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Über Betrug und Irrtum in der Wissenschaft

Gefärbte Knochen und Polywasser

Von Hans-Jürgen August

Heiß soll der Sommer 1898 in Minnesota gewesen sein, und die Landarbeit mit der Spitzhacke eine schweißtreibende Angelegenheit. Doch was Olof Ohman beim Versuch, eine Espe aus seinem
zukünftigen Garten zu entfernen, zutage förderte, sollte seine Mühen belohnen: Ein etwa 40 cm breiter und 80 cm langer Stein, mit einer leicht entzifferbaren Runeninschrift, derzufolge 30
Skandinavier dieses Land westlich der Großen Seen schon im Jahre 1362 aus Vinland kommend betreten hatten. Ein wunderbarer Fund, bestätigte er doch, daß schon 500 Jahre vor der weißen Besiedlung
nordische Entdecker bis weit in den amerikanischen Westen vorgedrungen waren. Schade nur, daß schon 1899 O. J. Breda von der Universität von Minnesota und der norwegische Forscher Sophus Bugge den
Runenstein von Kensington als plumpe Fälschung bezeichneten. Olof Ohman machte das Beste daraus, indem er den Stein in seine Hausmauer einbaute.

Die Angelegenheit wäre also als mißlungener Scherz ad acta gelegt worden, wäre 1907 nicht der Sachbuchautor Hjalmar Rued Holand auf den Stein aufmerksam geworden. Ein Besuch bei Ohman entzündete in
ihm die Flamme des fanatischen Missionars. Mit unermüdlichem Einsatz, in Veröffentlichungen und zahllosen Vorträgen versuchte er den Runenstein als echt darzustellen. 1948 schien er seinem Ziel ein
wichtiges Stück nähergekommen zu sein, als der Stein in der ehrwürdigen Smithsonian Institution in Washington ausgestellt wurde. Die Skeptiker, unter ihnen der Schwede Sven B. F. Jansson, wiesen auf
sprachliche Ungereimtheiten hin: Einige der verwendeten Runen seien 1362 bereits ausgestorben gewesen, andere noch gar nicht erfunden worden.

Dennoch schwelte der Streit noch lange weiter. 1958 wies Erik Wahlgren nochmals nach, daß es sich bei diesem angeblich historischen Dokument um eine Fälschung handelte, und berichtete auch, daß Ohman
ein auffallend zerlesenes Buch über Runen besaß. Ganze Passagen aus diesem Buch fanden sich auf dem Stein von Kensington wörtlich wieder.

Zwei Aspekte dieser Geschichte sind charakteristisch für viele Dokumenten- und Wissenschaftsfälschungen: Zum einen das Motiv, der Öffentlichkeit und mehr noch der Fachwelt einen Streich spielen
zu wollen. Zum anderen der nationalistische oder allgemein ideologische Eifer, der oft als Treibstoff dient, wenn eine Fälschung auf die Reise geschickt wird. In diesem Fall spielte er die
Hauptrolle, denn keiner der Beteiligten zog irgendeinen finanziellen Nutzen. Doch um die Entdeckung Amerikas durch Nordeuropäer war um die Jahrhundertwende eine nationalistische Debatte entbrannt, an
der sich die Kolumbus propagierenden Südeuropäer mit gleichen Eifer beteiligten.

Auf ähnlichen Fundamenten fußte die wohl noch immer bekannteste Wissenschaftsfälschung: 1908 fand Charles Dawson in der Nähe des südenglischen Piltdown Schädelfragmente, Zähne und einen Unterkiefer.
Holand hatte zu dieser Zeit gerade seinen Runenstein entdeckt, aber was wichtiger war: 1858 war der Neandertaler gefunden und auf ein Alter von ca. 60.000 Jahre geschätzt worden, 1907 der
Homo heidelbergensis ausgegraben worden. Charles Darwin hatte 1859 mit seinen Thesen "Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" eine Lawine an Untersuchungen, Theorien und
heftigen Diskussionen ausgelöst und 1871 mit der Veröffentlichung "Die Abstammung des Menschen" weiter angeheizt. Man ging davon aus, der Mensch stamme direkt vom Affen ab, und die Suche nach
dem "Missing link", dem fehlenden Bindeglied in der Evolutionskette, wurde auch außerhalb der Fachwelt populär. Die führenden Evolutionstheoretiker kamen aus Großbritannien, da schmerzte es schon,
daß der Urmensch ein "Deutscher" gewesen sein sollte oder gar der 1868 in Frankreich gefundene Cro-Magnon-Mensch. Wie gerufen kam der Fund des "Eoanthropus dawsoni": Der Schädel war groß, wies also
auf ein weitentwickeltes Gehirn hin, der Kiefer dazu sah hingegen viel älter aus als jene der kontinentaleuropäischen Konkurrenten. Auf ein Alter von 200.000 Jahren wurde er geschätzt. Dem Jubel
folgte die Ernüchterung, als sich 1953 aufgrund neuer Datierungsmethoden herausstellte, daß der "Urbrite" aus einem neuzeitlichen Menschenschädel und einem Affenkiefer zusammengebastelt worden war.

Fast ebenso lang wie die Aufdeckung der Fälschung dauerte das Rätselraten um den Täter. Erst 1996 entlarvte der Londoner Paläontologe Brian Gardiner den Scherzbold: Martin Hinton, zur Tatzeit ein
hochbegabter Student und später gar Kurator für Zoologie am Natural History Museum in South Kensington, war der Schöpfer des "Eoanthropus dawsoni". Schon mit sechzehn hatte Hinton seine erste
wissenschaftliche Veröffentlichung vorgelegt. Eine in jeder Hinsicht hochinteressante Arbeit übrigens, in der Hinton zeigte, wie Fossilien ihre typische braune Färbung - im Laufe von vielen
Jahrtausenden, versteht sich - durch Kontakt mit Eisen- und Manganoxid erhielten.

Hinton wie Ohman ging es im wesentlichen um einen "Practical joke" und nicht darum, mit allen Mitteln reich und berühmt zu werden. Hinton, im Gegensatz zu Ohman profunder Kenner der Materie, die er
fälschte, ging jedoch wesentlich durchdachter ans Werk. Den arglosen Hobbyarchäologen Dawson, den er persönlich kannte, ließ er den Jahrhundertfund machen, während er selbst sich im Hintergrund
hielt. Eine ideale Position, um mit entspannter Freude zu beobachten, wie auch sein Vorgesetzter Smith Woodward, mit dem er im Streit lag, auf den Scherz hereinfiel.

Doch Fälschungen von Dokumenten oder Materialien waren beileibe keine Erfindung des 19. Jhdts. Schon griechische Städte erfanden ihre Chroniken, um Rechtsansprüche erheben zu können. Ein
Beispiel ist die Lindische Tempelchronik (99 v. Chr.), in der fiktive Schenkungen, Reliquien und anderes mehr aufgeführt sind. Die wohl berühmteste Dokumentenfälschung der Geschichte entstand jedoch
in päpstlichen Schreibstuben. 751 bestieg Pippin mit Zustimmung von Papst Zacharias den Thron der Franken und übergab den eigentlichen Thronfolger Childerich III, den letzten Merowinger, der
Obhut eines Klosters. Pippin, ebenso gottesfürchtig wie leicht lenkbar, zögerte nicht, dem Papst im Gegenzug Teile Italiens (die ihm nicht einmal gehörten) zu schenken. Moralische Bedenken wußte die
Kirche auszuräumen, forderte sie doch nur, was ihr seit über vier Jahrhunderten zustand. Schon Kaiser Konstantin I, der 306-337 regierte, hatte, wie in einem besonders guterhaltenen Dokument
nachzulesen war, dem damaligen Papst Silvester I nicht nur Rom und Italien, sondern den gesamten Westen des römischen Reiches geschenkt. Ein großzügiges Geschenk, Dank für die Heilung vom Aussatz.

Die Langobarden, zur Zeit Pippins die Herren Italiens, zeigten sich von der Idee des neuen Kirchenstaates, der mitten in ihrem Gebiet entstehen sollte, nicht begeistert. Über fünfzig Briefe schickte
der Papst an Pippin, und schließlich griff gar der Apostel Petrus (sic!) selbst zur Feder, um den Frankenkönig zu überzeugen, daß er der Kirche mit Waffengewalt zu ihrem seit Jahrhunderten
mißachteten Recht verhelfen müsse. In der Folge entstand ein Staat, der wie kaum ein anderer die Jahrhunderte in nahezu gleichbleibender Form überlebte. Dies, obwohl schon sehr früh Zweifel an der
Echtheit der Konstantinischen Schenkung aufkamen. Kaiser Otto hielt sie um die Jahrtausendwende ebenso für eine Fälschung wie Kaiser Friedrich II im 13. Jhdt. Als Papst Alexander VI mit Hinweis auf
die Konstantinische Schenkung von den Venezianern die Übergabe der adriatischen Inseln verlangte, höhnten diese, er solle doch bitte den Vermerk auf der Rückseite der Urkunde lesen, wonach das
adriatische Meer Venedig gehöre. 1440 war es Laurentius Valla, päpstlicher Sekretär und Domherr, der den Schwindel aufdeckte. Die römisch-katholische Geschichtsschreibung brauchte weitere vier
Jahrhunderte, bis auch sie den Betrug zugab. Das Patrimonium Petri existierte bis 1860/70, bis zur Einigung Italiens.

Fälschung und Betrug waren im Mittelalter offenbar Kavaliersdelikte, und die meisten Kavaliere saßen dem Kirchenhistoriker Karlheinz Deschner und dem Princeton-Professor Anthony Grafton zufolge in
den Schreibstuben der Klöster. So enthält etwa das Decretum Gratiani, das Lehrbuch des Kirchenrechts, ungefähr 500 gefälschte Rechtsdokumente, so Grafton. Erst mit Beginn der Renaissance gelang
es humanistischen und kirchenkritischen Gelehrten wie Erasmus von Rotterdam (1465-1536) oder Isaac Casaubon (1559-1614), den Dschungel von Fälschungen, der über Jahrhunderte gewuchert war, mit dem
Messer genauer Analysen ein wenig zu lichten.

Wie es in früheren Jahrhunderten gefährlich war, die Autorität der Kirche und die Richtigkeit ihrer Dogmen anzuzweifeln, wurde auch in der Sowjetunion wissenschaftliches Abweichlertum
meist mit Verbannung und Tod bestraft. Hier wie dort führten Dogmatik und politische Interessen dazu, daß an offensichtlich falschen naturwissenschaftlichen Überzeugungen mit aller Macht festgehalten
wurde. Was für die Kirche der Fall Kopernikus/Galileo und die Verdammung des heliozentrischen Weltbildes ist, ist für die Sowjetunion der Fall Lyssenko.

Trofin Denissowitsch Lyssenko wurde 1898 als Bauernsohn geboren. Nach dem Studium der Agronomie entwickelte er Theorien zur Verbesserung des Saatgutes und der Ernteerträge. Schon 1929 meldete er
erste Erfolge: Seine Winterweizensaat, die er im Frost überwintern ließ, lieferte angeblich 30 Zentner Ertrag je Hektar. Tatsächlich waren es 24 Zentner gewesen, doch diese kleine Ungenauigkeit tat
der Karriere Lyssenkos keinen Abbruch, dafür sorgte sein Mentor, der Volkskommissar für Landwirtschaft Jakowlew. 1934 endete der Versuch, Leinsamen im Schnee auszusäen, in einem Fiasko - die Saat
schimmelte und faulte. Schuld war jedoch -so Lyssenko - nicht seine Methode, sondern die Sabotage durch volksschädigende Agronomen, die sogleich nach Sibirien geschickt wurden.

Politische Repression war es auch, die Lyssenkos Versuche manchmal erfolgreich erscheinen ließen. Denn in der Furcht, bei Fehlschlägen als Saboteure und Kollaborateure des Klassenfeindes bestraft zu
werden, meldeten viele Kolchosen und Sowchosen an die Moskauer Zentralbüros Ertragszahlen, die nicht eine Waage angezeigt, sondern die Angst diktiert hatte.

Wie die Schadenssumme seiner Versuche erklomm Lyssenko selbst ungeahnte Höhen und wurde schließlich Präsident der Lenin-Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften. Aus heutiger Sicht erscheint
dies schwer erklärbar, doch wird es vor dem ideologischen Hintergrund verständlich. Lyssenkos naturwissenschaftliche Theorien waren stets im Einklang mit den politisch-ideologischen, und er verfügte
über genug rhetorisches Können, diese Verquickung auf Kongressen und Parteiveranstaltungen deutlich zu machen. An seinen Theorien zweifeln hieß somit an den Grundfesten der sozialistischen
Gesellschaft rütteln, und daß dies nicht geduldet werden konnte, war nicht nur Stalin, sondern auch Chruschtschow klar. So wie zu dieser Zeit aus ideologischen Gründen die Relativitätstheorie
abgelehnt wurde, galt auf biologischem Gebiet der Kampf dem "Mendelismus-Morganismus-Weismannismus". Diese Genetik, wie sie im Westen vertreten wurde, sah den Menschen wesentlich durch seine
Erbanlagen bestimmt · dies stand natürlich in krassem Widerspruch zur Überzeugung, der Mensch werde durch die Gesellschaft geformt. (Diese beiden Pole spiegeln sich · abgeschwächt · noch heute im vor
allem in den USA in den Humanwissenschaften erbittert und nicht selten mit wissenschaftlichen Fälschungen geführten Kampf zwischen "Biologisten" und "Behaviouristen" wieder.) S. W. Kaftanow, Mini
ster für Höheres Erziehungswesen, verstieg sich gar zu der Behauptung, in einer "fortschrittlichen, sozialistischen Gesellschaft" könne es keine Erbkrankheiten geben. Die Existenz von Genen
wurde noch zur Zeit des Zweiten Weltkriegs geleugnet.

In Übereinstimmung mit der Parteidoktrin war Lyssenko nicht nur überzeugt, die Eigenschaften eines Lebewesens ließen sich weitestgehend formen, sondern vertrat die Ansicht, diese erworbenen
Eigenschaften würden sich vollständig weitervererben. "Anything goes", mußte sein Schüler Boschjan wohl gedacht haben, als er verkündete, Bakterien in Viren verwandeln zu können und vice versa,
was dann aber doch als Fälschung auffiel. Lyssenkos Sturz kam mit jenem Chruschtschows, der bis zuletzt treu zu ihm gehalten hatte. Zu groß war die Schande, als die Sowjetunion 1963/64 erstmals
amerikanischen Weizen importieren mußte, um Hungersnöte zu vermeiden, zu offensichtlich war, daß sich die biologischen Merkmale von Weizen nicht zum Wohle des Sowjetvolkes umerziehen ließen.

1965/66 fiel an sowjetischen Schulen der Biologie-Unterricht aus · die zuständigen Stellen hatten erkannt, daß der Inhalt der Lehrbücher einer grundlegenden Revision bedurfte. Etwa zur gleichen Zeit
führte Nikolai Fedyakin an der etwa 300 Kilometer von Moskau entfernt gelegenen Hochschule von Kostruma ein Experiment durch, dessen Ergebnisse noch zehn Jahre später für Aufregung vor allem in
westlichen Medien sorgen sollten. Schon Lord Kelvin (1824-1907) hatte gezeigt, daß Wasser, liegt es in feinsten Tröpfchen vor, andere Eigenschaften hat als wenn es in großen Mengen vorkommt (z.B.
einen geringeren Dampfdruck). Ebenfalls anerkannt war, daß an feste Oberflächen grenzende Flüssigkeiten besondere Eigenschaften besitzen.

Am intensivsten wurde die Physik der Flüssigkeitsoberflächen in der Sowjetunion vorangetrieben. Ein beliebtes Experiment war, das Verhalten von Flüssigkeiten in sehr dünnen Kapillaren zu untersuchen,
und was Nikolai Fedyakin Anfang der Sechziger in seiner Provinzhochschule beobachtete, sah sensationell genug aus, um die Physik der Oberflächen und Flüssigkeiten zu revolutionieren: Ohne äußere
Einwirkung teilte sich die Wassersäule in der Kapillare in zwei Abschnitte, die durch einen Bereich ohne Flüssigkeit getrennt wurden. Die Leitung der weiteren Untersuchungen zog Boris Deryagin,
Direktor des Laboratoriums für Oberflächenkräfte des Moskauer Instituts für Physikalische Chemie an sich. Tatsächlich ließ sich Fedyakins Experiment mit gleichem Ergebnis wiederholen. Die
Reproduzierbarkeit, das wichtigste Kriterium naturwissenschaftlicher Experimente, war also gegeben. Die Untersuchung des Wassers im oberen Abschnitt der Kapillare lieferte sensationelle Ergebnisse:
Die Dichte war um etwa 40% höher als bei üblichem Wasser, der Siedepunkt lag bei 250 Grad Celsius.

Der ersten Veröffentlichung im Jahr 1962 folgten einige weitere, allesamt jedoch in sowjetischen Fachzeitschriften. Da westliche Wissenschaftler meist nicht Russisch sprachen und nur die bekanntesten
Fachzeitschriften übersetzt wurden, blieb das Echo im Westen zunächst aus. Doch als Deryagin 1966 in Nottingham an einem Symposium teilnahm, ließen seine Berichte die westlichen Forscher aufhorchen.
Dies lag auch an den Randbedingungen: Mitte der Sechziger hatten sowjetische Forscher vor allem in der Weltraumtechnik einen Vorsprung, der im Westen als beängstigend empfunden wurde. Sputnik hatte
1957 sein Funksignal gesendet und Juri Gagarin 1961 als erster Mensch die Erde im Weltraum umkreist. Kennedy hatte zwar zur Aufholjagd geblasen, doch noch war das Rennen nicht gewonnen, noch lag die
Mondlandung in ungewisser Zukunft. Verstärkt durch politische Zwischenfälle wie den Bau der Berliner Mauer oder die Kubakrise war man überzeugt, daß jeder Etappensieg entscheidend sein könnte.

Wenn also die Russen einer neuen Form von Wasser, dieses elementarsten Grundstoffs, auf der Spur waren, so hieß es, diese Spur aufzunehmen und zu verfolgen. Außerdem war Deryagin im Gegensatz zu
Lyssenko als ernstzunehmender Wissenschaftler bekannt und die Oberflächenphysik im Gegensatz zur Genetik nicht der Ideologie des Moskauer Politbüros unterstellt. Was der zurückhaltende Russe in
Nottingham erzählte, klang auf jeden Fall interessant, seine Spekulationen sensationell. "Es gibt sehr überraschende Momente", sagte er, "wenn sehr, sehr kleine Konzentrationen gewisser Verbindungen
in Wasser gelöst sind, und solche Konzentrationen haben z.B. Auswirkungen auf das Herz eines Froschs." Auch spekulierte er, Wasser könne sich möglicherweise an den früheren Kontakt mit der
Quarzoberfläche der Kapillare "erinnern" und dadurch seine Eigenschaften bleibend, also auch außerhalb der Kapillaren ändern. (Überlegungen, die übrigens an jene aktuellen zur Wirkungsweise der
Homöopathie erinnern.)

Weit dramatischer war jedoch die Bemerkung, anomales Wasser sei die eigentlich stabile Form des Wassers. Im Laufe der Zeit sei daher mit einer vollständigen Umwandlung des normalen Wassers in seine
stabile Form zu rechnen. Von hier zum folgerichtigen Schluß, daß dies sämtliches Leben auf der Erde auslöschen würde, war nur ein kleiner Schritt. Brian Pethica, Direktor des 800 Mitarbeiter starken
Unilever-Forschungzentrums bei Liverpool, witterte in anomalem Wasser aber auch einen Stoff, der die Lebensmitteltechnik und Biologie revolutionieren könnte. Zahlreiche britische Wissenschaftler
unterbrachen ihre laufenden Forschungsprojekte, um sich ganz und zunächst geheim dem anomalen Wasser widmen zu können.

Viele britische Forschungseinrichtungen wurden damals von amerikanischen Stellen subventioniert, die sich im Gegenzug über Verbindungsoffiziere vom Stand der Forschung unterrichten ließen. Die
britischen Wissenschaftler, damals wie heute ernste Konkurrenten der Amerikaner, verstanden es aber offenbar gut, die amerikanischen Agenten mit all jenen Informationen zu sättigen, die sie selbst
für nutzlos hielten. Erst 1968 trug Pethica die Kunde vom anomalen Wasser über den Atlantik und löste damit eine Lawine an Untersuchungen aus. Ellis R. Lippincott, ein führender amerikanischer Spek
troskopiker, meldete 1969, die Spektren, die bei anomalem Wasser gemessen würden, unterschieden sich von allen bisher bekannten. Und er lieferte gleich einen Namen für dieses neue Material,
das er sich in der Form polymerisierter Wasseratome vorstellte: Polywasser. F. J. Donahoe vom Wilkes-College in Pennsylvania schrieb, er halte Polywasser für das gefährlichste Material auf Erden ·
hatte nicht schon Deryagin die Umwandlung allen Wassers der Erde in Polywasser prognostiziert?

Keine Frage: Sollten sich die Spekulationen über Polywasser bewahrheiten, so war diese Entdeckung mindestens so wichtig wie jene der Elektrizität und weit folgenschwerer als etwa die der
Kernspaltung. Entsprechend hektisch reagierte der Wissenschaftsbetrieb.

Doch als die Amerikaner Leland Allen und Peter Kollmann die These vom Polywasser mit quantentheoretischen Berechnungen zu stützen versuchten, waren die skeptischen Stimmen einiger Experimentatoren
schon lauter geworden. Im Laufe der Jahre 1970 und 1971 schmolz die Vision vom Polywasser im Lichte genauerer Untersuchungen dahin wie völlig normales Eis in der Sonne. Im März 1970 meldete Dennis
Rousseau von der University of Southern California, Polywasser bestehe vor allem aus Natrium- und Kalium-Verunreinigungen, Stoffen, die aus den Quarzkapillaren ausgelaugt wurden. Kurz darauf erklärte
Lippincott, seine vormals einzigartigen Spektren seien durch Gemische organischer Säuren ebenfalls herstellbar, im Jänner 1971 distanzierte sich Pethica von Polywasser, im Oktober 1971 brachten neue
quantentheoretische Berechnungen Allen und Kollmann zu Ergebnissen, die jenen in deren ursprünglichen Arbeiten "diametral entgegengesetzt" waren.

Deryagin selbst ließ sich bis 1973 Zeit, bis er in einem Brief an "Nature" eingestand, daß die Eigenschaften des anomalen Wassers "auf Verunreinigungen und nicht auf die Existenz von
polymeren Wassermolekülen zurückzuführen" waren. Anders als bei allen zuvor genannten Fällen lag dem Fall Polywasser keine Betrugsabsicht zugrunde, sondern ein simpler Irrtum, der aufgrund
experimenteller Probleme (in diesem Fall der Unmöglichkeit, Polywasser in größeren Mengen herzustellen), einige Jahre lang unaufgedeckt blieb.

Interessante Parallelen hierzu weist ein anderer Fall auf, der 1989 begann. Wieder geht es um ein hinsichtlich der benötigten Apparate einfaches Experiment, wieder um ein Thema, das für die
menschliche Zivilisation von zentraler Bedeutung ist. Und wieder spielten die Massenmedien eine gewichtige Rolle. Noch bevor sie einen wissenschaftlichen Artikel hierzu veröffentlichten, meldeten
Martin Fleischman und Stanley Pons, damals beide an der University of Utah tätig, in einer Pressekonferenz, ihnen sei die sogenannte "kalte Fusion" gelungen. Die Tragweite dieser Behauptung
wird dann deutlich, wenn man bedenkt, daß die "heiße" Kernfusion in unkontrollierter Form bei der Explosion der Wasserstoffbombe und im Inneren der Sonne stattfindet. Die hohen Energien, die dabei
freigesetzt werden, versuchen internationale Wissenschaftlerteams seit Jahren mit wenig Erfolg in kontrollierter Form zu nutzen.

Was also Hunderten Forschern mit Milliardenbeträgen und haushohen und hochkomplexen Apparaturen nicht gelungen war, das wollten Fleischman und Pons mit etwas erreicht haben, was im Grunde nicht mehr
als eine Batterie aus etwas exotischeren Materialien war. Schickte man in diese Batterie Energie hinein, so erhielt man die vierfache Menge zurück. Das bedeutete nicht weniger als die Lösung aller
Energieprobleme. Wieder wurde weltweit in Hunderten Laboratorien versucht, dieses Experiment nachzuvollziehen, und die Ergebnisse lieferten jenes Bild, das für die Wissenschaft das unangenehmste ist:
Fleischmans und Pons' Resultate konnten weder eindeutig widerlegt noch eindeutig bestätigt werden. Mal wurde kein Energiegewinn gemeldet, mal waren es 30%, ein andermal 150%. Exakt reproduzierbar,
das geben auch die meisten Verfechter der kalten Fusion zu, sind die Ergebnisse nicht.

Dennoch floß nicht wenig Geld in weitere Untersuchungen. Amerikanische Institutionen wie die Electric Power Research Industry und vor allem japanische Stellen wie das MITI und Unternehmen wie
Toyota investierten zunächst großzügig. Bis heute ist der Streit um die kalte Fusion nicht beendet, das Spektrum der Meinungen weit. Neben völliger Ablehnung und völliger Zustimmung gibt es moderate
Stimmen, denen zufolge die berichteten Effekte nicht auf kalte Fusion zurückzuführen seien, es aber möglich sei, daß sich in der "Batterie" bislang unbekannte chemische Prozesse abspielten.

Die Grenze zwischen Betrug und Irrtum zu ziehen fällt in diesem Fall besonders schwer. Als die angesehene italienische Tageszeitung "La Repubblica" schrieb, die Kalte Fusion sei ein
"wissenschaftlicher Schwindel", wurde sie von Fleischman, Pons und einigen italienischen Kollegen geklagt. Die Forscher verloren den Prozeß zwar, doch ist anzunehmen, daß zumindest sie selbst
von der Richtigkeit ihrer Ergebnisse überzeugt waren (und sind).

Neben dem Motiv des mehr oder weniger bösgemeinten "Bubenstreiches" (wie beim Runenstein und beim Piltdown-Schädel) und dem politisch-ideologischen Hintergrund (etwa im Mittelalter oder bei Lyssenko)
spielt in den meisten Fällen von Betrug und auch von nichteingestandenem Irrtum eine Triebkraft mit, die einen zentralen Aspekt der meisten Gesellschaften darstellt: Jene des persönlichen beruflichen
und sozialen Aufstiegs. Martin Hinton, der englische Knochenfärber, ist eine der wenigen Ausnahmen (er genoß das Spektakel um die Piltdown-Funde aus dem Zuschauerraum), der Harvard-Wissenschaftler
John Darsee hingegen ein Paradefall. Während zweier Jahre um 1980 sendete er 118 Artikel zur Kardiologie an Zeitschriften. Als sich herausstellte, daß der Großteil der Daten erfunden war, führte dies
unter dem Vorsitz von Al Gore zum ersten Hearing im amerikanischen Kongreß über wissenschaftliche Fälschungen. Eine Droge für hyperaktive Kinder hatte Steven Burning gefunden und in einem Artikel
beschrieben. Vielleicht hatte er die Bedeutung des Themas unterschätzt, jedenfalls wurde seine Arbeit eine der meistzitierten auf diesem Gebiet, Grundlage auch für detaillierte Therapiepläne.
1988 gab Burning zu, die Arbeit gefälscht zu haben.

Um Geld und Ruhm ging (und geht) es auch bei der Suche nach dem Erreger der meistdiskutierten Krankheit der letzten zwei Jahrzehnte. Wer als erster die Ursache für AIDS finden sollte, konnte
über Patentrechte für Tests und die Entwicklung von Medikamenten sich und sein Forschungsinstitut reich machen und sich zum Anwärterkreis für den Medizin-Nobelpreis zählen. Luc Montaigner vom Pariser
Pasteur-Institut und Robert Gallo vom amerikanischen National Cancer Institute lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Gallo, der mediengewandtere, vermutete 1982, die Ursache für AIDS sei ein
Retrovirus. 1983 fand er den Human T-cell Leukemia Virus I (HTLV-I) bei AIDS-Patienten und schrieb ihm eine entscheidende Rolle zu. Allerdings kam dieser Virus am häufigsten in Japan vor, wo damals
noch kein AIDS-Fall gemeldet war.

Im selben Monat fand Montaigner den Lymphadenopathy Associated Virus (LAV) und schickte Proben an Gallo. Im April 1984 verkündete Gallo, er habe den AIDS-Erreger (HTLV-III) gefunden und einen Test
zum Nachweis des Erregers entwickelt. Der zugehörige Artikel erschien einen Monat später in "Science". 1985 beschuldigte das Pasteur-Institut Gallo und seine Mitarbeiter, die von Montaigner
zugesandten Proben für eigene Zwecke mißbraucht zu haben. Der Konflikt eskalierte rasch und belastete die ohnehin nicht ganz spannungsfreien franko-amerikanischen Beziehungen so sehr, daß er auf
höchster Ebene beigelegt wurde. 1987 unterzeichneten Gallo, Montaigner, Präsident Ronald Reagan sowie Premier Jacques Chirac eine Erklärung, derzufolge sowohl Gallo als auch Montaigner als Entdecker
des mittlerweile Human Immunodeficiency Virus (HIV) genannten Erregers gelten sollten.

Doch beendet war der Fall damit noch nicht. Im November 1989 schrieb der Journalist John Crewdson in der "Chicago Tribune" über Unregelmäßigkeiten in den Veröffentlichungen des wichtigsten
Mitarbeiters von Gallo, Mikulas Popovic. Hier schaltete sich das US-amerikanische "Office of Research Integrity" ein und beschuldigte Gallo und vor allem Popovic zunächst, die französischen
Erkenntnisse sozusagen "gestohlen" zu haben.

Es war ein anderer berühmter Fall, der zur Gründung dieser staatlichen amerikanischen Institution zur Untersuchung von "wissenschaftlichem Fehlverhalten" geführt hatte. 1986 fand die Assistentin
Margot O'Toole bei der Analyse der Laborbücher ihrer Kollegin Thereza Iminashi-Kari einige Diskrepanzen zu Artikeln, die auf der Grundlage dieser Experimente erschienen waren. Sie wies Iminashi-Kari
und deren damaligen Vorgesetzten, den Nobelpreisträger und Co-Autoren David Baltimore, auf ihre Bedenken hin, und erhielt zur Antwort, die Diskrepanzen seien für den wissenschaftlichen Inhalt des
Artikels ohne Belang. O'Toole kontaktierte daraufhin das renommierte Massachussets Institute of Technology, an dem Baltimore arbeitete, und die Tufts University, zu der Iminashi-
Kari mittlerweile gewechselt war. Untersuchungen von Gremien beider Institutionen unterstützten die Ansicht von Baltimore und Iminashi-Kari. Doch O'Toole gab nicht auf: Schließlich landete der Fall
beim amerikanischen Kongreß, der die Gründung des "Office of Scientific Integrity" (wie ORI zunächst hieß) initiierte. Als Ergebnis jahrelanger Untersuchungen klagte das ORI Thereza Iminashi-
Kari schließlich in 19 Punkten von "wissenschaftlichem Fehlverhalten" an. Margot O'Toole wurde wegen ihres Einsatzes zur Wahrheitsfindung gelobt und David Baltimore, der selbst nicht angeklagt wurde,
gescholten, weil er über Jahre immer wieder geäußert hatte, er sei von der Unschuld Iminashi-Karis überzeugt. In der Folge trat Baltimore als Präsident der New Yorker Rockefeller University zurück.
Die Beschuldigte Iminashi-Kari legte jedoch 1994 Einspruch gegen die Beschuldigungen des ORI und dessen Direktorin Lyle Bivens ein, wodurch der Fall neuverhandelt wurde.

Leider neigt die Öffentlichkeit vor allem bei brisanten Delikten zu überstürzten Vorverurteilungen, wobei oft Unschuldigen größter Schaden zugefügt wird. Der Vorwurf der Wissenschaftsfälschung
unterscheidet sich dabei nicht von Anschuldigungen anderer schwer nachweisbarer Verbrechen, wie die Fälle Popovic und Iminashi-Kari zeigen. Beide wehrten sich gegen die Beschuldigungen des ORI, beide
Fälle eskalierten. Jahrelang blieb Thereza Iminashi-Kari von staatlichen Förderungen ausgeschlossen. 1996 endlich wies das Berufungskomittee sämtliche Anschuldigungen gegen die Wissenschaftlerin
zurück und warf ihrer Widersacherin O'Toole vor, sich der "Rolle einer Partisanin verschrieben" zu haben.

Eine schwere Niederlage für das ORI, doch nicht die erste: Im November 1993 mußte das ORI sämtliche von der Anklägerin Suzanne Hadley vorgebrachten Anschuldigungen gegen Gallos Mitarbeiter Popovic
zurückziehen. Vier Jahre lang war dieser arbeitslos gewesen, weil keine amerikanische Institution jemanden anstellen wollte, gegen den der Verdacht des Betrugs im Raum stand. Schließlich fand er in
Schweden eine Arbeitsstelle. Inzwischen hat er den amerikanischen Staat auf Schadenersatz verklagt. Nachdem das ORI seine zwei berühmtesten Fälle verloren hatte, vermutete die New York Times am 25.
Juni 1996, "daß irgendetwas mit diesem Untersuchungsapparat zur Aufdeckung wissenschaftlichen Betrugs und Fehlverhaltens furchtbar schiefgelaufen ist".

Literatur (Auswahl): Karl Corino (Hrsg.): Universalgeshichte des Fälschens, Eichborn 1996 Anthony Grafton: Fälscher und Kritiker, Fischer 1995. Felix Franks: Polywasser, Vieweg 1984. Scientific
American, Ask the experts: Cold fusion, http://www.sciam.com/askexpert/physics/physics6.htmzum Fall Iminashi-Kari (Auswahl): Science, Vol. 254, 13.12.1991, Vol. 266, 2.12.1994, und Vol. 272,
28.6.1996, sowie Nature, Vol. 350, 28.3.1991, Vol. 351, 9.5.1991, Vol. 354, 5.12.1991, Vol. 372, 1.12.1994.

Freitag, 17. April 1998

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