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Kleiner genetischer Unterschied mit großen Folgen

Menschen und Schimpansen

Von Peter Markl

In einer Zeit, in der man jeden Tag · mißverständlich genug · lesen kann, daß wiederum ein Gen für irgendetwas entdeckt wurde, ist das eines der irritierenden Rätsel: So augenscheinlich sich
auch Menschen von Schimpansen unterscheiden: wenn man ihr genetisches Material analysiert, findet man, daß mindestens 98,5 Prozent der etwa drei Milliarden DNA-Basen-Bausteine von Menschen und
Schimpansen identisch sind. Die genetische Ähnlichkeit ist so groß, daß Jared Diamond seinem Buch über Menschen den Titel „Der dritte Schimpanse" gab. Man hat nur sehr grobe Schätzungen darüber, wie
viele Gene man in den drei Milliarden DNA-Basen eines Menschen findet: etwa 30.000 · 100.000 Gene sind wie kleine Inseln in einem DNA-Meer verstreut. In den 1,5 Prozent der DNA-Basen, in denen sich
Menschen von den Schimpansen unterscheiden, finden sich wahrscheinlich nur wenige Gene. Wie viele und welche Gene das sind, ist zur Zeit fast noch völlig offen. Die gezielte Fahndung nach ihnen ist
jetzt angelaufen.

Diesmal liegt Europa vorne. Ein vor kurzem in Leipzig gegründetes Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie hat mit einem Budget von 1,1 Millionen Dollar begonnen, nach diesen Genen zu
fahnden. In den USA ist man noch nicht so weit, aber auch am Yerkes Regional Primate Research Center in Atlanta erkundet man gegenwärtig im Rahmen eines breiter gefächerten 250.000-$-
Forschungsprogramms zum Vergleich der genetischen, neurologischen und kognitiven Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen die Möglichkeiten, auch in die vergleichende Genanalytik einzusteigen.
Und für nächsten Monat planen die US-Experten in Chicago ein Treffen, bei dem es um Pilot-Studien geht, die es möglich machen sollen, in etwa fünf Jahren das 1,5-Mrd.-Dollar-Human-Genom-Program
der USA durch ein sehr viel kleineres Primate Genom Project zu ergänzen.

Molekulare Anthropologie

Was jetzt intensiver als bisher in Angriff genommen wird, ist ein weiteres Kapitel im Umkreis einer faszinierenden Wissenschaft: der Molekularanthropologie, deren Geburtsstunde vor mehr als 30
Jahren in Österreich schlug, als Emil Zuckerkandl einige der führenden Evolutionstheoretiker der Welt bei einem Symposium auf der Burg Wartenstein davon zu überzeugen versuchte, daß man aus den
Spuren, welche die Evolution in Form von Mutationen in der Struktur von biologischen Makromolekülen (wie Proteinen, DNA- oder RNA-Molekülen) hinterlassen hat, etwas über die Evolutionsgeschichte und
die genetische Verwandtschaft zu anderen Primaten herausfinden könnte.

Damals blieben die drei großen Schöpfer der heutigen synthetischen Evolutionstheorie · Ernst Mayer, George Gaylord Simpson und Theodosius Dobshansky ·, die sich unter der Schirmherrschaft der New
Yorker Wenner-Grenn-Foundation zu dem Symposium zusammengefunden hatten, skeptisch. Mittlerweile · und nicht ohne zeitweilig große Turbulenzen im Streit um die Deutung der molekularbiologischen
Analysen, die allem widersprachen, was man mit den herkömmlichen Mitteln herausgefunden hatte · ist klar geworden, daß die Molekularanthropologie zu einer grundlegenden Revision der Ansichten über
die Evolutionsgeschichte von Menschen, Schimpansen und Gorillas sowie über den Ursprung der modernen Menschen geführt hat.

Die Anthropologen waren aufgrund einer Analyse der Fossilfunde zur Ansicht gekommen, daß sich die Abstammungslinie der Menschen bereits vor 15 bis 30 Millionen Jahren von der Abstammungslinie der
Menschenaffen getrennt haben muß. Die molekularanalytischen Daten aber zeigten, daß die Entwicklungslinien der Menschen und Menschenaffen erst vor fünf bis zehn Millionen Jahren auseinanderliefen.
Bis 1984 hatte man dabei an eine Dreierverzweigung gedacht, bei der von der gemeinsamen Stammlinie der Hominoiden drei Verzweigungen in Richtung auf die heutigen Menschen, Gorillas und Schimpansen
liefen. Eine derartige Dreierverzweigung ist zwar nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich, so daß man es heute für wahrscheinlicher hält, daß sich zuerst die Abstammungslinie der Gorillas
von der gemeinsamen Stammlinie entfernt hat, die sich erst dann in zwei auseinanderlaufende Entwicklungslinien zu den Vorläufern der Menschen und Schimpansen aufspaltete.

Die Diskussion über die genauen Details der letzten Verzweigung der Stammesgeschichte der Hominoiden ist noch nicht abgeschlossen. Soviel aber ist unumstritten: es sind die Schimpansen, welche die
nächsten Verwandten der Menschen sind. Dazu Francis Collins, Direktor des amerikanischen Human Genom Projects: „Das ist eine der großen Fragen, auf die wir, die wir an unserer eigenen Biologie
interessiert sind, gerne eine Antwort wüßten: Wie sieht dieser 1,5-Prozent-Unterschied in der Zusammensetzung der DNA-Basenbausteine aus?" Wie kommt es, daß sich Menschen und Schimpansen mit allen
ihren Unterschieden in Körperbau und Sprachfähigkeit genetisch nicht stärker unterscheiden als zwei Geschwisterspezies von Fruchtfliegen oder Mäusen? „Bis jetzt", so Thomas Insel, Direktor des
Yerkes Primate Research Center, „könnte man alles, was man über die genetischen Unterschiede weiß, in einem Absatz mit nur wenigen Sätzen zusammenfassen".

Schimpansengene

medizinisch interessant

Wahrscheinlich wäre das Interesse an der Klärung dieser Frage weniger groß, wenn sie nicht auch medizinisch interessant wäre: Primaten unterscheiden sich von Menschen auch dadurch, daß sie für
manche Krankheiten · etwa Aids oder Krebs · weniger anfällig sind. Die Gene, in denen sich Menschen von Schimpansen unterscheiden, könnten daher auch diesen Unterschied erhellen und dadurch etwas
über die molekularen Ursachen dieser Krankheiten verraten.

Wer die amerikanische biotechnische Industrie und ihre Versuche, selbst die vagsten Vermutungen bereits zu vermarkten, kennt, wird nicht darüber staunen, daß die GenoPlex Inc. in Denver, eine
Gründung von Jim Sikela und Tom Johnson von der Universität von Colorado, bereits einen Patentantrag für eine neue Anwendung einer Gensequenz gestellt haben, die man nur bei Menschen gefunden hat und
die mit der Aids-Anfälligkeit der Menschen und ihrem Gedächtnis etwas zu tun haben soll · beides offensichtlich bislang nicht gut belegte Vermutungen, die aber die Geldgeber beeindrucken sollen.

Das neue Interesse an den genetischen Unterschieden zwischen Menschen und Schimpansen hat jedoch noch eine weitere Ursache: erst jetzt, mit dem Fortschreiten des Human Genom Project's sind die
Methoden zur Genanalyse so weit entwickelt worden, daß ihr Einsatz im Großen zur Analyse der Aufeinanderfolge der DNA-Basen-Bausteine auch ökonomisch immer vertretbarer wird. Darüber hinaus hat man
auch eine ganze Reihe neuer Methoden entwickelt, mit denen man schnell feststellen kann, ob sich analoge Abschnitte aus dem Erbmaterial von Menschen und Schimpansen unterscheiden.

Die gezielte Fahndung nach solchen Unterschieden war ein neues Problem für die Analytiker, die bisher den Evolutionstheoretikern vor allem Informationen und Methoden zur Lösung der Frage geliefert
haben, wie weit verschiedene Sequenzen übereinstimmen. In Hinkunft wird man sich dabei bevorzugt die Basensequenzen ansehen, in denen man die Unterschiede aufgespürt hat. Auch dann ist noch offen, ob
ein gefundener Unterschied nicht für die Evolution ganz belanglos ist · etwa weil er in den langen Sequenzen der „Junk-DNA" gefunden wurde. Diese Genabschnitte, deren Funktion heute unklar ist ·
vielleicht sind sie überhaupt nur ein Abfall der Evolution · codieren nicht für ein funktionierendes Gen. Wonach man fandet, sind Unterschiede in Strukturgenen, in denen die Bauanleitung von
funktionstüchtigen Proteinen niedergelegt ist, oder es sind Unterschiede in Regulator-Genen, welche die Reihenfolge bestimmen, in denen die Gene abgelesen werden. Solche Regulator-Gene haben
Schlüsselstellungen in der Genhierarchie, und die Tatsache, daß nur wenige Gene alle die Unterschiede zwischen Menschen und Schimpansen verursachen, hat zur Vermutung geführt, daß es Mutationen in
diesen Regulatorgenen sind, welche die Evolution bestimmt haben. Bisher aber hat noch niemand ein solches entscheidendes Regulator-gen aufspüren können.

Unterschied in

einem Strukturgen

Anders ist die Situation bei den Strukturgenen. In der Oktoberausgabe des „American Journal of Physical Anthropology" wird ein Artikel von Ajit Varki, Elaine Muchmore und Sandra Diaz von der
Universität von Kalifornien zu lesen sein, die entdeckt haben, daß man in der Oberfläche der Zellen von Menschen ein bestimmtes Molekül nicht findet, das man bei allen anderen bisher untersuchten
Säugetieren · und das schließt alle Menschenaffen ein · gefunden hat: dieses Molekül ist ein Abkömmling der Sialinsäure, von der sich das Molekül durch das Vorhandensein einer Hydroxylgruppe
unterscheidet. Bei Menschen findet man nur die Sialin-Säure selbst. Diese Hydroxylgruppe könnte aber die Form des Moleküls so weit verändern, daß sich auch seine Funktion ändert. Und das könnte einen
Unterschied erklären, den man bereits vorher gefunden hat, denn dieses Molekül scheint bei der Signalübertragung zwischen Zellen ebenso eine Rolle zu spielen wie bei dem Eindringen von Pathogenen in
menschliche Zellen.

Die Verursacher von Cholera, Grippe und Malaria scheinen zuerst an Sialinsäure-Moleküle, die in der Zelloberfläche sitzen, anzudocken. Unterschiede in der Funktion der Sialinsäure könnten daher
erklären, warum Schimpansen für einige dieser Krankheiten weniger anfällig sind als Menschen. Varki's Team hat mittlerweile auch das Gen identifiziert, welches bei den Menschenaffen die Bauanleitung
für ein Enzym enthält, das die Sialinsäure hydroxyliert, und man hat zeigen können, daß bei Menschen in diesem Gen eine Mutation vorliegt: es fehlen 92 Basenpaare, die man im selben Gen der
Schimpansen findet.

Doch alles das ist noch durchsetzt von wenig belegten Vermutungen, so daß es noch ganz unklar ist, ob die Sialinsäure überhaupt etwas mit den interessierenden Unterschieden zwischen Menschen und
Schimpansen zu tun hat. Und selbst wenn das der Fall wäre, hätte man nicht mehr als einen ersten Einstieg zu dem Problem gefunden. Denn darüber sind sich alle klar: es muß ein kompliziertes
Wechselspiel von Genen mit ihrer Umwelt sein, in dem die Lösung liegt. Denn das magische Gen, dessen Mutation aus Schimpansen Menschen machen kann, gibt es sicher nicht.

Literatur:

Ann Gibbons: Which of Our Genes Makes us Human? Science, 4. September 1998;

Roger Lewin: Die molekulare Uhr der Evolution. Spektrum akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin 1998.

Freitag, 25. September 1998

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