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Emil Abderhalden und die "Abwehrfermente" - Ein düsteres Kapitel Wissenschaftsgeschichte

Des Kaisers neue Kleider

Von Peter Markl

Die Fragen haben einige Sprengkraft: Wie konnte es kommen, daß man in Deutschland mehr als 40 Jahre lang sogenannten "Abwehrfermenten" diagnostische und therapeutische Wunderwirkungen zugeschrieb,
obwohl es diese Moleküle gar nicht gibt? Emil Abderhalden, einer der in der Hierarchie ranghöchsten klinischen Biochemiker Deutschlands, war von 1909 bis 1950 von ihrer Existenz überzeugt, obwohl es
bereits 1916, spätestens aber in den zwanziger Jahren, für die angelsächsischen Experten klar war, daß hier ein Irrtum vorliegt. Wieso haben in Deutschland die wissenschaftsinternen
Kontrollmechanismen so lange versagt? Wahrscheinlich ist der Fall Abderhalden ein weiterer Fall, der als Selbsttäuschung begann und in der Defensive gegen Kritik zum Betrug wurde. Wäre so etwas in
der biomedizinischen Forschung in Deutschland heute noch möglich?

Eigentlich sollte man glauben, daß es so etwas wie die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern unter Naturwissenschaftern nicht geben kann. Ein kühler Blick auf die "Fakten", wie man ihn
Wissenschaftern zutraut, hält im allgemeinen doch ihre Fantasie im Zaum. Nur: was in den Naturwissenschaften als "Faktum" gilt, hat mit unmittelbaren Sinneseindrücken, die im Märchen noch für Fakten
stehen konnten, nur mehr wenig zu tun. Was man sieht, ist schon gesehen im Licht von Theorien · sterblichen Theorien ·, welche die Interpretation der "unmittelbaren" Sinneseindrücke verzerren können.
Es sind diese Theorien, die jeden Naturwissenschafter von dem Kind im Märchen unterscheiden.

Das ist jedoch nicht der einzige Unterschied zu dem Kind, das dann darauf hinwies, daß der Kaiser keine neuen Kleider habe. Kinder sind nicht direkt Opfer von Macht. Die Macht des Kaisers trifft die
Erwachsenen. Es gehört Mut dazu, dem Kaiser zu widersprechen. Wenn der Erfolg der Wissenschaft vom persönlichen Mut einzelner Wissenschafter abhinge, wäre es um die Wissenschaft schlecht bestellt.
Was die Naturwissenschaften so erfolgreich macht, ist eine kritische Haltung, welche durch institutionalisierte Kritik gestützt wird. Die Institutionalisierung der Kritik sollte persönliches
Heldentum angesichts von wissenschaftlichen Machthabern eigentlich überflüssig machen.

Ute Deichmann und Benno Müller-Hill, welche den Fall Abderhalden ausgruben und darüber in der "Nature" eine Untersuchung veröffentlichten, sehen darin ein Paradebeispiel dafür, was geschehen
kann, wenn zwar die Formen des Wissenschaftsbetriebs oberflächlich eingehalten werden, die alle die einschlägigen Riten erst rechtfertigende kritische Haltung jedoch lange hinter Autoritätshörigkeit
und Existenzangst verschwunden sind. Es ist ein Symptom dafür, daß sich eine Gruppe von Wissenschaftern von der oft beschworenen offenen Gemeinde der Wissenschafter zu einem geschlossenen Stamm
verwandelt, in dem kritische Einstellung gegenüber in der Hackordnung Höherstehenden das letzte ist, was gefragt ist.

Steile Karriere

Emil Abderhalden war 1877 in der Schweiz geboren worden und hatte an der Universität Basel Medizin studiert, sich dann aber entschlossen, seinen Beruf nicht auszuüben. Er ging · was damals gerade
für einen Arzt sehr ungewöhnlich war · 1902 zu Emil Fischer nach Berlin. Fischer war einer der großen Stars der organischen Chemie. Manche halten ihn auch heute noch für den größten organischen
Chemiker, den es bisher gab. Er hatte 1902 gerade den Nobelpreis erhalten und war dabei, die damals noch in den Anfängen steckende Biochemie in der organischen Chemie zu verankern · wahrscheinlich
seine größte Leistung. Eines seiner Arbeitsgebiete waren Moleküle, die aus linearen Ketten von Aminosäureresten bestehen: kurzkettige Peptide und Proteine, die aus mehr als 100 solchen Bausteinen
bestehen.

Fischer war der erste, der Methoden zur Synthese von Petiden mit bis zu 18 Aminosäureresten ausarbeitete · Methoden, die übrigens heute alle durch bessere Verfahren überholt sind. Fischer war
allerdings auch an einer anderen Methode, zu kleinen Peptiden zu kommen, interessiert, nämlich am Abbau der langen Proteinketten durch Enzyme, die man damals viel häufiger als heute auch "Fermente"
nannte. Es gibt Enzyme · sogenannte Proteasen ·, welche die langkettigen Proteine in mehrere kleinere Bruchstücke zerschneiden können.

Ordinarius mit Dreißig

Abderhalden hatte in der ersten Phase seiner Arbeit bei Emil Fischer mehr Peptide synthetisiert oder isoliert als irgend jemand anderer in Deutschland. Er war jung und hatte auf Grund seiner
Arbeit und der Zugehörigkeit zur Schule von Emil Fischer · wie man damals wahrscheinlich gesagt haben würde · "den "Marschallstab im Tornister". Schon 1908, kaum über Dreißig, war er Ordinarius für
Physiologie an der Tierärztlichen Hochschule in Berlin. Was jetzt im Tornister noch fehlte, war eine eigene Forschungsrichtung, am besten in dem Gebiet zwischen organischer Chemie und Medizin.
Abderhalden fand sie in seiner Vision von der Existenz sogenannter "Abwehrfermente", die er bis zu seinem Tod 1950 für seine größte wissenschaftliche Leistung hielt, obwohl heute klar ist, daß es sie
nicht gibt.

Schon 1914 war eine Arbeit von dem deutsch-jüdischen Biochemiker Leonor Michaelis erschienen, in der er zusammen mit Maud Menten zeigte, daß ein auf Abderhaldens Abwehrenzymen basierender
Schwangerschaftstest Humbug war. Es war das Ende von Michaelis' Karriere in Deutschland, denn Abderhalden war mittlerweile die Karriereleiter steil nach oben geklettert: er war 1911 Professor für
Physiologie und Physiologische Chemie in Halle geworden. Daß er 1914 nicht auch noch Direktor eines Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physiologie wurde, hat der wirtschaftliche Zusammenbruch verhindert.

Obwohl er Schweizer war, ist Abderhalden im Ersten und Zweiten Weltkrieg in Deutschland geblieben · eine Treue, die ihm die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit beträchtlichen finanziellen Zuwendungen bis
1944 attraktiver machte. Als er 1950 starb, war er als Autor auf über 1.000 wissenschaftlichen Arbeiten genannt · allein das sollte stutzig machen ·, hatte wissenschaftliche Bücher geschrieben,
Handbücher herausgegeben und eine zeitlang quasi im Alleingang sogar eine Zeitschrift mit dem etwas kleinkarierten Namen "Ethik" redigiert.

Abderhaldens erste Arbeit über seine erträumten Moleküle · damals noch "Schutzfermente" getauft · erschien 1909. Nur drei Jahre später, 1912, erschien sein erstes Buch über Abwehrfermente, das auf
Anhieb ein Bestseller wurde: bis zum Jahresende 1914 waren davon schon drei weitere Auflagen gedruckt worden. Abderhalden vertrat darin die Ansicht, daß jedes Tier und natürlich auch jeder Mensch
spezielle Proteasen produziert, mit denen er sich gegen eingedrungene Fremdproteine zur Wehr setzt. Diese Abwehrfermente spalten die schädlichen Fremdproteine in kleine harmlose Peptide auf. Es
schien im Prinzip leicht, die Wirkung der Abwehrfermente nachzuweisen: man hatte sie nur mit Fremdproteinen zusammenzubringen und dann · nachdem man alle großen Moleküle durch Dialyse abgetrennt
hatte · die entstandenen kleinen Peptid-Bruchstücke nachzuweisen.

Wer heute die Arbeitsvorschriften liest, wundert sich darüber, daß der Test auf Gegenwart der Abwehrfermente nicht immer positiv ausging, und kann sich einen negativen Ausgang bestenfalls durch
Probleme bei der Detektion der Bruchstücke durch einen ganz unselektiven Test auf Aminosäuren erklären. Noch größer ist allerdings die Verwunderung darüber, daß man das nicht sofort entdeckte.
Abderhalden behauptete nämlich, daß die Abwehrenzyme die Basis eines neuen Schwangerschaftstests wären, bei dem man das Serum einer Frau mit einem Fremdprotein (einem denaturierten Protein aus einer
Placenta) zusammenbringt und dann nach den Abbau-Peptiden sucht. Im Fall des Serums einer nicht schwangeren Frau (oder eines Mannes) wäre da nichts zu finden.

Wieso man bei einem falsch positiven Ausgang eines solchen Tests · das Ausbleiben einer Schwangerschaft, die eigentlich hätte existieren sollen, ist ja nicht lang zu verheimlichen · nicht stutzig
wurde, ist ein Rätsel. Es scheint, als ob die Wissenschafter in Abderhaldens Sog jahrzehntelang bereit waren, zu akzeptieren, daß der große Professor die Pannen mit den verschiedensten Argumenten
"wegerklärte". Es war dieser Schwangerschaftstest, von dem Michaelis und Menten schon 1914 zeigten, daß er völlig unbrauchbar war. Sie hatten Wochen in Abderhaldens Laboratorium verbracht, um die
handwerklichen Aspekte des Tests in den Griff zu bekommen, aber ihr Urteil blieb unverändert: Sie fanden, daß es keinen Unterschied machte, ob man zum Test das Serum einer Schwangeren,
Nichtschwangeren oder eines Mannes einsetzte. Zu demselben Ergebnis kamen unabhängig davon 1915 und 1916 noch zwei amerikanische Gruppen.

Geschadet hat das in Deutschland nicht etwa Abderhaldens wissenschaftlicher Reputation, sondern der Karriere von Michaelis. Er verließ Deutschland 1922 und gelangte nach einer Zwischenstation in
Japan nach den USA, wo er Karriere machte. Im Jahr 1920 schrieb ihm sein Kollege Jaques Loeb: "Hier in den USA redet kein Mensch mehr von der Abderhalden-Reaktion und ich bin sehr überrascht
davon, zu sehen, daß Abderhalden in dieser Zeitschrift immer noch seinem Mythos anhängt." "In Deutschland", so antwortete ihm Leonor Michaelis, "kann man nur Erfolg haben, wenn man sich mit
praktischer, angewandter Wissenschaft beschäftigt · so schlecht die auch sein mag. Jeder, der in der reinen Grundlagenforschung arbeiten will, gilt als Spinner und irgendwann gibt er es auch auf. Für
mich ist die Art der Arbeiten von Abderhalden abstoßend. In Deutschland hat mein Ansehen wegen meiner Meinung über seinen Schwangerschaftstest gelitten. Es mag viele geben, die ihn durchschauen, aber
keiner traut sich etwas gegen ihn zu sagen."

Ute Deichmann und Benno Müller-Hill skizzieren in ihrer Arbeit die Geschichte der Abwehrfermente. In der 4. Auflage seines Buches zitiert Abderhalden nicht weniger als 451 Arbeiten über diese
Moleküle oder ihre Auswirkungen · Wirkungen, die wie die Moleküle selbst, wie man heute weiß, nicht existieren. Man verwendete sie als Basis klinischer Tests von Sarcomen und anderen Carcinomen,
diagnostizierte Infektionskrankheiten wie Syphilis oder Geisteskrankheiten, wie Schizophrenie. Mit Hilfe von Adolf Mengele und seinen Experimentiermöglichkeiten in Ausschwitz wollte der
Humangenetiker Otto von Verschuer, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie in Berlin, sogar herausfinden, ob Angehörige verschiedener Rassen, die man mit Infektionskrankheiten
infiziert hatte, sich in bezug auf die Produktion von Abwehrfermenten unterschieden. Noch 1950 · schon nach Abderhaldens Tod · behauptete sein Sohn Rudolf Abderhalden, daß man mit Hilfe der
Abwehrfermente die optimalen Zelltypen für eine "Frischzellentherapie" · eine besonders gefährliche Form der Quacksalberei · herausfinden könnte.

Loyale Schüler

Benno-Müller Hill, Genetiker am Institut für Genetik der Universität Köln und Spezialist für die Geschichte des Mißbrauchs der Genetik vor allem auch durch die Nationalsozialisten, sieht die
Umstände, die all diesem Humbug so langes Leben verschafften, noch nicht ausgestorben. Damals, so schreiben die Autoren als letzten Absatz ihrer Arbeit, "hielt man Deutschland für das in der
medizinischen Wissenschaft führende Land. Es ist eine verstörende Geschichte, wenn man sich darüber klar wird, daß sie 1950 mit dem Tod Abderhaldens nicht endete. Die Abwehrfermente verschwanden zwar
in den sechziger Jahren aus der Literatur, aber niemand schrieb einen klärenden Nachruf. Die heutige Elite besteht aus loyalen Schülern der alten Elite, sie haben die alten Werte gelernt und
institutionalisiert. Hat sich die klinische, wissenschaftliche Medizin im Deutschland von heute wirklich so einschneidend geändert? Wir bezweifeln das".

Als Beleg für dieses umstrittene Urteil führen sie an, daß man im Mai 1997 die bestürzende Entdeckung machte, daß deutsche Krebsforscher für · dem jüngsten Stand der Untersuchung nach · ingesamt 47
"gefälschte oder unter hohem Fälschungsverdacht stehende Arbeiten" verantwortlich sind: "Der prominenteste Autor einer Forschungsarbeit kann der Direktor eines Spitals sein. Die Welt der
Wissenschaft ist aber offensichtlich sehr verschieden von der Welt eines Patienten, der eine optimistische Prognose der einfachen Wahrheit vorzieht. Es ist für den Direktor eines großen Laboratoriums
schwierig genug, sich über die Gültigkeit aller der experimentellen Details seiner Mitarbeiter einen Eindruck zu verschaffen, aber das ist für einen Arzt, der als Direktor einer Klinik auch für viele
Patienten verantwortlich ist, offensichtlich nicht mehr möglich. Er muß seinen Mitarbeitern vertrauen können, obwohl er eine Autorität ist. Unter solchen Umständen kann die Wahrheit diskret
verschwinden. Die Brach-Herrmann-Mertelsmann-Affäre ermöglicht einen kurzen Blick in den Abgrund der medizinischen Wissenschaft in Deutschland. Wird sie die medizinische Elite schnell wieder
vergessen oder wird es diesmal wirklich Veränderungen geben, die vom Geist der wahren Wissenschaft getragen werden?"

Literatur:

Ute Deichmann und Benno Müller-Hill: The fraud with Abderhaldens enzymes. "Nature" Vol. 393, Heft vom 14. Mai 1998.

Freitag, 17. Juli 1998

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