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Inventur der Wissenslücken

John Maddox' Entdeckungsreise zu den Grenzen der Forschung
Von Peter Markl

Wer in Zukunft einmal darangehen wird, eine Geschichte des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu schreiben, wird die letzten zwei Jahrzehnte des zu Ende gehenden Jahrtausends wahrscheinlich als eine Anomalie verbuchen müssen.

Es waren nicht nur die Jahrzehnte, in denen Teams von Wissenschaftlern ganzen Fachgebieten eine neue Struktur gaben, indem sie die jüngsten Funde der explodierenden Molekularbiologie und molekularen Genetik in außerordentlichen Büchern mit dem integrierten, was man vorher über die zentralen Probleme der Genetik, Zellbiologie und den Neurowissenschaften herausgefunden hatte, sondern es waren auch die Jahre, in denen Wissenschaftsstars für Bücher, die sie für ein breiteres Publikum schrieben, in den USA Millionen Dollar als Vorauszahlungen kassieren konnten.

Goldrausch

Der unerwartete und mit rationalen Argumenten nicht erklärbare Erfolg von Stephen Hawkings "Eine kurze Geschichte der Zeit" schien wagemutige Verleger von der Idee befreit zu haben, dass Bücher nur dann auch kommerziell erfolgreich sein können, wenn sie jemand liest. Das ist jetzt wieder vorbei. Natürlich aber erscheinen auch jetzt Bücher, welche in ihrer Qualität den Bestsellern in den Jahren des Goldrauschs nicht nachstehen.

Zwei von ihnen sind in diesem Herbst auf dem deutschen Buchmarkt erschienen - sehr verschiedenartige Bücher, beide außerordentlich und beide geprägt von der Persönlichkeit ihrer Autoren. Sie sollen ergänzt durch Hinweise auf andere herausragende Wissenschaftsbücher in den nächsten Wochen auf dieser Seite des "EXTRA" besprochen werden.

Das erste Buch stammt von einem Physiker, der heute die Problemsituation auf einem breiteren Spektrum der Wachstumszonen der Naturwissenschaften besser versteht als irgend ein anderer. John Maddox, mittlerweile Sir John Maddox, war von 1966 bis 1995 (mit einer Unterbrechung von sieben Jahren) Herausgeber der "Nature", einer der einflussreichsten Wissenschafts- zeitschriften der Welt. Die "Nature", eine sehr englische Zelebrität, verdankt ihren heutigen Weltruhm fraglos ihrer Qualität, und die beruht zu einem großen Teil auf seiner Arbeit, bei der er, solche Kommentare wollen nicht verstummen, die Priorität englischer Autoren auch dort gewahrt sehen wollte, wo andere sie nicht zu erkennen vermochten. (Dem amerikanischen Pendant zur "Nature", der "Science", sagt man Ähnliches nach).

Maddox schreibt im Vorwort, dass er an ein neues Buch zu denken begonnen hatte, als ihn sein Sohn vor einigen Jahren mit einer einfachen Frage aus der Reserve gelockt hatte: "Wenn Du schon der Herausgeber von 'Nature´ bist, warum kannst Du mir dann nicht sagen, was wir als Nächstes entdecken werden?" Dass darüber jetzt wirklich ein Buch vorliegt, verdankt man aber zu einem nicht kleinen Teil einem zusätzlichen Umstand, nämlich dem Erscheinen von John Horgans Buch: "An den Grenzen des Wissens".

Horgan, der als Wissenschaftsjournalist bei "Scientific American" gearbeitet hatte, vertritt darin die These, dass die Naturwissenschaften in einem gewissen Sinn zu einem Ende gekommen seien, weil die großen Fragen geklärt und alle unbekannten wissenschaftlichen Kontinente erforscht seien. John Maddox findet diese Thesen reichlich abstrus und belegt das detailreich in seinem Buch "Was zu entdecken bleibt".

Maddox kennt wahrscheinlich fast alle, die in den letzten Jahrzehnten die Wissenschaft geprägt haben, auch persönlich. Das gilt vor allem für die Physiker. Von den 420 Textseiten des Buches behandeln etwa 140 Seiten offene Fragen der Physik; und auch die restlichen Seiten sind aus der Sicht eines theoretischen Physikers geschrieben.

Verschwindet der Mensch?

Etwas aus dem Rahmen fallend sind etwa 40 Seiten, die Maddox im dritten Teil des Buches der Diskussion des Schutzes vor Katastrophen widmet, etwa dem Treibhauseffekt, drohenden Meteoriteneinschlägen oder dem Ausbruch neuer Seuchen. Sir John hat sich in der Vergangenheit Weltuntergangsszenarien gegenüber als außerordentlich resistent erwiesen und er reagiert auf die Rhetorik der apokalyptischen Fraktion innerhalb der Umweltbewegung einigermaßen allergisch.

Hier aber wartet er seinerseits mit einer, wie er es nennt, "sinistren Spekulation" auf: was wäre, wenn das menschliche Genom inhärent instabil wäre, so dass die Menschen auf lange Frist ebenso wieder von der Erde verschwinden würden wie andere Spezies, für deren Verschwinden man keine Erklärung hat? Könnte und sollte man dann mit den Mitteln der Gentechnik dagegen etwas tun?

Auch Maddox konstatiert, dass es für eine generelle Instabilität des menschlichen Genoms keine unzweideutigen Anzeichen gäbe und Genetiker, unter denen sich einige befinden, die sich nicht gerade durch einen unüberwindlichen Hang zur Vermeidung des Rampenlichts auszeichnen, sind Maddox Befürchtungen bisher mit Schweigen begegnet. (Eine Ausnahme ist der französische Genetiker Jean Weisenbach, der höflich anmerkte, dass es zu früh sei, sich darüber Sorgen zu machen).

Die etwa 150 Seiten des zweiten Teils des Buches sind der Biologie gewidmet, der Wahrscheinlichkeit der Entstehung von Leben, der Evolution von Kooperation und Autonomie unter Organismen, dem Genom und seinen Defekten sowie Fragen der Evolutionstheorie. Maddox sieht auch biologische Fragen aus der Sicht eines theoretischen Physikers, durchgehend irritiert von dem Ausmaß, in dem die heutigen Zellbiologen von dem Versuch Abstand nehmen, die Wechselwirkung der ungeheuren Vielfalt der Moleküle eines lebenden Organismus durch den Bau von mathematischen Modellen durchsichtiger und hantierbarer zu machen.

An einer zweiten Stelle des Buches wird Maddox so dezidiert zum Kritiker eines heute dominanten Forschungstrends: "Die gegenteilige und überwiegende Meinung der Fachwelt ist jedoch, dass das Entwerfen von Modellen eine nutzlose Übung ist, wobei die gegenwärtigen Erkenntnisse über die Funktionsmechanismen der Zelle in eine unnötig komplizierte und ungewohnte Sprache übersetzt werden. Diese Auffassung übersieht freilich die Tatsache, dass Modelle dazu beitragen, disparate Erscheinungen zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufassen. Zudem lassen sich aus Modellen Versuchspläne ableiten, mit denen sich Vermutungen prägnant prüfen lassen. Die kollektive Abneigung der Zellbiologen gegen Modelle ist zu einem schweren Handikap geworden."

Millionen für Modelle

Vielleicht hat auch Sir Johns jahrelange Insistenz auf diesem Punkt dazu beigetragen, dass nun entschiedenere Anstrengungen in diese Richtung gemacht werden. Im jüngsten Heft der "Nature" (vom 19. Oktober 2000) findet sich ein Bericht darüber, dass Leroy Hood in Seattle ein 200 Millionen Dollar teures "Institute for Systems Biology" gegründet hat und dass in Dallas eine "Alliance for Cellular Signalling" organisiert worden sei, die vom Amerikanischen Gesundheitsinstitut für die nächsten fünf Jahre 25 Millionen Dollar zur Verfügung gestellt bekam und nun darangegangen ist, weitere 25 Millionen Dollar aus privaten Quellen aufzutreiben.

Man vermutet John Maddox hinter dem anonymen redaktionellen "Nature"-Kommentar, wenn es heißt: "Wenn sie (diese Teams, Anm.) sich die Flexibilität bewahren, welche es möglich macht, sich schnell zu adaptieren, könnten sie erreichen, was man so lange erwartet: eine Entwicklung, in der die Mathematik das leisten kann, was sie auf anderen Gebieten bereits geleistet hat, nämlich eine Basis für Vorhersagen zu schaffen, sodass sie zu Experimenten führen wird, statt hinter ihnen herzuhinken."

Der dritte Teil des Buches behandelt neben den Seiten über möglicherweise drohende Katastrophen Gehirn und Bewusstsein sowie drängende Probleme auf dem Gebiet der Mathematik.

Revision der Physik

Die Seiten, die Maddox über die grundlegenden Theorien der Physik und ihre Implikationen für die heutigen Vorstellungen von der Entstehung des Universums, über die Unhaltbarkeit der heutigen Vorstellungen von Raum und Zeit und die Probleme mit dem "Standardmodell" der Elementarteilchen widmet, sind Höhepunkte des Buches. Vor allem, weil Maddox kein Parteigänger einer der Theorieschulen ist und die Problemsituation aus einiger Distanz in ihrem historischen Kontext sieht. (An einigen Stellen zeigt das vor zwei Jahren in England erstmals erschienene Buch allerdings bereits Spuren seines Alters: in CERN glaubt man mittlerweile experimentelle Indizien für die Existenz des Higgs-Teilchens, das durch das Standardmodell der Elementarteilchen vorhergesagt wird, aufgespürt zu haben - Indizien, die allerdings als bestenfalls vorläufig angesehen werden).

Auf den Seiten über die Grundlagen der Physik und Kosmologie bietet Maddox in gedrängter Form sein informiertes Urteil über die Fragen an, welche zur Zeit im Mittelpunkt der Diskussion stehen, und umreißt die gewaltigen Lücken in dem, was man bisher herausgefunden hat: Wie steht es um die Versuche, die beunruhigende Tatsache aus der Welt zu schaffen, dass einander die beiden grundlegenden physikalischen Theorien, die Gravitationstheorie und die Quantenmechanik, widersprechen ? Wie sehr begrenzen Widersprüche alles das, was man über die Entstehung des Weltalls und seine früheste Entwicklung sagen kann? Was spricht für die Existenz des "Big Bang"? Welche empirischen Belege gibt es eigentlich für die berühmte "inflationäre Phase" in der Expansion des frühen Universums, welche die Vorstellung von einem "Big Bang" vor der drohenden Widerlegung retten soll? Hat man wirklich schon ein Schwarzes Loch gefunden? Wie steht es um die von einer Gläubigen-Gemeinde anderwärts auf so vielen Seiten propagierte Superstring-Theorie: ist sie ein glaubhafter Kandidat für die so lange erträumte, mystische Weltformel?

Atemlosigkeit

John Maddox glaubt, dass sich die heutigen Widersprüche nur im Rahmen grundlegender neuer Theorien lösen lassen werden: "Die Fülle der Entdeckungen im 20. Jahrhundert hat bei vielen Naturwissenschaftlern (einschließlich solchen, die es besser wissen sollten) die Vorstellung hervorgerufen, dass dieser höchste Triumph sozusagen in Reichweite und es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie Lehrbücher über dieses Thema schreiben würden. Sie haben die einfache Wahrheit vergessen, dass das rasante Tempo der Entdeckungen in unserer Zeit sie in einen raren Zustand der intellektuellen Atemlosigkeit versetzt hat, in dem sie eigentlich gar nicht so recht wissen, worüber sie sprechen.

Solche harten Worte bedürfen einer Rechtfertigung. In sämtlichen naturwissenschaftlichen Disziplinen wird der Elan der Forscher von dem Wissen getragen, dass es immer wieder neue Probleme gibt, die man angehen muss und die sich gelegentlich auch lösen lassen. Das gilt heute für die Erforschung der Materie, des Weltalls und ihrer beider Ursprung. Nach wie vor müssen Vorhersagen über Ergebnisse von Experimenten gemacht werden, und noch immer müssen wir bekannte Gleichungen so abwandeln, dass sie bekannte Befunde konsistenter beschreiben. Auch neue Ideen, die über das Standardmodell der Elementarteilchenphysik und Kosmologie hinausgehen, müssen überprüft und weiterentwickelt werden; die Wissenschaftler, die auf diesen Gebieten arbeiten, sind auch mit Eifer bei der Suche.

Doch wenn die Zeit vergeht und diese Modelle der Wirklichkeit durch die wenigen Tests, denen man sie unterziehen kann, weder überzeugend bestätigt noch schlüssig widerlegt werden, wird es unabdingbar, dass wir unsere theoretischen Grundannahmen über die Natur von Raum, Zeit und Materie hinterfragen. Der beste Weg, um aus dem gegenwärtigen Dilemma herauszukommen, besteht darin, die grundlegenden Theorien von offenkundig ins Leere zielenden Fragestellungen zu befreien."

Kein Wunder, dass der einzige Philosoph, der in dem Buch erwähnt wird, Karl Popper ist. Freiheit von modischem Jargon und aus einer distanzierten Sicht gefällte, informierte Urteile über die Problemsituation bei den Versuchen, eine außerordentliche Vielzahl von naturwissenschaftlichen Problemen in den Griff zu bekommen, machen Sir Johns Buch zu einer sehr anregenden Lektüre auch dort, wo man seinen Urteilen nicht zustimmt.

John Maddox: Was zu entdecken bleibt. Über die Geheimnisse des Universums, den Ursprung des Lebens und die Zukunft der Menschheit. Übersetzt von Thorsten Schmidt. 455 Seiten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000.

Freitag, 03. November 2000

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