Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Über ein neues Modell der Seniorenarbeit

Guthaben auf dem Zeitkonto

Von Günter Hoffmann

Man stelle sich einmal vor: In einer Stadt wie Hamburg wären über 76.000 Einwohner Mitglied in einer Seniorengenossenschaft. Sie alle würden ihre Fähigkeiten nutzen und mit viel Elan und Engagement Nachbarschaftshilfe, Jugend- und Altenarbeit leisten. Man stelle sich weiterhin vor: Sie alle würden für ihre Arbeit in der Seniorengenossenschaft den gleichen Lohn erhalten. Jede Arbeitsstunde wird mit zwei Punkten pro Stunde verrechnet.

Eine Utopie? In Hamburg schon. Doch nicht in Dietzenbach, der 33.000 Einwohner zählenden Stadt im Ballungsgebiet des deutschen Rhein-Main-Gebietes. Hier haben sich 1.500 Bewohner in der "Seniorenhilfe Dietzenbach" (SHD) zusammengeschlossen. Im Alter zwischen 19 und 97 Jahren bringen sie ihre Ideen und Fähigkeiten ein, um die Alten vom Abstellgleis zu führen und den Jugendlichen den Start ins Leben zu erleichtern.

Begonnen hat alles in Dietzenbach Ende 1993, als ein Aufruf des Kreises Offenbach in der Lokalzeitung erschien: "Interessenten an der Gründung einer Seniorengenossenschaft gesucht." "Immer mehr 50- und 55-Jährige scheiden frühzeitig aus dem Berufsleben. Gerade diese Generation der jungen Alten ist mit den gängigen Angeboten der Altenarbeit nicht mehr zu erreichen", erklärt Mathilde Al Dogachi, Leiterin der städtischen Seniorenarbeit.

Zwölf Personen waren es, die sich im April 1994 zusammenfanden und eine Initiativgruppe bildeten. Diese Gruppe musste, um die Seniorengenossenschaft gründen und ohne ständige Zuschüsse am Leben halten zu können, erst einmal neue Mitglieder gewinnen. "Denn außer einer bescheidenen Anschubfinanzierung durch den Kreis Offenbach und einer geringen Starthilfe durch die Stadt konnten die Dietzenbacher nichts erwarten", so Frau Al Dogachi.

Der rasche Erfolg der Dietzenbacher beruhte auf einem einfachen Prinzip: Die Mitglieder stellen ihre Fähigkeiten der Gemeinschaft zur Verfügung und erhalten dafür Zeitgutschriften, die auf einem Konto verbucht werden. Diese Zeitgutschriften, hier Punkte genannt, können gegen andere Leistungen eingetauscht werden oder aber in späteren Jahren, bei eigener Pflegebedürftigkeit, wie eine Zusatzrente abgerufen werden.

Als die Seniorenhilfe im September 1994 offiziell mit ihrer Arbeit begann, war die Mitgliederzahl bereits auf 485 gestiegen. "Ich wurde gefragt ob ich beim hiesigen Ausbildungsforum mitmache", erzählt der 69-jährige Eugen Eppinger, seit vier Jahren Mitglied in der SHD. Damit begann sein Engagement. Seit zwei Jahren leitet er, zusammen mit drei anderen Senioren, auch Computerkurse für die Jugendlichen. Doch hat er bereits neue Pläne: Er will ein Internet-Café für die Senioren aufbauen . . .

Eppinger ist nur einer der rund 200 Aktiven in der SHD. Ein Dutzend von ihnen organisiert z. B. den Bürodienst. Sie registrieren die täglich eingehenden Leistungsangebote und Nachfragen, geben ihre Zeitschrift heraus und verwalten die Konten. Rund 40.000 Punkte waren es in den letzten drei Jahren; das Äquivalent für 20.000 Arbeitsstunden. Dabei hat die SHD auch eine Lösung für die Mitglieder gefunden, die sich durch Krankheit oder wegen hohen Alters keine Punkteguthaben erarbeiten konnten: Wollen sie Hilfe in Anspruch nehmen, zahlen sie eine Verwaltungsgebühr von 5 DM für die erste Stunde - und 3 DM für jede weitere. Für drei Stunden Hilfe wären das also 11 Mark (zirka 77 Schilling).

Die Seniorenhilfe ist kein Verein im üblichen Sinne. Sie hat sich in Dietzenbach zu einem renommierten Partner für die Stadt, die Wohlfahrtsverbände und Kirchen, für die Wirtschaftsverbände, Schulen und Ausländerbeirat entwickelt. "Auf vielen Gebieten sucht man die Kooperation mit der Seniorenhilfe, weil so viele Menschen integriert sind, von denen man glaubt, dass sie Projekte mitbewegen können", sagt Frau Al Dogachi.

Wie gut beispielsweise die Zusammenarbeit mit den Verwaltungsstellen der Stadt funktioniert beschreibt Eckard Marschall. "Durch meine Aktivitäten in der SHD habe ich ein offenes Auge für die Stadt bekommen", erzählt der 59-jährige Maschinenbauingenieur. "Zum Beispiel sehe ich beim Radfahren große Schlaglöcher, auch für Wanderer und Jogger eine gefährliche Stelle. Dann melde ich das dem Bauamt und die Stadt reagiert darauf."

Marschall ist ebenso wie Eppinger seit vier Jahren Mitglied in der SHD. Mit 55 Jahren erhielt er die Kündigung und wurde durch einen jüngeren Kollegen ersetzt. Heute organisiert er in der Seniorenhilfe Besichtigungsprogramme und Ausflüge. Ob es eine defekte Waschmaschine oder eine dringend benötigte Wohnungsrenovierung ist; die Verantwortlichen der Seniorenhilfe wussten, dass nachbarschaftliche Reparaturhilfen gerade bei einkommensschwachen Mitgliedern stark gefragt sind. So sprachen sie mit der Handwerkskammer und dem Gewerbeverein und stellten ihnen ihr Projekt vor. "Dort stießen wir auf Verständnis, so lange unsere Aktivitäten den Charakter von Reparaturhilfe tragen würden", sagt Frau Al Dogachi. Auch die Pflege- und sozialen Hilfsdienste empfinden die SHD nicht als Konkurrenz, sondern als Ergänzung. Denn die Einführung der Pflegeversicherung hat die Hilfsdienste in ihren Leistungen eingeschränkt. Für eine umfassende soziale Betreuung der alten Menschen, ja auch nur ein Gespräch, wie sie die Seniorenhilfe leistet, ist meistens keine Zeit.

Die SHD hat sich über Dietzenbach hinaus einen Namen gemacht. Ursprünglich als Alternative zur gängigen Altenarbeit entstanden, ist sie heute zum Motor eines Integrationsprozesses geworden, der einmalig ist in Deutschland. Wo täglich über die Belebung des ehrenamtlichen Engagements, dem Ende des Generationenvertrages, über die Nichtfinanzierbarkeit von Renten diskutiert wird, gehen hier junge Alte, aber auch ganz Alte und ganz Junge die ersten Schritte auf dem Weg in Richtung einer Bürgergesellschaft. Als bundesweit größte Organisation dieser Art hat die Seniorenhilfe Dietzenbach über die Grenzen der Stadt hinaus bereits Wirkung gezeigt: Nach ihrem Vorbild haben sich alleine im Kreis Offenbach zwölf Seniorengenossenschaften gegründet, von denen die größte, in Langen, 1.200 Mitglieder zählt. "Angesichts dieser Entwicklung möchte ich fast schon von einer ,Bewegung' sprechen - einer Bewegung von Menschen, die die ,Zeichen der Zeit' verstanden

haben", verkündet Jürgen Heyer, Bürgermeister der Stadt Dietzenbach und Mitglied der SHD voller Stolz.

Freitag, 12. Jänner 2001

Aktuell

erlesen: Zwei verwandte Meister der kleinen Form
Kronauer, Brigitte: Sprache, Klang und Blick
Zum Werk der Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer
Mann, Erika: Des Dichters Liebling
Zum 100. Geburtstag von Thomas Manns ältester Tochter Erika

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum