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Eine Bilanz von vier Jahren Rot-Grün kurz vor der Bundestagswahl

Ruhige Hand statt aktiver Politik

Von Hans Christof Wagner

Als zur Eröffnung der Bayreuther Wagner-Festspiele im Juli Bundeskanzler Wolfgang Schüssel mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber die Treppe zum Opernsaal hinaufschritt, riefen die Journalisten den beiden nach: "Bitte einen Moment, Herr Bundeskanzler, für ein Foto." Doch nicht Schüssel, sondern der Bayer drehte sich als Erster zu den Fotografen um und brachte sich in Positur.

Zwar sind die Tage absoluter Siegeszuversicht des Kanzlerkandidaten von CDU und CSU Vergangenheit: die SPD hat aufgeholt und liegt nun gleichauf mit der Union bei knapp 40 Prozent. Wer am Sonntag das Rennen um die Macht in Deutschland gewinnt, ist wieder offen. Trotzdem: allein die realistische Chance, dass Edmund Stoiber Amtsinhaber Gerhard Schröder als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland ablösen könnte, ist schon bemerkenswert genug. Dass eine Koalition schon nach einer Legislaturperiode abgewählt worden ist, das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie gegeben. Regierungskompetenz, Kanzlerbonus und das den Deutschen innewohnende Bedürfnis nach Stabilität haben bisher noch jeder Regierung geholfen, sich an den Schalthebeln der Macht für längere Zeit einzurichten.

Dienstältester Kanzler war Helmut Kohl, der 1998 nach 16 Jahren im Amt abtreten musste. Übrigens war auch der Wahlsieg Schröders damals ein historisches Novum: nie zuvor war ein amtierender Kanzler vom Wähler abgewählt worden. Bis dahin waren Regierungswechsel in Deutschland immer von vorherigen Koalitionswechseln oder Misstrauensvoten im Parlament vorbereitet worden. Zweierlei hatte damals den Wechsel möglich gemacht. Das Volk war Helmut Kohl seit langem überdrüssig. Und mit Gerhard Schröder als Kanzlerkandidaten war die Sozialdemokratie sowohl für die alte wie die vielgerühmte "neue Mitte" wählbar geworden. Man wollte einen anderen an der Spitze haben, aber auch nicht alles auf einmal umkrempeln, so war vor vier Jahren die Stimmung. Da kam die Schrödersche Formel - "Wir werden nicht alles anders machen, aber vieles besser" - gerade recht. Der Kandidat, kein Roter im herkömmlichen Sinne, eher ein Eigenständigkeit und Modernität verkörpernder unabhängiger Kopf, versprach die in den letzten Jahren der Kohl-Regierung immer mehr verschleppten Reformen anzupacken: Arbeitsmarkt, Steuern, Sozialsysteme - alles sollte auf den Prüfstand kommen. "Innovation und Gerechtigkeit" war die Parole.

Nach vier Jahren könnte die Reformbilanz 2002 lauten: vieles war gut gemeint, faktisch aber schädlich. Die Regierung hat gegen die Scheinselbständigkeit etwas tun wollen, tatsächlich aber hat sie die Menschen in die Schwarzarbeit getrieben. Von ihrer Steuerreform blieb der Öffentlichkeit nur die massive Entlastung der Großkonzerne in Erinnerung. Die gute Idee der Ökosteuer war: wir besteuern den Verbrauch natürlicher Ressourcen und finanzieren damit die Absenkung der Sozialversicherungsbeiträge. Doch geblieben ist vor allem das Bild vom abgezockten Bürger, der fürs Autofahren bestraft wird. Die Rentenreform nahm den Bürger erstmals bei der Altersvorsorge in die Pflicht: Schließ eine private Rentenversicherung ab und der Staat gibt dir was dazu! Doch die nach dem deutschen Arbeitsminister Riester benannte Rente hat massive Imageprobleme. Die Zahl der Verträge ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben.

Der einfache Bürger auf der Straße denkt: für Minderheiten haben sie was getan, nur für "uns" nicht. Rot-Grün hat sein Pulver auf Nebenkriegsschauplätzen verschossen. Das Reformwerk ist ja durchaus vorzeigbar: Der Atomausstieg wurde auf den Weg gebracht. Deutschland hat endlich mit seiner Lebenslüge aufgeräumt, kein Einwanderungsland zu sein. Bildung und Hochschulen wurden modernisiert, gleichgeschlechtliche Ehegemeinschaften ermöglicht. Neulich hat Grünen-Vorsitzende Claudia Roth auf die Frage, was von den vier Jahren Rot-Grün bleibe, geantwortet, dass Schwule und Lesben in Deutschland nun ohne Angst leben könnten. "Schön", mag da der heterosexuelle Arbeitnehmer mit 2,3 Kindern gedacht haben.

Arbeitslosigkeit als Mühlstein

Das sind nicht die Themen der von beiden Seiten bemühten Mitte, ohne die Schröder 1998 niemals Kanzler geworden wäre. Doch die Felder, die sie interessiert, sind von Rot-Grün nicht bestellt worden. In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik hat die Regierung versagt. Heute hängt ihr etwas wie ein Mühlstein um den Hals. Vor vier Jahren hatte Schröder seinen Amtsantritt mit dem verhängnisvollen Satz begleitet: "Wenn wir es nicht schaffen, die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen zu senken, haben wir es nicht verdient, wiedergewählt zu werden." Heute ist der Stand der Arbeitslosigkeit mit vier Millionen wieder fast so hoch wie 1998. Erstmals gab es im Sommer keine saisonbedingte Besserung. In Ostdeutschland ist sie auf dem höchsten Stand seit der Wende. Die Ost-Malaise ist mit Händen zu greifen. Die fünf neuen Bundesländer werden noch eine weitere Generation am Tropf des Bundes hängen - mit den Milliardenschäden der Flutkatastrophe sowieso.

Bei den beiden Fernsehduellen zwischen Amtsinhaber und Herausforderer ist Stoiber penetrant auf diesen vier Millionen herumgeritten. Bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit rieb er sie Schröder unter die Nase, wohlwissend, dass sie die Achillesferse von Rot-Grün sind. Jetzt rächt sich, dass die Regierung auf diesem Sektor vier Jahre untätig geblieben ist. In Schröders ersten zwei Amtsjahren ging es der Wirtschaft gut. Als sie dann nicht mehr so florierte, setzte er, anstatt auf aktive Politik, auf die "ruhige Hand". In Erwartung eines neuerlichen Aufschwungs gingen dann die Monate ins Land und die Arbeitslosenzahlen schnellten in die Höhe. Schließlich kam der 11. September. Seitdem reißen die Negativschlagzeilen nicht mehr ab: Pleiten, Krisen und Zusammenbrüche und ein hilflos agierender Kanzler, der die Schuld auf "weltwirtschaftliche Verwerfungen" schiebt.

Wenige Wochen vor der Wahl schließlich zauberte Schröder die Vorschläge der Hartz-Kommission aus dem Hut und mit ihnen das neuerliche Versprechen, die Zahl der Arbeitslosen zu senken, dieses Mal sogar gleich um zwei Millionen. Kern der Vorschläge: Arbeitslosigkeit ist zu einem großen Teil ein Verwaltungs- und Faulheitsproblem. Wenn man also eine effektivere und schnellere Vermittlung mit verstärktem Zwang zur Stellenannahme verknüpft, könnte die Rechnung aufgehen. Aber was tun, wenn einfach keine Arbeitsplätze vorhanden sind? Was soll vermittelt werden, wenn die Zahl der bei den Arbeitsämtern gemeldeten offenen Stellen verglichen mit den Jobsuchenden lächerlich gering ist? Faktum ist: Schröder hat mit den Hartz-Vorschlägen beweisen wollen, dass er Konzepte gegen die Jobmisere hat. Gebt uns noch mal vier Jahre, dann haben wir Zeit, sie in die Tat umzusetzen, war die Botschaft an den Wähler. Trotzdem konnte die Regierung das Argument der Opposition, dass die Vorschläge den bisherigen Kurs von Rot-Grün in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eigentlich auf den Kopf stellten, nicht entkräften.

Das Wankelmütige, dieser auf größtmögliche Medienwirkung abzielende Kurzzeit-Aktionismus zeichnete Schröders Regierungsstil im vergangenen Jahr aus. Mal ließ er einen Telekom-Vorstandsvorsitzenden über die Klinge springen, mal nutze er die Chance, staatsmännische Macher-Qualitäten zu beweisen, indem er einen linkischen Verteidigungsminister opferte. Die Siegchancen von Rot-Grün hängen einzig und allein am öffentlichen Bild des Bundeskanzlers. Der duldet keine eigenen Köpfe neben sich. Auch seine Partei, die SPD, ist im Wahlkampf kaum präsent.

Die Strategie von CDU/CSU könnte unterschiedlicher nicht sein. Hier kämpft die ganze Partei und auch der Kandidat ist nur der primus inter pares in einem "Kompetenzteam" genannten Schattenkabinett. Schröder hat, seit klar war, dass Stoiber Kanzlerkandidat ist, alles versucht, den Wahlkampf von den Parteien weg auf die beiden Kontrahenten um das Kanzleramt zu lenken.

"Wählt mich, denn den Stoiber könnt ihr doch unmöglich wollen" - mit dieser simplen Botschaft glaubte Schröder lange Zeit, den Wahlkampf bestreiten zu können. Doch viele wollen sich davon nicht mehr mobilisieren lassen. Das schlichte "Stoppt Stoiber" verfängt nicht mehr. 1980, als mit Franz-Josef Strauß zum ersten Mal ein Bayer Bundeskanzler werden wollte, funktionierte das noch. Heute kommentieren auch die einen möglichen Wahlsieg Stoibers nur mit einem Achselzucken, die ihn eigentlich ablehnen. Soll der doch Kanzler werden, schlimmer wird's schon nicht kommen, denkt heute so mancher in der Computerbranche oder den Medien tätiger Mittdreißiger, der zum ersten Mal am eigenen Leib erfährt, was Arbeitslosigkeit ist.

Angst lähmt das Land

Denn auch das ist neu: Arbeitslosigkeit, zuvor meist ein Phänomen von Ungelernten, hat die neue Mitte erreicht. Hochmotivierte, gut ausgebildete Akademiker finden heute keine Jobs. Die Generation der 30-Jährigen ist so perspektivlos wie noch nie. Alles Gewohnte scheint heute nicht mehr zu gelten. Angst lähmt dieses Land: Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, Angst, dass sich die Wirtschaft doch nicht so bald erholen wird, Angst davor, den gewohnten Lebensstandard nicht mehr aufrechterhalten zu können, Angst vor Armut im Alter.

Rot-Grün hat es in vier Jahren geschafft, so ziemlich alle gegen sich aufzubringen. Die klassische sozialdemokratische Klientel ist gegenüber dem Kaschmir tragenden "Kanzler der Bosse" immer misstrauisch geblieben. Der Mittelstand, 1998 Helmut Kohl überdrüssig, ist ob der Tatenlosigkeit der Regierung wieder mehrheitlich in sein politisches Stammlager, die Christdemokratie, zurückgekehrt. Die Unternehmer haben ihre Reserve gegen die Sozialdemokratie ohnehin nie aufgegeben. Und da gibt es noch jene, die sich 1998 endlich am Ziel sahen und den Wahlsieg von Rot-Grün als einen Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik begrüßten. Nach nur vier Jahren sind sie von einem merkwürdigen Defätismus gelähmt. Sie leiden unter enttäuschten Erwartungen. Sie sind in der Ära Kohl politisch groß geworden, haben stets Rot-Grün gewählt und es als politisches Reformprojekt verstanden. Jetzt sehen sie, was Realpolitik heißt - und sehnen sich nach den Oppositionsjahren zurück.

Müder Wahlkampf

2002 ist von der Aufbruchstimmung von vor vier Jahren kaum mehr etwas übrig. Der Wahlkampf schleppte sich müde dahin, keine Seite traute sich aus der Defensive heraus. Schröder setzt vor allem auf sich. Stoiber ist sich zwar darüber klar, dass er nie so populär sein wird wie der Kanzler. Er weiß aber auch, dass in Deutschland Parteien gewählt werden und keine Präsidenten. Sein Kalkül: ich komme vielleicht bei den Leuten nicht so gut an wie Schröder, dafür geben sie der Union die Stimme, weil sie ihre Kompetenz, gerade auf dem Feld der Arbeits- und Wirtschaftspolitik, für höher halten.

Edmund Stoiber hat sich, seit er Kandidat ist, darauf beschränkt, nirgendwo anzuecken. Er ist nicht mehr der krachlederne und kantige Urbayer, wie einst Strauß es war. Weder wollte er sich in die Ecke des katholischen Reaktionärs stellen lassen, der die Uhren in Deutschland zurückdreht, die Frauen an Haus und Herd fesselt und Homoehen wieder aufhebt. Noch hat er sich als kaltherziger Modernisierer einen Namen gemacht, der bei den Arbeitslosen mal andere Seiten aufzieht. Im Gegenteil, er gebärdet sich fast linker als die SPD.

Noch vor keiner anderen Bundestagswahl waren so viele Bürger so lange unentschlossen, wem sie ihre Stimme geben sollen. Auf rund 30 Prozent wird das Potenzial geschätzt, das sich erst auf dem Weg ins Wahllokal oder gar erst in der Kabine entscheiden will. Wenn sie sich denn überhaupt dorthin aufraffen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden am Sonntag die Demoskopen ob einer geringen Wahlbeteiligung bedenklich das Haupt wiegen. 1998 war sie mit 82,2 Prozent schon nicht sehr hoch. Und da war es ja noch um etwas gegangen: um die Abwahl einer verbrauchten und konzeptlosen Regierung. Als solche will sich die amtierende nicht sehen. Im Gegenteil, sie sagt: Rot-Grün ist noch lange nicht am Ende. Lasst uns das Reformwerk in der zweiten Legislaturperiode fortsetzen. "Vertrau' auf unsere Kraft, wir haben so viel schon geschafft", heißt es im offiziellen Wahlkampfsong der SPD.

Freitag, 20. September 2002

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