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Split-Brain-Patienten und die Psyche

Geist · ein modulares System

Von Peter Markl

Es gibt Fragen, bei deren Lösung die Alltagssprache nicht hilfreich ist. Wahrscheinlich gehört dazu auch eine Frage, die im Zusammenhang mit dem Größten der wissenschaftlich nicht geklärten
Probleme auftaucht: dem Problem der Entstehung von Bewußtsein. Wie hängen die neurophysiologischen Prozesse, welche mit immer raffinierter werdenden Untersuchungsmethoden im Hirn aufgespürt werden,
mit Bewußtsein und der unmittelbar erlebbaren Einheit des Bewußtseins zusammen?

Der direkteste Zugang zur Klärung einiger der sich aufdrängenden Fragen sind Split-Brain-Patienten, bei denen man mit dem Skalpell den Hauptverbindungsstrang zwischen den beiden Hälften ihrer
Großhirnrinde durchtrennt hat, um ihnen trotz ihrer zerstörerischen epileptischen Anfälle ein erträgliches Leben möglich zu machen. Hat sie der Schnitt mit dem Skalpell zu gespaltenen
Persönlichkeiten gemacht? Was ist es, das vom Skalpell getrennt wurde? Ihre Persönlichkeit? Ihre Seele? Ihr Geist? Das Studium dieser Patienten zeigt, wie ungenügend die Alltagssprache zur
Beschreibung von Split-Brain-Patienten ist und es erhellt grundlegende Fragen nach der Funktion der beiden Gehirnhälften und der Evolution menschlichen Denkens.

Es gab natürlich viele Beobachtungen an Menschen, die bei Unfällen Hirnschäden erlitten hatten. Sie hatten gezeigt, daß die Schädigung bestimmter Hirnregionen mit ganz spezifischen
Ausfallerscheinungen verbunden war. Schon 1836 hat Marc Darx, ein französischer Landarzt aus Monpellier bei seinem ersten und einzigen wissenschaftlichen Vortrag auf Grund seiner Arbeit mit mehr als
40 Unfallopfern die These vertreten, daß die beiden Gehirnhälften unterschiedliche Funktionen steuern, wobei die Sprachfähigkeit in der linken Gehirnhälfte lokalisiert ist. Solche Hirnverletzungen
lieferten jedoch nur sehr begrenzte Informationen · schließlich hängt es vom Zufall ab, welche Hirnregionen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Auf der anderen Seite aber gab es die Entdeckungen der
Anatomen, welche Hirnstrukturen in immer größerem Detail sichtbar machten und damit die Fragen aufwarfen, welche Funktionen diese Strukturen hätten?

Eine der auffälligsten Hirnstrukturen ist der sogenannte Corpus callosum · lateinisch für „dickhäutiger Körper" · ein Balken von irgendwo zwischen 200 und 800 Millionen Nervenzellen und damit
bei weitem das größte Nervenfaserbündel im ganzen Nervensystem. Dieser Balken verbindet die Nervenzellen in den beiden Hemisphären des Großhirns. Wenn die Einheit des Bewußtseins überhaupt eine
materielle Grundlage hatte · wie das die Materialisten glaubten und die Mentalisten ablehnten · dann müßte eigentlich eine Durchtrennung dieses Balkens mit dem Skalpell die beschworene Einheit des
Bewußtseins zerstören. Theodor Fechner, der große deutsche Physiker, Physiologe und Philosoph, hat sich diese Frage schon im letzten Jahrhundert gestellt: er vermutete, daß das Skalpell aus einem
Menschen mit einer einheitlichen Persönlichkeit einen Menschen mit zwei Persönlichkeiten schaffen würde. „Unzweifelhaft", so schrieb er, „würden sie" · nämlich die beiden Hälften des
geteilten Menschen · „mit gleichem Gemüthszustande, gleichen Anlagen, Kenntnissen, Erinnerungen, gleichem Bewußtsein überhaupt beginnen, nach Maßstäben aber, als sie in verschiedene Verhältnisse
kämen, sich verschieden entwickeln". Fechner hielt es für unmöglich, daß man je ein solches Experiment durchführen könne. Nur eine Generation später schien das nicht mehr ganz ausgeschlossen: von
dem eminenten Harvard-Psychologen William McDougall wird sogar berichtet, daß er versucht habe, dem berühmten englischen Physiologen Sir Charles Scott Sherrington das Versprechen abzuringen, seinen
Corpus Callosum zu durchtrennen, falls er · McDougall · an einer unheilbaren Krankheit erkranken sollte. Etwa hundert Jahre nach Fechners Spekulationen sind die ersten derartigen Eingriffe an Katzen,
Affen und · als verzweifelter letzter Hilfsversuch · in den frühen vierziger Jahren an einigen schweren Epileptikern durchgeführt worden.

Was als ein klarer Fall eines entscheidenden Experiments mit unschwer unterscheidbaren alternativen Ausgängen scheinen mochte, verlief anfangs enttäuschend. Man fand bei den Patienten lange Zeit
nicht mehr Veränderungen als ein etwas gedämpftes Bewußtsein und gelegentlich auftretende, aber dann auch wieder verschwindende Koordinationsstörungen. Das hat zu oft zitierten unernsten Kommentaren
geführt. Der berühmte amerikanische Neurophysiologe Karl Lashley kommentierte seine Enttäuschung mit der Vermutung, daß dieser so spektakuläre Nervenbalken vielleicht doch nur dazu diene, die beiden
Großhirnhälften miteinander zu verbinden. Und Warren McCulloch zog damals die ernüchternde Bilanz, daß es die einzige bekannte Funktion des Corpus callosum sei, es möglich zu machen, daß sich
epileptische Anfälle von einer Gehirnhälfte auf die andere ausbreiten können.

Langer Weg zu ersten Erfolgen

Um so enttäuschender war, daß die Operation bei einigen der ersten der Split-Brain-Patienten von Patient zu Patient unterschiedliche Erfolge hatte. Im Rückblick scheint die Ursache klar: man hatte
individuelle Unterschiede in der Art der Epilepsie nicht berücksichtigt und es gab offensichtlich auch Unterschiede in der Zahl der bei der Operation durchtrennten Faserbündel. Mittlerweile hatte man
in Tierversuchen die Operationstechnik verfeinert und neue Untersuchungsmethoden zur Erkundung der Leistungsfähigkeit der getrennten Gehirnhälften entwickelt.

In den sechziger Jahren haben dann Philip Vogel und Joseph Bogen, Neurochirurgen aus Los Angeles, an sorgfältig ausgewählten Epilepsiepatienten eine neue Serie von Operationen begonnen, die den
Patienten eine dramatische Verbesserung ihres Leidens brachten. Wiederum schien anfangs die Persönlichkeit der Patienten kaum geändert. Erst als man mit den Patienten eine lange Serie raffinierter
Experimente durchführte, für die Roger Sperry 1981 den Nobelpreis für Medizin erhielt, zeigte sich, wie spezialisiert die bei den Patienten nunmehr getrennten Hälften des Großhirns waren: die linke
Gehirnhälfte dominiert das Sprachverhalten, die rechte Gehirnhälfte das visuell-motorische Verhalten. Die rechte Gehirnhälfte ist ein raffinierter, aber sprachloser Hochleistungs-Analog-Computer;
spezialisiert auf die Erkennung ertasteter und gesehener Dinge und einer großen Zahl ähnlicher Spezialaufgaben, von denen viele häufig als „kreativ" beschrieben werden. Man kann das in verblüffenden
Experimenten zeigen. Wenn man der rechten Hirnhälfte die visuellen Informationen zugänglich macht, die das Sehen des Worts „Löffel" auslöst, und die Versuchsperson dann fragt, was sie gesehen hat,
sagt sie „Nichts". Wenn man die Versuchsperson dann bittet, mit der linken Hand aus einer Reihe von unter einem Tuch verborgenen Gegenständen den herauszusuchen, den sie vorher „gesehen" hatte,
wählen die Versuchspersonen sofort den Löffel. Der linken Hand sind ja Informationen aus der „sprachlosen" rechten Gehirnhälfte zugänglich. Bei normalen Menschen wären die gewonnenen und
interpretierten Informationen aus der rechten Gehirnhälfte („da ist ein Löffel") über den Corpus Callosum an die linke Gehirnhälfte weitergegeben worden, die dann über das in der rechten Gehirnhälfte
gewonnene Wissen hätte sprechen können. Nach der Durchtrennung der Nervenstränge des Corpus Callosum erfährt die sprachbegabte Gehirnhälfte nichts von dem „Wissen" der rechten Gehirnhälfte · sie
leugnet daher, daß etwas zu sehen gewesen wäre.

Vorsicht bei schnellen

Schlüssen

Michael S. Gazzaniga, einer der Pioniere der Untersuchung von Split-Brain-Patienten, hat vor kurzem für den „Scientific American" zusammengefaßt, was im letzten Jahrzehnt herausgefunden
wurde. Das berührt oft lang gehegte Ansichten:

Es hat sich gezeigt, daß man von Tierversuchen nur mit großer Vorsicht auf Funktionen im menschlichen Gehirn schließen kann. Affen zum Beispiel haben eine Möglichkeit, visuelle Information zwischen
den beiden Gehirnhälften zu übertragen auch dann, wenn man ihren Corpus callosum durchtrennt hat. Man findet die Hirnstruktur, welche sie dazu benützen können, auch bei Menschen, sie hat aber bei
ihnen eine andere Funktion. Einige Hirnstrukturen haben eine analoge Funktion, andere nicht.

Selbst Interpolationen zwischen Menschen sind nicht ohne Risiko: man hatte auf Grund der ersten drei untersuchten Patienten der rechten Gehirnhälfte einige Rudimente einer Sprachfähigkeit
zugeschrieben. Später hat sich gezeigt, daß die rechte Hemisphäre der meisten Menschen vollkommen sprachlos ist.

Gehirn überraschend

plastisch

Einmal mehr hat sich gezeigt, daß das Hirn viel plastischer ist, als man ihm bisher zutraute. Es gibt einen Patienten, der nunmehr 13 Jahre nach der Operation gelernt hat, trotzdem über das zu
reden, was seine rechte Gehirnhälfte weiß. Er kann jetzt über Informationen reden, die man der linken oder rechten Gehirnhälfte zugänglich gemacht hat. Noch verblüffender ist der Fall einer Patientin
aus Kalifornien: Sie ist Linkshänderin und kann nur über das schreiben, was man ihrer an sich ja „sprachlosen" rechten Gehirnhälfte präsentiert. Es sieht so aus, als ob „Schreiben" ein unabhängiges
System ist, eine Erfindung der Menschen. Diese Fähigkeit kann unabhängig vorhanden sein. Sie muß nicht Teil der vererbten Sprachfähigkeit sein.

Suche nach Ordnung genetisch vorprogrammiert

Die neueren Versuche stützen weiter die Vermutung, daß die linke Hemisphäre der Sitz eines angeborenen Interpretationsmechanismus ist, der unablässig „Sinn" sucht. (Daß ein solcher Mechanismus
existieren muß, hat Karl Popper · aus ganz anderen Erwägungen · immer vermutet.) Michael Gazzaniga schreibt dazu: Dieser angeborene Mechanismus „sucht unablässig Ordnung und Sinnstrukturen, selbst
dort, wo es sie nicht gibt · was ihn immer wieder dazu bringt, Irrtümer zu machen. Er zeigt die Tendenz zu überzogenen Verallgemeinerungen und er kann zu falschen ,Erinnerungen` führen, weil er oft
aus vorhandenen Gedächtnisspuren eine potentiell mögliche Vergangenheiten konstruiert, die es nie gab."

Evolutionäre Neuerwerbung verdrängt alte Fähigkeiten

Die neuen Funde werfen Licht auf die Evolutionsgeschichte von Menschen. Bei anderen Tieren sind die beiden Gehirnhälften im allgemeinen nicht auf bestimmte Funktionen spezialisiert. (Einige Affen
zeigen ein bestimmtes Ausmaß an lateraler Spezialisation, aber das scheinen seltene Ausnahmen.) Raffinierte neue Versuche zeigen, daß eine Maus Gestalten wahrnehmen kann, welche die linke
Gehirnhälfte nicht auszumachen vermag. Und das führt zu einer Spekulation über den Ursprung der Lateralisation: vielleicht konnte das ursprünglich auch das Gehirn der humanen Vorfahren. Könnte es
sein, daß die Evolution die für Menschen einzigartigen Fähigkeiten wie Sprache oder eben der in der linken Gehirnhälfte aufgespürte Interpretationsmechanismus die ursprünglich vorhandenen Fähigkeiten
aus der linken Gehirnhälfte infolge einer Art „Platzmangel" verdrängt haben? Solange in der zweiten Gehirnhälfte noch eine hinreichend funktionstüchtige Kopie vorhanden ist und die Neuerwerbung große
Vorteile bietet, ist das kein zu riskanter Prozeß.

Eines ist klar geworden: In Übereinstimmung mit Ideen, die man in den kognitiven Wissenschaften, der künstlichen Intelligenz, der evolutionären Psychologie und der Neurologie seit einiger Zeit
diskutiert, zeigen auch die jüngsten Befunde an Split-Brain-Patienten, daß die Leistungen des Gehirns · so einheitlich man sie auch empfinden mag · Leistungen eines Systems sind, das aus einzelnen
spezialisierten Modulen aufgebaut ist. Die Alltagssprache täuscht darüber leicht hinweg.

Freitag, 28. August 1998

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