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Notizen zu Erwin Chargaff

Zeuge des Untergangs

Von Gerald Schmickl

Wie kommt es, daß man stets aufs neue ausdrücklich darauf hinweisen muß, welch
exzellenter Essayist Erwin Chargaff ist, obwohl er ja bereits seit Jahrzehnten publiziert?
Ich glaube, nebenstehender Artikel des - wie er sich selbstironisch bezeichnet -
"behördlich anerkannten skeptischen Pessimisten" zeigt beides: einerseits, welch
famoser Stilist und beißender Spötter er ist, anderseits aber auch, warum er sich bis
heute keiner großen Beliebtheit erfreut. Chargaff ist kein bequemer Denker: seine
Prognosen sind unheilverkündend, seine Bonmots sarkastisch, seine Kritik
schonungslos. Er ist - trotz seines fast biblischen Alters - kein abgeklärter Weiser, was
oft nur die noble Umschreibung für sanftmütige Senilität ist, auch kein moralischer
Mahner mit apokalyptischem Ernst, nein, er ist ein trotziger, zorniger und spöttischer
Zeuge - ganz im Sinne von Kierkegaards Tagebuchnotiz: "Ein einzelner Mensch kann
einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, daß sie untergeht."
Chargaff drückt das unermüdlich und unumwunden aus, in klaren, ausdrucksstarken
Worten; so auch in seinem neuen Essayband, der seine alten Themen versammelt: die
Hybris der Naturwissenschaften und ihr fatales Gestocher in den wichtigsten Kernen
(jenen des Atoms und der menschlichen Zelle), der globale Verfall der Kultur und die
allgemeine Verblödung der Welt (von Amerika machtvoll ausgehend). Sein
thematisches Repertoire ist klein, seine stilistische Palette dafür um so größer. Wie er
das Immergleiche (bzw. in seinem Sinne immer schlechter Werdende) in immer neuen
Wendungen geißelt, ringt einem - auch wenn man nicht derart pessimistisch gestimmt ist
- höchsten Respekt ab. Die Frage ist freilich: wie geht man jenseits stilistischen
Wohlgefallens mit dieser Lektüre um? Chargaff läßt ja keine Schlupfwinkel mehr offen:
für ihn ist alles hin - somit auch jene Nischen, in denen man sich, wie auch immer
bedrängt von den katastrophalen Zeitläufen, wenigstens noch irgendwie über jene
schwarzhumorig amüsieren könnte. Man müßte also verzweifeln - und tut's doch nicht,
ebensowenig wie Chargaff selbst (der es wahrscheinlich für eine überflüssige, hohle
Attitüde hielte), denn zumindest diese Nischen gibt es recht wohl, in denen man den
traurigen Tatsachen noch sarkastische Pointen abtrotzen kann, wie etwa folgender
böser Apercu Chargaffs deutlich zeigt: "...daß der Himmel dafür sorgt, daß die Bäume
nicht in ihn hineinwachsen. Jetzt, da diese es vielleicht könnten, dank den wunderbaren
Latwergen der Gentechnik, können sie es wieder nicht, weil sie mit dem Absterben
beschäftigt sind." Wozu man sich von Chargaff - trotz all seiner entmutigenden Dia- und
Prognosen - ermutigen lassen kann: zum individuellen Widerstand gegen die Tyrannei
des Fachidiotentums, wie es uns heute von allen Seiten großmäulig entgegentritt. "Sich
nicht blöde machen lassen", nennt er es selbst ganz einfach und treffend in seinen
Plädoyers für einen klaren Kopf und gegen den Nebel der Meinungsmacher, deren
Sprühregen tagtäglich auf uns niedergeht. Skepsis und Unbeeindruckbarkeit: diese
Tugenden - die einzigen probaten Gegengifte zur Massensuggestion - lehrt und stärkt
die Lektüre seiner Essays, vielleicht auch noch den Mut zur Selbstbeschränkung, in
Zeiten allgemeiner Schrankenlosigkeit. Das ist die spürbare Energie dieser Zeilen, die zu
den ausformuliertesten und überzeugendsten Verteidigungen des Common Sense
zählen, die ich kenne. Sie sind - in ihrer beharrlichen Insistenz - indirekte Aufrufe zu
einem ausgesprochen natürlichen Denken, das vom unaussprechlich Unnatürlichen
begrenzt ist. Ein Grund für das relative (freilich nicht ganz so radikal wie von Chargaff
etwas wehleidig behauptete) Desinteresse an seinen Schriften könnte allerdings der
Umstand sein, daß er seine Leser in einer gänzlich idiotisch gewordenen Welt
logischerweise auch zu Idioten erklärt. Und manchmal ist das gar nicht so abstrakt, wie
hier etwas gewunden zur Andeutung gebracht. Mitunter fühlt man sich schon ganz
direkt heruntergemacht, sei's durch die Zitat- Huberei und die demonstrative
Bildungsbeflissenheit (die freilich - als Art Selbstbestätigung für Chargaff - ihm recht
gibt: daß nämlich wirklich fast niemand heutzutage mehr in der Lage ist, das alles zu
kennen und somit zu beurteilen), aber auch durch die kollektive Kritik an einer
Gegenwart, in die man zwangsläufig inkludiert ist. Also schmeichelhaft ist Chargaff zu
seinen Lesern nie. Aber das macht nichts, auch Karl Kraus, den er spürbar verehrt,
war es nie - und daraus beziehen diese raffinierten Kulturkritiken ja auch einen Gutteil
ihrer offensiven Wirkung! Erwin Chargaff: Ein zweites Leben. Autobiographische
und andere Texte. Klett-Cotta 1995, 279 Seiten. Das Feuer des Heraklit.
Skizzen aus einem Leben vor der Natur. Deutscher Taschenbuch-Verlag 1995,
243_Seiten.

Montag, 25. Mai 1998

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