leicht ist, über drängende
Fragen zu einem Konsens zu kommen. In diesen Perioden arbeiten alle Wissenschafter unter einem Paradigma · ein Wort, das seither in die Umgangssprache eingegangen ist, vielleicht auch deshalb,
weil seine Bedeutung so vage ist, daß es fast nirgends, wo es Konsens gibt, störend falsch ist.

Die englische Wissenschaftstheoretikerin Margret Masterman hat 1970 gezeigt, daß es in Kuhns Buch in 21 verschiedenen, einander nur zum Teil überlappenden Bedeutungen gebraucht wird · das reichte vom
harten Kern einer Theorie, den eine auf ein Paradigma eingeschworene Forschergemeinde keinesfalls aufzugeben bereit ist, über allgemein anerkannte Musterbeispiele für die Anwendung der Theorie und
die Maßstäbe, mit denen man dann beurteilt, ob ein Problem zufriedenstellend gelöst ist. Die Perioden normaler Wissenschaft gehen dann einem Ende zu, wenn sich im Bewußtsein der Wissenschafter
Probleme häufen, die nicht nur lästig sind, weil man sie bisher nicht lösen konnte, so daß sich der Verdacht immer mehr erhärtet, daß es sich dabei um Schwierigkeiten jenseits der Reichweite der
gängigen Methoden handelt. Diese Probleme bekommt man erst dann in den Griff, wenn zu ihrer Lösung, nach einer Revolution mit einschneidenden Paradigmenwechsel, das neue Paradigma den Weg dazu zeigt.

Wenn die Ablöse des einen Paradigma durch das neue Paradigma nicht ausschließlich von den Kriterien geleitet wird, die · nach Ansicht vieler Wissenschafter auf Grund ihrer gemeinsamen rationalen
Rekonstruktion der Problemsituation · die Ablöse einer Theorie durch eine andere rechtfertigen, dann war diese Ablöse, wie Kuhn schrieb, „irrational". (Später hat Kuhn bedauert, diese Vokabel
verwendet zu haben: immer wieder betonte er, wieviel an unfruchtbaren Diskussionen ihm erspart geblieben wären, wenn er diesen Vorgang „a-rational" genannt hätte.)

Kuhn hat den Wechsel der Paradigmen mit einem Gestalt-Switch verglichen, so radikal, daß die beiden Theorien überhaupt nicht mehr miteinander verglichen werden könnten: sie sind
„inkommensurabel". Karl Popper, dessen Seminar Kuhn besucht hatte, hat in dieser Inkommensurabilität nie mehr zu sehen vermocht als eine große Schwierigkeit, die dann vor allem von Paul Feyerabend zu
einer Unmöglichkeit aufgeblasen wurde. Steven Weinberg belegt, daß die Umwälzungen in der Physik, die er erlebte, nie eine solche Inkommensurabilität erzeugt haben. Er bleibt dabei, daß in allen
Diskussionen die Standards, nach denen die alte und die neue Theorie beurteilt wurden, sich nicht änderten: „Es haben sich zwar unsere Ideen geändert, aber wir haben unsere Theorien weiter in
ziemlich derselben Art bewertet: Wir halten eine Theorie für einen Erfolg, wenn sie auf einem einfachen allgemeinen Prinzip aufbaut und die experimentellen Daten in natürlicher Weise erklärt."

Dann allerdings fährt er · wahrscheinlich doch auch geprägt von den Narben der philosophischen Hiebe in den Duellen von „Science Wars" · fort: „Ich behaupte nicht, daß wir ein Buch haben, in dem
man die Regeln zur Bewertung von Theorien nachschlagen kann, oder auch, daß wir eine klare Vorstellung davon haben, was wir da mit ,einfachen allgemeinen Prinzipien` oder ,natürlich` verstehen. Alles
was ich sage ist: Was auch immer wir darunter verstehen, es hat radikale Änderungen in der Art, wie wir Theorien bewerten, nicht gegeben. Es gab keine Veränderungen, die so weit gingen, daß sie es
uns unmöglich gemacht hätten, die Wahrheit von Theorien vor und nach der Revolution zu vergleichen."

Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff „Wahrheit"

Doch gerade mit den Begriffen „Wahrheit" und „Realität" hatte Kuhn Probleme · und es sind diese Probleme, auf die sich die Relativisten aller Preislagen freudig berufen. Seine Probleme mit dem
Begriff „Wahrheit" haben ihn 1972 dazu geführt, daß er schrieb: „Um es genauer zu sagen: Wir müssen vielleicht · explizit oder implizit · die Vorstellung aufgeben, daß der Wechsel der Paradigmata
die Wissenschafter und die von ihnen Lernenden näher und näher an die Wahrheit heranführt."

Der Begriff „Wahrheit" · so schien ihm · läßt sich nur innerhalb eines Paradigmas sinnvoll verwenden. Und 1992 bemerkte er in einem Vortrag an der Harvarduniversität: „Ich möchte Ihnen nicht die
Vorstellung nahelegen, daß es so etwas gibt wie eine Realität, welche die Naturwissenschaften nicht zu fassen vermögen. Was ich sagen will, ist vielmehr, daß man dem Begriff ,Realität` · so wie er
üblicherweise in der Wissenschaftsphilosophie verwendet wurde · keinen Sinn geben kann." Genau diese Art, die Probleme zu sehen, hat Steven Weinberg zu Sätzen verführt, welche der Philosoph
Richard Rorty dann als Anmaßung zurückgewiesen hat: Wie könnte ein Physiker glauben, so nebenher Fragen zu klären, die Philosophen doch seit 1.000 Jahren beschäftigen.

Das war das Ende von Steven Weinbergs Gelassenheit. In seinem jüngsten Aufsatz schreibt er dazu ziemlich verärgert: „Ich weiß, daß es schrecklich schwer ist, genau zu sagen, was wir meinen, wenn
wir Worte wie ,real` oder ,wahr` verwenden. Sicher können uns die Philosophen mit ihren Versuchen, klarzumachen, was wir unter ,Wahrheit` und ,Realität` verstehen, einen großen Dienst erweisen. Aber
wenn Thomas Kuhn sagt, daß er als Philosoph Schwierigkeiten hat, zu verstehen, was man unter ,Wahrheit` oder ,Realität` verstehen soll, dann beweist das über die Tatsache hinaus, daß Thomas Kuhn beim
Verständnis der Bedeutung der Wörter ,Wahrheit` und ,Realität` Schwierigkeiten hatte, nichts."

Literatur: Steven Weinberg: The Revolution That Didn't Happen. New York Review of Books, 8. Oktober 1998.

Freitag, 09. Oktober 1998

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