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Die „Jahr-2000-Umstellung" als erstes „Mega-Problem"

Risiken der Wissensgesellschaft

Von Karl H. Müller

Wenig scheint unzeitgemäßer, als während heißer Sommertage Gedanken an den Silvester 1999 zu verschwenden · und doch bieten diese Augusttage wahrscheinlich die letztmögliche Chance, sich
zeitgerecht dem Problem des „Jahrtausendwechsels" zu widmen. Hochentwickelte Gesellschaften haben sich nämlich während der achtziger und neunziger Jahre zu einer neuen Form von „Wissensgesellschaft"
entwickelt, deren „Wissensbasen" eine zusätzliche Schicht erhalten haben. Neben die Stelle der Bücher, der wissenschaftlichen Artikel, Berichte, Zeitungen und anderer verschriftlichter oder
„codierter" Materialien ist eine neuartige Schicht in Form von Computerprogrammen und Maschinencodes getreten.

Und genau diese neuartige Schicht in den Wissensbasen besitzt seit Jahrzehnten einen fundamentalen und weit verbreiteten Defekt, der im Datumswechsel vom 31. Dezember 1999 auf den 1. Jänner 2000
schlagend wird: Mit diesem Jahresübergang wechseln nicht nur wie üblich eine oder zwei Jahreszahlen ihre Position, sondern gleich alle vier · und sämtliche Computerprogramme älteren Datums, aber auch
zahllose eingebaute Computerchips operieren lediglich mit zwei Stellen. Für sie bedeutet der Jahreswechsel am 31. Dezember 1999 einen Sprung zurück vom 31.12.99 auf den Jahrhundertanfang 01.01.00.

Sie haben natürlich von diesem speziellen „Jahr 2000 Problem" · im technischen Jargon: y2k-Problem (y für year (Jahr), k für Kilo (1000) · gehört und nehmen es wahrscheinlich als unter
Umständen schwierige Umstellung für den EDV-Bereich wahr. Ich würde Sie gerne dazu einladen, y2k als die erste sehr gravierende Herausforderung an diese neuen Form der „Wissensgesellschaft" zu
betrachten. Y2k stellt, so die Behauptung, ein immenses gesamtgesellschaftliches Koordinationsproblem dar, welches zu seiner erfolgreichen Lösung auch neuer und dafür passender gesellschaftlicher
Organisationen bedarf.

Eine kleine Geschichte

Um Ihnen diese Sichtweise näherzubringen, möchte ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die sich · wie wir alle wissen · so nicht zugetragen hat: Im Revolutionsjahr 1848 wurde erstmals ein
neuer Stoff · ein Konservierungs- und Stärkemittel · zur Papiererzeugung eingeführt. Dieser Stoff verbilligte die Kosten der Papierproduktion enorm und besaß zudem den Vorteil, nicht nur im
Papierbereich einsetzbar zu sein, sondern auch in nahezu allen anderen Industriezweigen verwendet zu werden: Dampflokomotiven, der Maschinenbau, die gerade beginnende chemische Industrie, die
Landwirtschaft · sie alle mischten diesen neuen Stoff in ihre Produkt- und Maschinenpalette. Der einzige Nachteil, den dieses neue Wundermittel besaß, lag in seiner Haltbarkeit, die zudem eine
überaus seltsame und bislang unbekannte Eigenschaft aufwies: Am 13. November 1899 verlor dieses Mittel schlagartig seine wichtigen Eigenschaften und führte in Folge zu allen möglichen Fehlleistungen.
Aber, und darauf bauten seine Hersteller, dieser Stoff ließ sich vergleichsweise leicht so verändern und überarbeiten, daß seine Haltbarkeit auch über Jahrhunderte garantiert werden konnte.

Allerdings mußte diese Umarbeitung jeweils individuell vorgenommen werden · aus guten Gründen war keine allgemeine „November-Lösung" in Sicht, deren sich alle Betroffenen hätten bedienen können. In
den achtziger und frühen neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts war bereits ein großer Teil der gesamten seinerzeitigen „Wissensbasis" mit diesem Stärkemittel imprägniert, und so lief man damals
Gefahr, daß sich das Papier von Büchern, Akten, Briefen, Zeitschriften, Aufzeichnungen, Banknoten, Tagebüchern oder anderen Papierwerken auflösen und unleserlich werden könnte. Aber auch Lokomotiven,
Gleisstränge, die Kohleförderung oder die Eisen- und Stahlindustrie waren dem Risiko ausgesetzt, nach dem 13. November plötzlich nicht mehr einsatzfähig zu sein, ja selbst Privathäuser und
öffentliche Gebäude mußten mit schweren Schäden und Ausfällen rechnen.

Die Länder Europas nahmen dieses „November-Problem" lange Jahre überhaupt nicht zur Kenntnis. Selbst im Jahr 1897 wurden nur sehr unkoordinierte Anstrengungen unternommen. Die Papierindustrie
arbeitete zwar fieberhaft daran und stellte seit Mitte der neunziger Jahre nur noch dauerhaftes Papier her, die meisten Transport-und Maschinenbauunternehmen sowie der Eisen- und Stahlbereich ließen
sich nur sehr widerstrebend auf dieses Problem ein, zumal man in der Öffentlichkeit das „November-Problem" fast ausschließlich mit dem Papier in Verbindung brachte.

Der 14. November 1899 führte dann weltweit zwar nicht in eine allseitige Katastrophe: Einerseits wurden bis dahin doch sehr viele Anstrengungen unternommen und die Welt insgesamt hatte das Glück, daß
ihre gesamten Netzwerke von Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen nicht sehr stark miteinander vernetzt und gekoppelt waren. Ausfälle blieben in der Regel begrenzt, und es setzte nach
einigen Jahren mit kleineren Einbrüchen und lokalen Rückgängen wiederum eine Erholungs- und Aufschwungphase ein. Anderseits war ein interessantes Phänomen zu beobachten: Jene Länder, die spätestens
1897 dazu übergegangen waren, dieses „November-Problem" als eine Herausforderung für ihre gesamte Gesellschaft zu betrachten, konnten ihre Schäden auf vergleichsweise geringem Niveau halten und
teilweise aus diesem Umstellungsproblem sogar Nutzen ziehen.

Und nun das y2k-Problem

Das y2k-Problem bedeutet in noch weit größerem Umfang ein gesamtgesellschaftliches Problem, als es der Wunderkonservierungsstoff aus unserer Geschichte je vermocht hätte. Fehlerhafte
Datumsprogramme sind nämlich nicht nur im Bereich früher Computerprogramme verteilt und finden sich in vielfacher Weise kopiert auch in neueren Programmversionen, y2k erstreckt sich auch auf den
Bereich eingebauter Chips und umfaßt damit alle elektronischen Kontroll- und Steuerungsanlagen.

Verwenden wir kurz eine Typenbildung, die von Charles Perrow, dem Autor des so wichtigen Buches „Normal Accidents" stammt, so werden dort dicht gekoppelte und lineare Systeme wie Dämme oder
Eisenbahnen, komplexe, aber lose gekoppelte Systeme wie beispielsweise Universitäten oder staatliche Verwaltungen wie auch komplex interagierende und dicht gekoppelte Bereiche von der Art von
Atomkraftwerken oder der chemischen Industrie auseinandergehalten.

Von dieser Typenbildung her stellt y2k von seinen Kopplungen und von seinen Interaktionen her ein komplex verbundenes und dicht gekoppeltes Problem in maximaler Größenordnung dar. Warum? Einfach
deshalb, weil y2k über alle technologischen Systeme verteilt ist und auch die Interaktionen zwischen diesen Systemen miteinschließt. y2k betrifft von der Seite der eingebauten Chips her mittlerweile
alle wichtigen Infrastrukturbereiche, sowie den gesamten Bereich der industriellen Produktionsabläufe.

Darüber hinaus führen Schlagworte wie jenes von der „Globaliserung" und der „Flexibilisierung" vor Augen, daß sich die Systeme der Produktion, der Lagerhaltung oder der unternehmerischen Organisation
in Richtung von stark wechselwirkenden Netzwerklösungen verschoben haben.

Schließlich bedeutet die y2k-Problematik auch, daß nur begrenzte Imitations- und Lernpotentiale zur Verfügung stehen. Der Zeitaufwand für erfolgreiche Umstellungen bei einem Großakteur wie einer Bank
oder einer Versicherung führt nicht dazu, daß sich die Umstellungszeit bei anderern Banken oder Versicherungen deutlich reduzieren könnte. Auch dort bedarf es eines sehr umfangreichen Diagnose-,
Umstellungs- und Testablaufs, um eine erfolgreiche y2k-Konversion zu erreichen.

Unterschiedliche Problemfelder

y2k bedeutet also tatsächlich eine ganz neuartige Herausforderung, der sich eine „Wissensgesellschaft" wie die österreichische insgesamt zu stellen hätte und hat.

Gesellschaften der Neuzeit waren bislang · grob zusammengefaßt · mit zwei Typen von Problemfeldern konfrontiert: Auf der einen Seite rangieren Tragödien und Katastrophen, welche größere Gebiete einer
Gesellschaft erfassen können, die aber in ihrem Zeitpunkt grundsätzlich nicht vorhersehbar sind. Erdbeben, Überschwemmungen oder Epidemien in früheren Jahrhunderten zählen typischerweise zu solchen
Phänomenen.

Auf der anderen Seite stehen unter Umständen sehr große Problemfelder wie jenes von Arbeitslosigkeit, von sozialer Ausschließung, von magelnden Qualifikationen, der jährlichen Autounfälle oder der
Kriminalität, die aber allesamt kein festgelegtes „Ablaufdatum" besitzen. Solche Probleme wälzen sich unter hohen sozialen Kosten Jahr für Jahr weiter und lassen sich in einem ganz wichtigen
Wortsinne zeitlich „verschieben".

Aus dieser Warte betrachtet bedeutet y2k das erste große gesellschaftliche Problem mit einem genau bekannten „Ausbruchsdatum", nämlich dem 1. Jänner 2000, das sich zeitlich zudem nicht über diesen
Tag hinaus verschieben läßt. Vom Koordinationsaufwand her betrachtet, müssen bis zum 31. Dezember 1999 im Prinzip Millionen an österreichischen volkswirtschaftlichen Akteuren für sich ein
erfolgreiches Umstellungsprogramm durchgeführt haben.

Neue Organisationsformen

An dieser Stelle sollte dann das Argument Platz greifen, daß für diese neuartige Kombination eines zukünftig punktgenau vorhersehbaren, sehr großflächigen Problembereichs ohne zeitliche
Verschiebemöglichkeiten auch entsprechende neue Organisationen zur Problembewältigung notwendig werden. Speziell in den Vereinigten Staaten, aber auch in Kanada oder in Großbritannien, wurde in den
letzten Jahren tatsächlich eine Reihe solcher neuartigen Organisationen aufgebaut. Bezogen auf die USA lassen sich die folgenden Organisationsentwicklungen feststellen:

Im Repräsentantenhaus und Senat werden seit 1996 regelmäßig durch neu gebildete Unterausschüsse „Hearings" zu wichtigen Bereichen der Infrastruktur (Strom, Telekommunikation u. a.) oder der
Wirtschaft (Banken, Transport usw.) durchgeführt und auch in regelmäßigen Abständen Bewertungen vorgenommen, wie erfolgreich und zeitgerecht sich einzelne Regierungsstellen und Behörden mit der y2k-
Umstellung auseinandersetzen.

Im Weißen Haus selbst wurde im Februar 1998 eine Stabsstelle zur Koordination der Regierungs- und Verwaltungsbereiche ins Leben gerufen. Darüber hinaus werden von Regierungsseite regelmäßig
Schwerpunktberichte zu den vielfältigen y2k-Problemen im Bereich der Sozialversicherung, des Gesundheitswesens oder anderer staatlicher Programme (Erziehung, Finanz usw.) herausgegeben. Y2k wird in
den USA graduell als neuartige gesellschaftliche Herausforderung gesehen · und die erste y2k-Rede von Präsident Clinton am 14. Juli dieses Jahres kann als ein deutlicher Vorstoß in diese Richtung
interpretiert werden.

Im Vergleich dazu muß festgehalten werden, daß in Kontinentaleuropa · vielleicht mit Ausnahme der Niederlande · keine ähnlichen organisatorischen Lösungsansätze auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar
werden. Allein um einen schnellen Aufholprozeß zum amerikanischen Modell in Gang zu bringen, müßte beispielsweise in Österreich eine sehr umfangreiche Liste an sofort notwendigen Maßnahmen im Bereich
der Regierung und Ministerien oder im Nationalrat umgesetzt werden: Enqueten und spezielle Ausschüsse im Nationalrat, Stabstellen in Regierung und Verwaltung usw.

Erinnern wir uns an die kleine kontrafaktische Geschichte von dem neuen Wunderstoff in der Papierindustrie zurück. Jene Regionen, die relativ früh das Umstellungsproblem als ein
gesamtgesellschaftliches Koordinationsproblem aufgefaßt und entsprechende Organisationen ins Leben riefen, waren auch jene, die den geringsten Schaden und teilweise sogar einen kleinen Nutzen
davongetragen haben. Zweifellos ist derzeit die organisatorische y2k-Infrastruktur in den USA, aber auch in Kanada bei weitem besser ausgebaut als in Europa. Aber selbst die US-Anstrengungen wurden
in einer kürzlich veröffentlichten Bewertung des Repräsentantenhauses insgesamt mit F klassifiziert · der Note für „failure" oder „nicht genügend". Die entsprechenden Noten für Deutschland oder
Österreich wären demgemäß wahrscheinlich mit einem Tripel-F zu charakterisieren.

Regierung und Verwaltung in Österreich benötigen eine neuartige und vor allem: eine schnelle Koordinationsstelle, welche die y2k-Aktivitäten der einzelnen Ressorts und Ämter (Statistisches
Zentralamt, Bundesrechenamt usw.) betreut und entsprechende Vorgaben setzt. Der Nationalrat muß über seine Möglichkeiten der Ausschußtätigkeiten und Enqueten sehr rasch eine erfolgreiche
Dauerbeobachtung und vor allem eine Bewertung der y2k-Umstellungen im staatlichen Bereich, aber auch in einzelnen Wirtschaftsfeldern und vor allem im Infrastruktursegment durchführen, um
gegebenenfalls auch Ressourcen auf besonders heikle Infratsrukturbereiche umleiten zu können. Und auch die vielfältigen kleinen und mittleren Unternehmen, die Medien, ja die gesamte Bevölkerung
müssen in eine neue Form des y2k-Dialogs eintreten, der für eine möglichst rasche Ausbreitung von relevanten y2k-Problemlösungen oder neuartigen Problemen sorgt.

Und damit schließt sich endgültig der Kreis, auch während der heißen Juli- und Augusttage des Jahres 1998 sehr ernsthafte Gedanken an den Jahreswechsel von 1999 auf 2000 zu reservieren.

Karl H. Müller leitet die Abteilungen Politikwissenschaft und Soziologie am Institut für Höhere Studien und beschäftigt sich mit dem Schwerpunkt „Dynamik von Wissens- und
Informationsgesellschaften".

Als Webseiten zur Situation in den Vereinigten Staaten vgl. u. a. http://www.y2ktimebomb.com/Washington/Congress/rpcrd9809.htm oder http://www.gao.gov/y2kr.htm.

Freitag, 28. August 1998

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