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Ein Kongress diskutierte die Perspektiven des Sozialen in Europa

Schlechte Zeiten für Sozialarbeiter?

Von Peter F. N. Hörz

Sie haben stets ein gefülltes Kaffehäferl in der Hand, zerzauste graue Mähnen und lange Bärte. Sie fühlen sich als Prototypen bewusster Männlichkeit und Weiblichkeit. Sie leiden immer ein bisschen am Elend in der Welt und brauchen daher die hilfreichen Gespräche bei Kerzenlicht und Tee. Sie diskutieren sich gerne die Köpfe heiß über Dinge, die andere Menschen nicht einmal wahrnehmen, und trotz aller diskursiven Kontroversen mögen sie sich doch. So sehr, dass sie ihre Zuneigung gerne dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie sich wechselseitig am Schulterblatt streicheln und die gemeinsamen Anstrengungen zur Verbesserung der Welt beschwören.

Ja, so sind sie, die SozialarbeiterInnen aus Theorie und Praxis. Zumindest will es so das Klischee. Und weil Klischees ja auch irgendwo mit der Wirklichkeit verlinkt sind, konnte man dergleichen auch leibhaftig erleben, als sich zahlreiche Fachvertreter aus Deutschland und ganz Europa am vergangenen Wochenende, vom 20. bis 22. September, zum 4. "Bundeskongress Soziale Arbeit" in Mainz und Wiesbaden zusammenfanden.

Gestaltung des Sozialen

Aber Klischees wären nicht Klischees, wenn sie Wirklichkeit wären; und so offenbarte sich der sozialpädagogische Mikrokosmos bunter, als es die Stereotypen glauben machen wollen: Gut 1.500 Interessierte aus sämtlichen Arbeitsfeldern der praktischen Sozialarbeit und der ihr zugrundeliegenden Wissenschaft hatte die Thematik - Gestaltung des Sozialen: Eine Herausforderung für Europa - an den Rhein gelockt. Und dies aus gutem Grunde, denn die soziale Arbeit sieht sich in der Defensive, wie die Veranstalter im Rahmen ihrer Pressekonferenz einräumten. Dabei mag das Kongressmotto angesichts der dramatischen Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft geradezu untertrieben und betulich erscheinen. Denn das Soziale - wie eng oder weit man es auch immer fassen mag - droht unter die Räder der wirtschaftlichen Globalisierung zu geraten und in den Mühlen des europäischen Einigungsprozesses weiter zermahlen zu werden.

Am Vorabend der Währungsunion zeigt sich nun, dass Europa zwar wirtschaftlich und fiskalpolitisch geeint ist, dass aber dieser ökonomischen Einigung kein Äquivalent auf dem Gebiet sozialer Sicherungssysteme anheimgestellt worden ist. Während also für Kapital, Waren und Arbeitskräfte ein grenzenloses Europa geschaffen wird und die Vorbereitungen für die Einführung des europäischen Zahlungsmittels auf Hochtouren laufen, bleibt die Gestaltung des Sozialen eine Sache der Nationalstaaten.

Diese haben zwar zweifellos auf dem Gebiet der sozialen Versorgungsleistungen unterschiedliche und mitunter schwer in Einklang zu bringende Traditionen. Zumindest aber wäre - so der Mainzer Sozialpädagogik-Professor und Veranstalter Franz Hamburger - die europäische Kooperation auf dem Feld der Krankenversicherungen und der Altersvorsorge als begleitendes Moment zur Freizügigkeit der EU-Europäer dringend geboten. Eine Zielvorstellung, der man einiges abgewinnen kann, wenn man bedenkt, dass das europäische Recht auf freie Wohnsitzwahl zwischen Sizilien und Lappland andernfalls in praxi denen vorbehalten bleibt, die nicht auf staatliche oder solidarisch strukturierte Sicherungssysteme angewiesen sind. Und dies sind in der Tat wenige . . .

Die EU, so fasste es Hamburger zusammen, sei bis jetzt vor allem ein Markt, der alles hinwegfegt, was ihm hinderlich ist. Hinderlich sind diesem Markt natürlich vor allem die Sozialausgaben, die an allen Ecken und Enden gekürzt werden, um die Stabilitätskriterien für die Währungsunion einhalten zu können. Insofern freilich droht der Prozess der europäischen Einigung in eine Richtung zu verlaufen, die vielen Europäern am Ende nicht gefallen dürfte: Soziales könnte ausgehebelt werden im Kampf um Investoren und Niedrigsteuergebiete.

Und dies nicht nur nach dem Beitritt der ostmitteleuropäischen Kandidaten-Länder, sondern auch schon innerhalb des weit gesteckten Territoriums der derzeitigen EU.

Katastrophenschutz

Dabei räumen die Sozialpädagogen durchaus ein, dass es leicht sei, angesichts akuter Problemsituationen - etwa bei Ausbrüchen jugendlicher Gewalttätigkeit - an öffentliche Gelder für sozialpädagogische Projekte zu gelangen. Vielleicht sogar zu leicht, denn längst schon habe sich auf der politischen Ebene das Bild durchgesetzt, dass soziale Arbeit kurzfristig dort für Frieden sorgen könne, wo Konflikte medienwirksam werden, weil sie sich durch Gewalt manifestieren und deshalb spektakulär sind.

Sozialarbeit als gesellschaftlicher Katastrophenschutz - ein Bild, das ebenso verbreitet wie falsch ist, denn soziale Arbeit, so die Veranstalter, wirkt nicht von heute auf morgen, sondern ist vielmehr langfristig angelegt. Zumal auf dem Feld der Jugendarbeit, die immer dann ins öffentliche Bewusstsein gerückt wird, wenn Automobile brennen, Pflastersteine fliegen oder fremdenfeindliche Gewalttaten begangen werden.

Europa ist aus Sicht der Sozialarbeit aber nicht nur ein Feindbild, sondern zugleich eine zentrale Chance, die genutzt werden muss. Denn mit dem Abbau nationaler Grenzen, mit der zunehmend selbstverständlichen Internationalisierung der Kommunikation und des erweiterten Zugangs zu ausländischem Wissen, besteht auch die Aussicht auf selbstkritische Reflexion und auf Steigerung der Qualität sozialpädagogischer Angebote. Die Einladung zahlreicher ausländischer Referenten - davon viele aus den ostmitteleuropäischen Kandidaten-Ländern - ist somit durchaus nicht nur als freundliche Geste zu verstehen. Vernetzen möchten sich die Akteure der sozialen Arbeit, sowohl auf der Makroebene des Hauses Europa, aber auch auf der Mikroebene der Regionen und Kommunen. Diese Vernetzung erscheint geboten als Antwort auf den zunehmenden Kostendruck und den Trend zur Merkantilisierung der sozialen Arbeit. Gerade vor dem Hintergrund, dass sich die Trägerorganisationen der Sozialarbeit verstärkt um nichtöffentliche finanzielle Mittel bemühen müssen, ist das kooperative Handeln Gebot. Künftig gelte es vermehrt, daran zu arbeiten, dass Parallelangebote vermieden werden und Hilfsbedürftige nicht im Gestrüpp der Angebote umherirren.

Michael May, Professor im Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Wiesbaden und Kongress-Mitorganisator, zieht hierfür das Beispiel der Kooperation zwischen Allgemeinmedizinern und Fachärzten heran, welche alle miteinander in Kommunikation stünden. Einerseits, um zum Wohle des Patienten zu arbeiten. Andererseits, um zu vermeiden, dass Mehrfachuntersuchungen und Parallel-Therapien unnötige Kosten entstehen ließen. Übertragen auf die soziale Arbeit bedeutet dies, dass Klienten auf der Suche nach Hilfe nicht mehr durch die Institutionen wandern müssen, in welchen die Sozialarbeiter ihre Hilfsansätze jeweils vom Null-Level aus entwickeln müssten, sondern vielmehr von einer Institution zielgerichtet geführt werden.

Zentrale Voraussetzung hierzu ist freilich, dass die kommunikative Vernetzung der Institutionen funktioniert, die Zusammenarbeit der Einrichtungen gewollt ist und der Wettbewerb um beeindruckende Klientenzahlen, öffentliche Aufträge und Spendengelder der Kooperation nicht im Wege steht.

Wichtig erscheint May darüber hinaus auch der Abbau stationärer Strukturen in der Sozialarbeit. Dieses Erbe des Fürsorgesystems aus dem 19. Jahrhundert, welches für jede gesellschaftliche "Problem-" Gruppe, Alte, psychisch Kranke, Waisen, Behinderte usw., eine mehr oder minder geschlossene Anstalt schuf, sei nicht mehr zeitgemäß: Nicht nur (aber gewiss auch) aus Kostengründen favorisiert man heute Ansätze, die einer möglichst großen Zahl von hilfsbedürftigen Menschen ein eigenständiges Leben ermöglicht.

So viel Freiheit wie möglich, so viel Betreuung wie nötig könnte man diese Überlegungen zusammenfassen. Eine Strategie, die letztlich vor allem den Klienten zugute kommt, welche ein Mehr an persönlicher Freiheit erfahren können, ohne auf den Feldern, auf welchen sie Hilfe benötigen, auf sich selbst gestellt zu sein.

Offensichtlich wurde im Rahmen der Veranstaltung an allen Ecken und Enden die Verzahnung zwischen Theorie und Praxis der sozialen Arbeit auf der einen und der Sphäre des Politischen auf der anderen Seite.

Was für alle Menschenwissenschaften - Soziologie, Psychologie, Ethnologie usw. - gilt, hat noch viel mehr Gültigkeit für ein Wissens- und Praxissystem, dessen Anliegen darin besteht, Menschen zu helfen: Ohne Menschenbild keine Wissenschaft vom Menschen und ohne diese wiederum keine wissenschaftlich fundierten Hilfskonzepte.

Insofern ist soziale Arbeit zwangsläufig politisch, wenngleich nicht notwendigerweise im parteipolitischen Sinne, und sie ist ebenso zwangsläufig ein institutionalisierter Faktor im gesellschaftspolitischen Diskurs. Dass sie damit oft unbequeme Forderungen stellt und sich, indem sie gesellschaftliche Wirklichkeit kritisiert, nicht nur Freunde macht, liegt auf der Hand. Ebenso offensichtlich aber ist, dass sich die Akteure der Sozialarbeit, seien sie nun professionell oder im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeit aktiv, in Gesellschaftssegmenten bewegt, die von Wirtschaft und Politik gerne übersehen werden. In einer Zeit jedoch, in der nur noch wahrgenommen wird, wer eine laute Stimme hat, kommt es den Vertretern der sozialen Arbeit zu, die Stimme für die Benachteiligten und Hilfsbedürftigen zu erheben.

Globalisierung und europäische Integration - beides prozessuale Entwicklungen, die vor allem von wirtschaftlichem Handeln bestimmt werden - lassen die Aufgabe einer Lobbyarbeit für die sozial Benachteiligten zunehmend wichtig erscheinen. Denn eines ist evident: Die Kluft zwischen dem sozialen Oben und Unten erweitert und vertieft sich. Weltweit, europaweit und vor unserer Haustür. Die Zahl der Bedürftigen wächst, während die zur Verfügung stehenden Mittel bestenfalls unverändert bleiben.

Doch wie viel soziale Differenz hält eine Gesellschaft aus, ehe sie auseinanderbricht? Wie viel soziale Spannung verträgt ein multinationales Haus Europa, ehe seine Statik zusammenbricht? Und wie viel soziale Spannung ist erforderlich, um Terrorismus hervorzubringen? Fragen, die die Bedeutung der Kongress-Thematik unterstreichen. Fragen, über die man gerne noch etwas mehr gehört, etwas vertiefter gesprochen hätte, ehe sich das Kongress-Programm in eine Vielzahl von Arbeitsgruppen und Sektionen auseinanderdividierte, die der Vielfalt der sozialen Arbeit entspricht. Fragen auch, die weltweit gestellt und nach Möglichkeit beantwortet werden müssen. Gerade jetzt, nach den Attentaten in den Vereinigten Staaten . . .

Suche nach Sicherheiten

Gewiss, soziale Arbeit kann nicht alle diese Probleme lösen, thematisieren kann sie sie jedoch allemal. Umso erstaunlicher, dass auf dem Kongress zwar die eigene Defensivposition der sozialen Arbeit und das Primat des Ökonomischen beklagt, letztlich aber nicht allzu viel Grundlegendes im Blick auf das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft diskutiert worden ist.

Denn eines ist evident: Als gelungen empfundene individuelle Biographien, kollektive Zufriedenheit, Recht und Befähigung zur Partizipation am kulturellen und politischen Geschehen und als gerecht empfundene Verteilungssysteme für den gesellschaftlichen Reichtum sind Faktoren, die Sicherheit formieren. Der deutsche Bundespräsident Johannes Rau sagte in seiner Eröffnungsansprache: Eine Ökonomie, die das Soziale aus ihren Überlegungen verbannt, ist nicht haltbar. Deshalb, so der Präsident weiter, werde die Bevölkerung die europäische Einigung nur dann akzeptieren, wenn diese nicht auf Kosten des Sozialen ginge. Erweitert auf den globalisierten Raum heißt dies freilich, dass Ansätze einer neuen Welt- und Weltwirtschaftsordnung nur dann Akzeptanz finden können, wenn sie als gerecht und ausgewogen empfunden werden.

Freitag, 28. September 2001

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