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Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

In Rußland weiß niemand, wie es weitergehen soll ·

Befunde, Impressionen, Hoffnungen

Der Tanz auf dem Vulkan

Von Susanne Scholl

Zwei Männer gehen am Rande eines Abgrunds spazieren. Plötzlich stürzt der eine in die Tiefe. Der andere läuft hilflos am Rande des Abgrunds herum und ruft nach seinem
Freund. „Was ist mit Dir, ist Dir auch nichts geschehen?" „Das kann ich noch nicht sagen, ich falle noch", antwortet der Abgestürzte.

Ein Moskauer Witz aus diesen Tagen. Eine Zustandsbeschreibung Rußlands.

Zu Weihnachten ist es in Moskau immer besonders hektisch. Zu Weihnachten rennt man · viel mehr noch als im Rest des Jahres · durch die Stadt. Diese letzten Weihnachten ganz besonders. Das Geld ist
längst nichts mehr wert · wer welches hat, gibt es aus. Fernsehapparate, Videorekorder, Pelzmäntel, Autos · alles, was irgendwie einen konkreten Wert darstellt, wurde gekauft. In Moskau. Zu
Weihnachten. Nicht, daß alle Moskauer genug Geld hätten, um dieses in derlei Luxusgütern anzulegen. Aber all jene, die eben immer noch Gehälter ausbezahlt bekommen, immer noch irgendwie Zugang zu
harten Devisen haben, die waren zu diesen Weihnachten auf der Suche nach Dingen, in die es sich zu investieren noch lohnte. Denn keiner · wirklich keiner · im Land weiß, wie es weitergehen soll.
Moskau bereitet sich also auf die Eiszeit vor. Und tanzt derweil noch auf dem Vulkan.

Nostalgie und Fatalismus

Die Krisen der vergangenen Jahre zeigen sich in der Psyche der Menschen. Bei den Älteren in den ausreichend bekannten Nostalgieausbrüchen. Im Wunsch nach dem eisernen Besen, nach der harten Hand.
So daß jetzt die · selbst für Sowjet-Nostalgie mehr als anfälligen · Parlamentsabgeordneten die Wiederaufstellung der Statue jenes Mannes fordern, der für die Sowjet-Bürger das Symbol stalinschen
Terrors war: des Tscheka-Gründers Felix Dzerschinski. Bei den jüngeren in Konsumrausch und Fatalismus · und dem wieder stärker werdenden Schielen nach Fluchtmöglichkeiten. Nach einer Flucht in den
offenbar immer noch als golden geltenden Westen. Alle Schlagworte der vergangenen Jahre sind ihres eigentlichen Sinnes entleert: Reform, Demokratie, Marktwirtschaft. Synonyme für Korruption,
Freunderlwirtschaft und Chaos. Politik · ein undurchschaubares, ziemlich unappetitliches Spiel, dessen Regeln nur einige wenige wirklich zu durchschauen scheinen. Und diese wenigen spielen dieses
Spiel weiter, als ob nichts passiert wäre. Die gerade an der Macht sind, versprechen den Menschen Besserung, obwohl sie keine Lösung für die vielen Probleme zur Hand haben. Die an die Macht wollen,
sagen den Menschen, daß sie wüßten, wie die Lösung aussieht, verraten sie aber nicht.

Und wieder einmal schießen die neuen Parteien wie Pilze aus dem Boden. Rußland im Jahr 8 nach dem Ende der Sowjetunion. Es herrscht der Kampf um die Macht in diesem so unglaublich bankrotten Staat.
Denn das Leben, das alltägliche Leben, das für ein paar kurze Jahre besser zu werden schien, schleppt sich so recht und schlecht weiter · trotz der Krisen und trotz der Politiker.

Moskau, die Schöne, Große, Reiche, die so unglaublich profitiert hat von den ersten Jahren des Aufbruchs, die so weit entfernt scheint vom Rest des Landes · dieses Moskau ist gefangen in einem
Eiskristall, unter dessen Oberfläche es · kaum wahrgenommen von den meisten Menschen in der Stadt und schon gar nicht von jenen draußen im Land · brodelt.

Juri Luschkow, der Oberbürgermeister, von dem keiner so genau weiß, mit welchem Geld er seine Stadt so unglaublich hat aufblühen lassen, rüstet zum Sturm auf das Präsidentenamt. Sein Aufstieg scheint
unaufhaltsam. Seine neue Partei nennt sich „Vaterland" · ein Name, der Programm ist. Er ist es, der heute jene um sich sammelt, die sich in den postsowjetischen Jahren stets der sogenannten „Partei
der Macht" angeschlossen haben. Opportunisten aller Couleurs laufen zu ihm über · Menschen, die in der Nähe sein wollen, wenn er in den Kreml einziehen wird. Viele von ihnen haben in den vergangenen
Jahren so manche Anstrengung unternommen, kein auch nur halbwegs ernstgemeintes Reformvorhaben gelingen zu lassen.

Aber um Reformen für das Land geht es längst nicht mehr in diesem Kampf um den Kreml. Als hätten sie alle in diesen Jahren nur eines gelernt: Rußland ist nicht reformierbar. Da nimmt es nicht einmal
besonders wunder, daß auch die altbekannten russischen Nationalisten ihren Gefallen an dem Moskauer Oberboß finden, der sich ihnen ja schließlich auch dadurch empfohlen hat, daß er mitten in einer
der vielen Krisen mit dem Nachbarn Ukraine rund um die unsägliche, arme, verlotterte Schwarzmeerflotte vollmundig die Krim-Stadt Sewastopol zur russischen Stadt erklärte · oder das engere
Zusammengehen Rußlands mit dem kleinen Möchtegerndiktator Alexander Lukaschenko aus dem benachbarten Weißrußland lobt. Kein Wunder also, daß sogar ein Altrusse mit tiefem Zorn über die neue
Entwicklung, die eigentlich auch ihn, den Exilanten, hinweggefegt hat, der gerade 80 gewordene Alexander Solschenitzyn nämlich · der die Annahme eines Ordens verweigert, weil er die neue russische
Führung beschuldigt, das Land ins Verderben geführt zu haben · in Luschkow den Retter Rußlands sieht.

Aber Luschkow ist auch der Mann, der dem neu aufkeimenden allgemeinen Antisemitismus gegenzusteuern bemüht ist. Der sich · vielleicht auch aus Rücksicht auf die neuen russischen Bankiers, unter denen
viele Juden sind · für ein striktes Verbot jener Gruppen einsetzt, die seit Jahren mit Naziparolen und offenem Antisemitismus ihr Unwesen treiben. Der sich in der beschämenden öffentlichen Debatte um
antijüdische Aussagen prominenter kommunistischer Politiker auf die Seite der · wieder einmal · als einfachste Feindbilder Benutzten stellte. Dieser Luschkow also holt sich seine Verbündeten, wo er
sie bekommen kann, und wird gerade wegen seiner inneren Widersprüche von Moskaus Intellektuellen als „das kleinere Übel" de facto schon akzeptiert. Auch wenn man in Rußland weiß, wie furchtbar sich
doch „kleinere Übel" entfalten können.

Verwalter der Krise

Aber auch andere rüsten für den endgültigen Kampf um jenen Sessel, an dem Boris Jelzin, der einstige Hoffnungsträger aller, die ein wirkliches neues Rußland entstehen sehen wollten, so hartnäckig
festhält. Boris Jelzin, dem die Geschichte wohl die Ehre zuteil werden lassen wird müssen, es ernstgemeint zu haben mit dem Wunsch, ein neues, modernes, demokratisches Land aufzubauen. Boris Jelzin,
der wohl auch an seiner eigenen Vorgeschichte gescheitert ist. An jener Unfähigkeit, anders zu regieren als mittels elitärer Intrigen ganz im althergebrachten Politbürostil, mit denen er aufgewachsen
und hochgekommen ist. Michail Gorbatschow beherrschte diese Kunst freilich noch wesentlich besser als der heutige russische Präsident, doch seine historische Rolle war es eben, den Deckel vom
brodelnden Topf zu nehmen. Aber auch Jelzin ist an der Aufgabe, diesen brodelnden Topf zur Ruhe zu bringen, gescheitert · und will das nicht zugeben. Will auch nicht eingestehen, daß er keine Kraft
mehr hat, daß er nicht einmal mehr die Krise verwalten kann, was heute sein Ministerpräsident für ihn macht.

Jewgenij Primakow, dieser Ministerpräsident angeblich wider Willen, ist ein Mann alter Schule, ein Mann des Geheimdienstes. Glaubt man den Meinungsumfragen · und in der Regel kann man russischen
Meinungsumfragen nur in sehr beschränktem Maße glauben · so würden sich viele Russen, sagen wir lieber: viele Moskauer, Primakow an Jelzins Stelle im Kreml wünschen. Warum, weiß keiner der
Meinungsforscher zu erklären. Primakow ist jener Mann, der heute tatsächlich nichts anderes tut, als die Krise zu verwalten · darum bemüht ist, alle, die Unruhe bringen könnten, so

ruhig wie möglich zu halten. Ohne Ideen, ohne auch nur den Ansatz einer Vorstellung davon, wie das Land aus der derzeitigen Sackgasse zu befreien wäre.

Primakow, dem ebenfalls die alten sowjetischen Politspiele in Fleisch und Blut übergegangen sind, macht Versprechungen, ohne sie je zu erfüllen, und begrüßt es, wenn der sieche Präsident wieder
einmal seine engsten Mitarbeiter entläßt und Militärs an ihre Stelle setzt. Lächelnde Militärs. (Ein alter Freund hat · vor vielen Jahren einmal, kurz nach dem Operettenputsch der alten Männer gegen
Michail Gorbatschow · über Rußlands Militärs gesagt, sie machten ihm vor allem Angst, wenn sie lächelten.) Primakow hat die Krise wohl nur deshalb halbwegs unter Kontrolle, weil er wohl über fast
jeden derer, die heute in der Moskauer Politik mitspielen wollen, eine dicke Geheimakte zu Hause hat.

Da gibt es auch noch immer jenen Militär, der nicht lächeln muß, um Angst einzuflößen. Jenen General Lebed, der sich zum Gouverneur der rohstoffreichen sibirischen Region Krasnodar wählen hat lassen,
wo man ihn jetzt schon wieder los sein will, weil er in der kurzen Zeit seiner Regentschaft gezeigt hat, was viele schon länger vermutet hatten: Daß er als Regierender nichts zustande bringt.

Da sind die Kommunisten, die immer deutlicher zeigen, wie sehr sie ihren alten Vorbildern aus unsäglichen Zeiten immer noch verpflichtet sind. Und die ihre eigentliche Chance zu einer Zeit vertan
haben, als das Land noch auf dem Drahtseil balancierte · 1996 bei jener Wahl, bei der Boris Jelzin der Mehrheit der Menschen in Rußland als „das kleinere Übel" gegolten hatte.

Da gibt es auch noch jene, die so gerne als „Radikalreformer" bezeichnet werden, obwohl auch sie nie bewiesen haben, wie ernst es ihnen mit den Reformen eigentlich wirklich ist · und obwohl
inzwischen auch die meisten von ihnen, den jungen, gut ausgebildeten Managern, irgendwie mit Korruption und Vetternwirtschaft in Verbindung gebracht werden. Auch sie gründen jetzt wieder einmal eine
neue Partei und bezeichnen sich · so wie Luschkow auch · als Partei der rechten Mitte. Als ob dies allein schon ausreichte als Programm für dieses Rußland.

Und draußen · fern von Moskau?

Als die jüngste Krise Anfang September vergangenen Jahres ihren Höhepunkt erreichte, nahmen es die Menschen abseits der Metropole erstaunlich gelassen. Geld, so sagten sie immer wieder, hätten sie
auch vor der Krise schon keines gehabt oder bekommen · für sie, so sagten sie, ändere sich nichts. Denn schlechter, so der Zusatz, den sich die meisten aber verkniffen, schlechter könne es schon
nicht mehr werden. Der heurige Winter aber hat gezeigt, daß es schlechter noch werden kann. Die diesjährigen Versorgungsengpässe bei Strom und Fernheizung übertreffen die vergangenen Winter, die auch
schon hart genug waren. Und die Moskauer Turbulenzen bewirken, daß die Menschen in den Tiefen Rußlands noch mehr als bisher schon der Willkür lokaler Machthaber ausgeliefert sind.

Aber so war es doch schon immer in Rußland: Der Zar weit weg · und oftmals war das ein Segen und kein Schaden!?

Ruhe · und keine brüsken Kehrtwendungen. So lautet die Parole heute in Moskau wie in den Tiefen Rußlands. Radikale Veränderungen hat dieses Land in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert wohl schon zu
viele erlebt, als daß die Menschen sich neue wünschen könnten. Sollen die da in Moskau, die da oben im Kreml doch ihre Machtkämpfe ausfechten · solange sie uns nicht mit hineinziehen. · Doch das tun
sie, etwa mit dem staatlichen Pyramidenspiel, das die jüngste und schwerste Krise seit dem Ende der Sowjetunion ausgelöst hat, um nur ein Beispiel zu nennen.

Hoffen auf die Jungen

Katastrophale Aussichten also, am Ende dieses für Rußland so besonders schrecklichen Jahrhunderts? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Sicher · so ohne jegliche Perspektive hat sich das große
Land schon seit Jahrzehnten nicht mehr präsentiert. Und doch.

Rußland ist unermeßlich reich. Reich an Rohstoffen, reich aber auch an Menschen mit Ideen, mit Durchhaltevermögen, mit Überlebenswillen und · auch wenn mich immer ein leichtes Gruseln beschlichen
hat, wenn diese angeblich so russische Eigenschaft zur Sprache kam · mit einer über alle Maßen ausgeprägten Leidensfähigkeit. Oder ist es einfach die Überzeugung, daß das Leben weitergehen muß ·
jenseits der Politik und ihrer Intrigen? Die Zukunftsszenarien sind heute wenig beruhigend. In der besten aller Varianten erwartet Rußland vermutlich eine lange, lange Eiszeit, in der die Menschen ·
wie schon immer · ums Überleben kämpfen werden. In der furchtbarsten aller vorstellbaren Lösungen werden die zentrifugalen Kräfte im Riesenreich so stark werden, daß dieses zerfällt · in einzelne
Kleinteile, die von größenwahnsinnigen Lokalmachthabern mehr recht als schlecht geführt werden. Diese Variante allerdings ist schon oft beschworen worden · und doch nie eingetreten.

Bleibt eine Hoffnung, die ich · wie so viele meiner Moskauer Freunde · nicht aufgeben will. Die Hoffnung auf den ach so herbeigesehnten Generationswechsel. Immerhin stehen die Jungen, die den Druck
der Sowjet-Zeiten nur mehr mittelbar miterlebt haben, schon in den Startlöchern. Und vielleicht werden sich unter diesen Jungen dann doch jene finden, die entdecken, wo der eigene russische Weg in
ein modernes 21. Jahrhundert liegt.

Susanne Scholl war langjährige ORF-Korrespondentin in Moskau. Derzeit ist sie Leiterin des „Europa-Journals" im ORF-Rundfunk in Wien.

Freitag, 22. Jänner 1999

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