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Von Tokio nach Venedig

Ein Besuch im japanischen "DisneySea"-Vergnügungspark
Von Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter

Mit der Eröffnung des "DisneySea"-Vergnügungsparks im Jahr 2001 erweiterte der US-Unterhaltungsriese in Japans Hauptstadt sein bis dahin kleinstes Entertainmentgelände, "Tokyo Disneyland", zu einem groß angelegten Resort. Abseits der Großstadthektik dient ein vergleichsweise ruhiger Küstenstreifen entlang der so genannten Tokio Bay den Bewohnern der 30-Millionen-Metropole als Erholungsgebiet und Grünraum. Zwischen Meeresbrandung und Picknickplätzen sticht dem Spaziergänger die Silhouette jenes Märchenschlosses ins Auge, das eindeutig mit Disneyland in Verbindung gebracht wird. Seit 1983 zieht das Vergnügungszentrum Millionen von unterhaltungssüchtigen Kindern und Erwachsenen in seinen Bann. Gerade die Lage am Ufer des Pazifischen Ozeans schien auch für den zweiten Disney-Park Japans - zugleich den ersten, der sich mit der Thematik "Meer" beschäftigt - wie geschaffen.

Mäusegriffe, Mickeyfenster

Um von der nächstgelegenen U-Bahn-Station zum Parkeingang zu gelangen, besteigen die Ausflügler zunächst eine Einschienenbahn. In den Zügen stimmt ein spezielles Design auf das bevorstehende Erlebnis ein: Umringt von hunderten Haltegriffen in der Gestalt von Mäuseohren, erahnt der Neuankömmling durch die Fenster - in der Form von Mickeyköpfen - blickend, das Areal mit 7 Hotels, mehreren Shoppingcentern und zwei Vergnügungsparks. An dieser Stelle verlässt man Tokio, Japan, ja Asien überhaupt, um in eine amerikanisch dominierte Fantasiewelt einzutauchen.

Letzte Begegnung mit der Realität sind die 5.500 Yen, knapp 40 Euro, die die freundlich lächelnde Dame an der Kasse einfordert. Wie von einer Zeitmaschine versetzt, findet sich der Besucher danach zwischen bunt bemalten Renaissance-Fassaden wieder. Das Auge schweift über eine kleine Bucht, Raddampfer und italienische Gondeln passieren das Blickfeld, im Hintergrund erhebt sich ein mächtiger Vulkan. "DisneySea" bietet ein völlig konträres Programm zum üblichen Neuschwanstein-Kitsch des Enten- und Mäuseimperiums. Den staunenden Besucher erwartet eine Kunstwelt aus erstklassigen Kopien berühmter Touristenziele, zusammen mit disneyesken Interpretationen von Jules Vernes Science-fiction-Visionen rund um "20.000 Meilen unter dem Meer".

Mit einem für den Unterhaltungskonzern völlig neuartigen Konzept lädt "DisneySea" - rund zehn Kilometer vom Stadtzentrum Tokios entfernt - zu einer Kurzreise rund um den Globus ein. Der Besucher wird hier zu einem Globetrotter, der eine 14-Tage-Weltreise, komprimiert in acht Stunden, konsumiert. Das Angebot reicht vom nostalgischen "Lost River Delta" über die exotische "Arabian Coast" bis zur futuristisch angehauchten "Port Discovery". Keine traditionellen Disney-Dekorationen stören das Ambiente: Donald und Goofy bleiben im Hintergrund. Einzig die schmal geschnittenen Augen der Gondoliere im übertrieben sauberen Venedig erinnern daran, dass man sich eigentlich in Ostasien befindet.

Außerdem erscheinen die Gondeln im Vergleich zu ihren venezianischen Vorbildern etwas zu groß geraten. Stattliche sechzehn Gäste und zwei Ruderer fassen die Boote, die durch die nachgestellte Lagunenstadt gleiten. Perfekt rekonstruierte Palazzi, die Geschäfte, Restaurants und ein Hotel beherbergen, säumen die Ufer der wohlriechenden Kanäle. Dolce Vita in Disneys Meerespark bedeutet nicht Campari im Café Florian, sondern Grüntee und Cola im Fastfood-Ambiente.

Vorbei an den ehrwürdigen Fassaden der Palazzikopien schlendert der Besucher entlang des "Mediterranean Harbor" zur Renaissance-Burg und weiter zur "American Waterfront". Das Meer selbst bekommt der Disney-Gast freilich niemals zu Gesicht. Denn obwohl der Park direkt an der Tokio Bay liegt und die verschiedenen Attraktionen allesamt das Element Wasser thematisieren, ist "DisneySea" - wie alle Einrichtungen dieser Art - von der Außenwelt hermetisch abgeschirmt. Somit tragen gerade die allgegenwärtigen Wasserflächen zur artifiziellen Atmosphäre des Geländes bei.

Gleichsam als Gipfel der naturgetreuen Fiktionen erscheint der Feuer speiende Vulkankegel im Zentrum des Parks. Im Land der aufgehenden Sonne zählt der reale Mount Fuji zu den wichtigsten Identifikationssymbolen. Der rund 100 km südwestlich von Tokio gelegene Heilige Berg ist mit 3.776 Meter nicht nur die höchste Erhebung Japans, sondern auch ein aktiver Vulkan, der im Falle eines Ausbruchs auch die Hauptstadt verwüsten könnte. Während der Fuji aber 1707 das letzte Mal aktiv war, simuliert Disneys überdimensionierter Spielzeugkrater mehrmals täglich eine Eruption.

So faszinierend die Choreographie der einzelnen Arrangements auf den ersten Blick auch wirkt, so sehr beschleicht den europäischen Besucher nach einiger Zeit denn doch ein Gefühl der Langeweile. An Stelle von Achterbahnen und Animationskinos erwartet den zahlenden Gast lediglich eine Aneinanderreihung pittoresker Kulissen. "DisneySea" verzichtet bewusst auf kinderfreundliche Unterhaltung und richtet stattdessen sein Freizeitpro- gramm an jungen Pärchen aus. Vom ersten Date bis zur romantischen Hochzeitsfeier bietet der Themenpark alles, was zur perfekten Teenager-Liebe passt. Dazu gehört Händchenhalten am Canal Grande ebenso wie das abendliche Candlelight-Dinner mit anschließendem Feuerwerk. Und das junge japanische Publikum scheint sich in all den Theme-Restaurants und romantisch verklärten Szenerien durchaus wohl zu fühlen.

Um dieser neuen Zielgruppe gerecht zu werden, bricht der amerikanische Konzern sogar mit selbstauferlegten Tabus wie Alkohol und Sexualität. War die Befriedigung der kindlichen Phantasie das Wichtigste in der heilen Unterhaltungswelt der 80er Jahre, bemüht sich Disney nunmehr auch, die Wünsche der erwachsenen Klientel zu befriedigen. Hinter den malerischen Fassaden des mediterranen Hafens gibt es Hotelzimmer im nostalgisch kitschigen Ambiente der italienischen Renaissance. Das Konzept der schwülstigen Dekorationen erinnert an die unzähligen, unterschiedlich ausgestatteten japanischen Stundenhotels. Extrem beengte Wohnverhältnisse verleiden vielen jungen Paaren eine Liebesnacht im Eigenheim und machen Lovehotels zu einem fixen Bestandteil der japanischen Alltagskultur. Unter Berücksichtigung der lokalen Bedürfnisse bietet "DisneySea" Räumlichkeiten für romantische Vergnügungen mit Blick auf die Lagune Venedigs an. Inmitten der gekünstelten Kulisse erwacht bei den Gästen vielleicht der Wunsch nach einer späteren Hochzeitsreise in das wirkliche Italien.

Während die Gestaltung herkömmlicher Vergnügungsparks die Realität ausschaltet, spielt "DisneySea" bewusst mit täuschend echten Nachstellungen von tatsächlichen Sehenswürdigkeiten. Ohne direkte Anleihen bei existierenden Monumenten oder Straßenzügen zu nehmen, arrangierten die Designer des Disney-Konzerns architektonische Prototypen gekonnt zu einer neuen Phantasiewelt mit hohem Wiedererkennungswert.

Im Gegensatz zu Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett, Minimundus und ähnlichen Attraktionen, deren Faszination ja gerade in einer gewissen Abstraktion des jeweiligen Vorbilds liegt, ist es der Anspruch dieses Parks, eine möglichst originalgetreue Nachbildung im Maßstab 1:1 zu bieten. Zusammengesetzt wie eine Collage aus bekannten Fernsehbildern und Reiseprospektmotiven, präsentiert sich das stilisierte Venedig am Rande von Tokio italienischer als das Original selbst.

Die Imitation als Original

Auf den ersten Blick meint der ausländische Gast das Erfolgsrezept der Anlage schnell durchschaut zu haben. Disney bedient sich einer beliebten japanischen Freizeitbeschäftigung, des Sightseeings, das räumlich komprimiert und inhaltlich perfektioniert wird. Dennoch befremdet den Europäer der offensichtliche Mangel an Originalen. Warum pilgern Japaner zu phantasielosen Imitationen realer Orte und huldigen der Scheinwelt eines US-Unterhaltungskonzerns? Gerade für japanische Touristen spielt Authentizität doch eine sehr große Rolle. Gerne lassen sie sich bekanntlich vor den traditionellen Wahrzeichen ablichten, um damit die Echtheit ihrer Reise zu beweisen. Warum sind dann gerade in Japan nachgestellte Bauwerke und Besichtigungsobjekte so erfolgreich?

Die eigentliche Leistung der Schöpfer von "DisneySea" liegt nicht in der naturgetreuen Nachbildung gewisser bekannter Landstriche, sondern in der Schaffung einer perfekten Fiktion, die authentischer wirkt als das Original. Gerade in einem Land, in dem Markenprodukte wie etwa die überaus populären Louis-Vuitton-Handtaschen einen sehr hohen Stellenwert haben, überstrahlt das Image von "Disney" als eigenständiges Label die Bedeutung der nachgestellten Szenarien. "DisneySea" ist keine Kopie, kein Plagiat, sondern ein Ort, der durch eine eigene Identität besticht. Für Japaner ist es genauso außergewöhnlich, von einer Fahrt nach "DisneySea" zu berichten, als von einer Reise nach Venedig, Rom oder Paris. Als Imitation real existierender Architekturexempel mutiert "DisneySea" selbst zum Original.

Freitag, 14. Jänner 2005

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