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Auf der Suche nach der traditionellen Kultur im modernen Japan

Ein Dasein in Harmonie

Von Walter M. Weiss

Die Verstörung ist unvermeidlich: Nähert man sich, womöglich gar zur Rush-hour, das erste Mal der Kernzone Groß-Tokios, wähnt man sich in einem Science-Fiction-Film. Das Häusermeer, das da von allen Seiten gegen die vielspurige Flughafenautobahn brandet, ist ungeheuerlich - ein Ozean aus Beton, ohne Ufer, ohne erkennbare Mitte und durchsetzt mit futuristischen Wolkenkratzerinseln.

Später, auf den ersten Erkundungsgängen, wundert sich der Neuankömmling nicht minder: Er fühlt sich irritiert von der übervölkerten Enge. Stellt angesichts der rätselhaften Zeichenschrift entgeistert seine jähe Verwandlung in einen orientierungslosen Analphabeten fest. Und ist zugleich fasziniert von der Sauberkeit der Stadt, der perfekten Organisation ihrer Fortbewegungsmittel und der für eine Weltmetropole beispiellos hohen öffentlichen Sicherheit.

Des Gastes Sinnesorgane freilich stöhnen auf. Denn hoch über den Köpfen, auf den zahlreichen Stelzenstraßen, tost unablässig der Schwerverkehr. Aus den Pachinko-Spielhallen quillt das infernalische Gerassel ganzer Batterien von Flipperkugeln, und aus den Karaokebars das Gejaule sake-seliger Sinatra-, Presley- und Pavarotti-Nachahmer. In den Geschäftsstraßen überschwemmt die Lichterflut abertausender Reklametafeln neongrell die Augen. Auch die bizarren Fassaden der Kapsel- und Love Hotels und die kunterbunten Kunststoffspeisen in den Restaurantvitrinen verstören den Sehsinn.

Suche nach Kultiviertheit

Die Einheimischen begegnen dem langnasigen Fremdling zunächst vorwiegend als Masse - dicht gedrängt und diszipliniert, extrem zuvorkommend, doch zugleich distanziert und direkten Blickkontakt tunlichst meidend. Dreißig Millionen leben im Einzugsbereich der "Großen Mandarine", wie sich Tokio im Vergleich zu dem "Big Apple" New York augenzwinkernd nennt - rund ein Viertel aller Japaner. Und das auf einer Fläche, die kaum größer ist als das Burgenland! Kein Wunder, dass die legendäre weihevolle Ästhetik und Anmut des Landes hier unter einer dicken Schicht aus Profanem, Lautem, häufig auch Hässlichem verborgen liegt.

Wer in der Hauptstadt nach der hoch verfeinerten Kultiviertheit des traditionellen Nippon sucht, muss sein Augenmerk auf spezielle Stätten und Details richten. Fündig wird er zum Beispiel auf der Omotesando. Just an dieser schicksten aller Schaumeilen, auf der ganze Horden hedonistischer Teenies blondgefärbt, in hypermodischen Klamotten und auf absurd hohen Plateausohlen entlang stolzieren, lädt eine unscheinbare Villa in die Ära der Ukiyo-e, der Farbholzschnitte, ein. Das kleine, private Ota-Museum besitzt über zehntausend Werke ehrwürdiger Meister wie Utamaro, Hiroshige und Hokusai, deren Genreszenen aus Tokios Vorgängerin Edo - Portraits von Konkubinen, Sumo-Ringern und Kabuki-Mimen, die auch Frankreichs Impressionisten begeisterten - das Bild Japans in Übersee nachhaltig prägten.

Zum Leben erweckt wird diese volkstümliche Welt allabendlich im Kabuki-za, dem einschlägigen Theater an der Ginza. Die religiöse (und nationale) Überlieferung findet man am sorgfältigsten in den großen shintoistischen Schreinen, dem Senso-ji im Bezirk Asakusa etwa oder im Meiji-jingu, bewahrt. Natürlich eröffnen auch die Sammlungen des National- und des Stadtmuseums Einblicke in das historische und künstlerische Erbe. Die dort ausgestellten Kalligraphien und Keramiken, Gemälde und Skulpturen, Rüstungen und Textilien sind von feinster Qualität. Und selbst beim Schaufensterbummel auf der Ginza kann es passieren, dass ein Plakat den Passanten in das Obergeschoß eines Edelkaufhauses lotst, wo eine erlesene Sammlung von No-Masken oder Samurai-Schwertern der Bewunderung harrt.

Doch auch abseits von Sakralstätten, Bühnen und Museen stößt man auf Spuren überlieferter Harmonie: die Kimono-Trägerin in der U-Bahn; der Kyudo-Schütze, der mitten durch das Menschengewusel von Shibuya seinen sorgsam verpackten Bogen aus Bambus trägt; die hölzernen, von den Gläubigen mit ihren Wünschen an die Götter beschrifteten Votivtäfelchen in den Schreinen; die archaischen Rituale der ringenden Fleischberge in den Sumo-Arenen; die schlichten, betörend eleganten Arrangements der Sushi-Köche und Auslagendekorateure; das ständige Sichverneigen aller vor allen; das Hersagen von Höflichkeitsformeln . . . Alles Erscheinungen, die von der tiefen Verwurzelung in jahrhundertealten Sitten zeugen, und vom Wunsch, das Dasein durch Ästhetisierung, Etikette und einen festgefügten Kanon von Riten und Zeremonien zu erhöhen.

"Selbst in der Stadt wirst du das Land vorfinden", lautet ein japanisches Sprichwort. Tatsächlich gelangt man in zentralen Bezirken vielerorts mit wenigen Schritten aus der urbanen Hektik in Gässchen und Hinterhöfe von nahezu ländlicher Idylle. Nicht ohne Grund nennt der Volksmund Tokio die "Stadt der 1.000 Dörfer".

Dennoch ist nichts falscher, als nur die Hauptstadt zu meinen, wenn man Japan sagt. An die 4.000 Inseln umfasst dieser fernöstliche Archipel, der sich von Okinawa im subtropischen Süden über 3.000 km weit bis Hokkaido erstreckt und alles in allem von ausgesprochen ruralem Charakter ist. In etlichen Orten der Provinz, die übrigens zu zwei Dritteln aus steilem Bergland besteht, findet man noch offenkundig und lebendig, was in den Ballungsräumen nur mehr in Nischen der Gesellschaft oder Museen konserviert ist.

Takayama beispielsweise. Dieses nördlich von Nagoya in den Japanischen Alpen gelegene Städtchen gilt als Hort besonders behutsamer und erfolgreicher Traditionspflege: Häuserzeilen, einstöckig und zur Gänze aus Holz, mit Toren aus Bambusgitter, Fensterläden aus Zeder und Zäunen aus Weidengeflecht. Davor Holzlaternen, Lampione, Bonsai-Bäumchen. In den verkehrsberuhigten Gassen reihenweise Galerien, Kunsthandwerksläden, Sake-Brauereien. Am Nordrand ein gutes Dutzend durch Wanderwege verbundene Tempel und Schreine. Etwas außerhalb liegt ein Freilichtmuseum, bestückt mit dem kompletten Sortiment der Gebirgsregion an originalen, strohgedeckten Bauernhöfen.

Spätestens dann, wenn man an solch einem Ort in einem Ryokan, dem althergebrachten Gästehaus, Quartier nimmt; wenn man Schuhe und Alltagsgewand ab-, den Yukata-Umhang aus Baumwolle überstreift und sich auf den Tatami-Matten niederlässt; wenn dienstbare Geister daraufhin Tee kredenzen, den mit glimmender Holzkohle gefüllten Fußwärmer bringen; hernach die mit Reispapier bespannten Tür- und Wandpaneele zur Seite schieben, sodass der Blick auf einen wie mit Nagelscheren manikürten Landschaftsgarten samt Goldfischteich fällt. Und wenn man sich schließlich vor dem vielgängigen Abendmenü gar noch im warmen Wasser des Furo, des hölzernen Badezubers, räkelt - ja, dann fühlt man sich endgültig angekommen im anderen, dem entspannten, beseelten Japan.

Schönheitssinn

Seit Marco Polo seine irrigen Ansichten über die "goldene" Insel Cipangu in die Welt gesetzt hat, üben Lebensstil und Schönheitssinn der Japaner einen magischen Reiz auf den Westen aus. Sie zu beschreiben, ist ein ebenso verführerisches wie fragwürdiges Unterfangen, lauern doch allerorten Klischees. Die vom leisen Wind zerstreute Kirschblüte, der meditierende Mönch vor der vergoldeten Buddha-Figur, Kraniche im Reisfeld, ätherische Fräuleins im Kimono; Glöckchen, Fächer, Schirmchen, Puppen aus Papier und Porzellan, Lack und Elfenbein. Und alles wie mit Pastellfarben hingepinselt und vom Hauch der Vergänglichkeit umhüllt. Das Reservoir an Requisiten, Statisten und Stimmungen zur Inszenierung des Märchens vom mythenumwobenen Mikado-Reich ist schier unerschöpflich. "Es ist wie ein Traum", schwärmte schon vor hundert Jahren der aus England stammende Japan-Verehrer Lafcadio Hearn, "ein Traum, in dem uns die Menschen genau so begrüßen, wie wir gegrüßt werden möchten, uns genau das sagen, was wir zu hören wünschen, und für uns alles tun, was wir gern getan hätten . . ."

Was kunstbeflissene Enthusiasten und esoterische Sinnsucher noch immer gerne verdrängen, ist zum einen die gewaltige Vitalität der modernen Industrienation Japan und zum anderen die harte Wirklichkeit ihrer Geschichte und Geographie - die langen Perioden von Unterdrückung, Verrat und inneren Kämpfen, die Bauernaufstände, Christenverfolgungen, die Selbstopfer der Samurai und Kamikaze, Nanking, Pearl Harbour, Hiroshima, die unzähligen verheerenden Erdbeben und Vulkanausbrüche, Flutwellen, Feuerstürme und Taifune.

Glanz und Grazie

Behält ein Reisender all dies im Hinterkopf, senkt er die Gefahr, frivolen Stereotypen aufzusitzen. Und darf sich unbefangener von Glanz und Grazie verzaubern lassen. Die Möglichkeiten dazu sind mannigfach: Man kann etwa in das 40 km nordöstlich von Tokyo gelegene Städtchen Omiya fahren, um in dessen berühmten Bonsai-Gärtnereien den Meistern dabei zuzusehen, wie sie die teilweise Jahrhunderte alten und bis zu 10 Millionen Yen (100.000 Euro) teuren Miniaturgewächse Schnitt um Schnitt weiter in eine Zwergenform zwingen. Man kann in Nikko im Schatten majestätischer Zedern Tokugawa Ieyasu, dem Begründer der wohl bedeutsamsten Dynastie von Shogunen, an seinem Mausoleum die Reverenz erweisen. In Kamakura, von wo aus die Oberfeldherren des 13. und 14. Jahrhunderts das Reich regierten, stattet man den berühmten Zen-Tempeln Besuche ab. In Kanazawa, an der Küste des rauen Japanischen Meeres, wandert man durch die pittoreske Altstadt und den Kenroku-en, eine besonders bezaubernde - freilich auch dementsprechend bevölkerte - Schöpfung einheimischer Gartenarchitekten. In Nara, Japans erster Hauptstadt und Wiege des im 7. Jahrhundert aus China importierten Buddhismus, umwandert man ehrfürchtig den Daibutsu, den 16 m hohen, aus Bronze gefertigten "Großen Buddha".

All diese Orte verlässt man hoch beeindruckt, bisweilen begeistert. Und doch wird man sie im Nachhinein eher als eine Art atmosphärische Ouvertüre empfinden, als Einstimmung auf die Begegnung mit jener Stadt, die das pulsierende Herz des traditionellen Japan ist: Kioto.

Vom Ende des 8. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war Kioto Kaisersitz und gemeinsam mit Nara die Wiege der japanisch-höfischen Kultur. Noch heute ist es Krönungsort der Tennos, geprägt von Spiritualität und Ästhetik, gepaart mit einem tief verwurzelten Sinn für Überlieferung und hoch entwickelter Handwerkskunst. Gewiss, als Eineinhalb-Millionen-Metropole hat Kioto, das den Zweiten Weltkrieg äußerlich unbeschadet überstand, auch eine gewöhnliche, ja schäbige Seite. Doch es besitzt über 2.000 Tempel und Schreine, von denen sich viele der schönsten rund um die Stadt an die Abhänge bewaldeter Hügel schmiegen. Unvergesslich die Wanderung entlang der östlichen Stadtgrenze von der imperialen Villa Shugaku-in über den Philosophenpfad am alten Kanal und durch den Maruyama-Park zu dem auf aberhunderten Pfeilern thronenden Kiyomizu-Tempel. Unvergesslich auch der Abendspaziergang durch den feenhaft illuminierten Garten des Kodaiji-Tempels und hernach durch die alten Gassen von Gion.

In Gion, dem Amüsierviertel am Ostufer des Flusses Kamogawa, begegnet man zwischen den vornehm verwitterten Fassaden der Holzhäuser mit etwas Glück auch endlich einer leibhaftigen Geisha. Die Kirschlippen karmesinrot bemalt, das Gesicht zur kreideweißen Maske geschminkt, sieht man sie, diese Ikone sublimer Erotik, die schmetterlingsgleich durch die Phantasien von Generationen europäischer Männer flatterte, in Holzsandalen über das Pflaster trippeln.

In der japanischen Kunst bedeutet die Verpackung sehr viel. Sie dient dazu, das Gemeine, den Alltag mit Zeremonien und Ritualen zu kaschieren. Hohe Kunst - das ist in Japan mehr als anderswo die perfekte Beherrschung eines Materials: des Papiers, der Blume, des anmutigen Frauenkörpers. Und so wie Japaner den Wert des einzelnen daran messen, wie sehr er den Erwartungen der Gruppe entspricht, so sehr schätzen sie den Wert einer Kunst gemäß deren Übereinstimmung mit dem Ideal. Nicht nach persönlichem Ausdruck der Seele streben Maler und Architekt, Gärtner und Geisha, sondern nach Vollkommenheit.

Faszinierenden Resultaten dieses Strebens begegnet man in Kioto allenthalben: In den Werkstätten der Fächermacher, die bis heute die Kunst beherrschen, das hauchdünne Papier zu befeuchten und händisch in Falten zu legen. Bei den Seidenwebern im Bezirk Nishijin, die Stoffe von gespinsthafter Feinheit und Farbenpracht fabrizieren. Bei den Blumensteckern im Ikebana-Zentrum, in den Lehrkursen der Meisterinnen der Tee-Zeremonie und bei den Tuschzeichnern in den Galerien rund um das Kalligraphie-Museum.

Irgendwann landet man auf

den Erkundungsgängen durch diese köstliche Stadt schließlich auch im Ryoan-ji-Tempel. Dessen legendärer "Tora no ko watashi no niwa", der "Garten der über den Fluss setzenden Tigerjungen", gilt den aus aller Welt anreisenden Zen-Jüngern als eine Art Allerheiligstes. Die Reiseführer mögen über seine 15 bemoosten Steine im weißen, wellengleich gerechten Kiesgrund verkünden, sie würden das Universum symbolisieren. Sitzt man selbst auf den polierten Brettern der kleinen, für Touristen errichteten Tribüne und blickt hinab auf das schüttere Geviert, kann es passieren, dass einem die Ahnung aufgeht: Das Unerklärliche ist wirklich unerklärlich.

Freitag, 14. Jänner 2005

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