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Eine Japanisch-Lehrstunde im Tokioter Stadtexpress

Tenno, Ueno und Ginza

Von Marc Tornow

Auf den ersten Blick geht es rund um den Tokioter Hauptbahnhof beschaulich zu. Überraschend leise präsentiert sich die japanische Hauptstadt selbst zur Hauptverkehrszeit. Es wird nicht gehupt, nicht geschubst, nicht gedrängelt - obwohl Millionen von Pendlern täglich vor allem mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Die Bahnhofshalle aus rotem Backstein von 1914 ist eine Kopie der Amsterdamer Central Station. Sie beherbergt nachts Scharen von Obdachlosen und wirkt im Schatten schillernder Bürokomplexe und des stromlinienförmigen Tokyo International Forum wie ein Fremdkörper. Die allgemeine Ruhe wird nur von Fanfarenklängen und ständigen Lautsprecherdurchsagen unterbrochen, die die Einfahrt jedes Zuges begleiten.

Eine Fahrt mit der Yamanote-Linie gewährt frappierende Einblicke in die japanische Kultur und Gesellschaft. Denn die S-Bahn-Strecke führt über 34,5 Kilometer im Kreis, entlang der politisch, wirtschaftlich und kulturell bedeutenden Subzentren Tokios. Mit "Yamanote" wurde im alten Tokio die "Oberstadt" bezeichnet, das Viertel der Reichen. Das heutzutage von der gleichnamigen Bahnlinie in 60 Fahrminuten umrundete Gebiet gilt als "Zentrum" eines Großraums von etwa 30 Millionen Einwohnern. Der Bahnhof Tokio markiert lediglich den Ort, an dem die Stadt unter dem Namen Edo im späten 15. Jahrhundert entstanden ist.

Kaiserpalast und Parlament

Auf der Westseite der Tokyo Station erstrecken sich die kaiserlichen Palastanlagen, hinter deren meterhohen Mauern Kaiser Akihito residiert. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft liegt Kokkaigijido, das Regierungsviertel, von Bauten im faschistischen Stil der 1930er Jahren geprägt. Wären da nicht die abweisenden Fassaden, hinter denen die Administration von Premier Junichiro Koizumi agiert, könnte das Arrangement aus großzügigen Gärten, moderner Architektur und historischen Bauten dem gängigen Bild von Japan entsprechen.

Die räumliche Nähe der Parlamentarier zum nach wie vor als gottgleich empfunden Kaiser führt zum Erstarken eines neuen Nationalismus. Seit 1999 erklingt im Land der aufgehenden Sonne wieder die alte Kaiserhymne. Sie huldigt der Macht des Tennos "in alle Ewigkeit", obwohl er heute nur noch repräsentative Aufgaben erfüllt. Diese Machtbeschränkung ist ein Resultat der Politik von Kaiser Hirohito, der während des Zweiten Weltkriegs die aggressive Kolonialpolitik seines Landes gegenüber den Nachbarstaaten zumindest billigte. Die alte Hymne Kimigayo ist wieder salonfähig und wird beispielsweise bei Fahnenappellen anlässlich des Beginns eines neuen Schuljahrs gespielt. Ganz gleich, ob Lehrer oder Schüler: wer sich bei der Melodie nicht vom Stuhl erhebt, riskiert Schikanen und Karriereeinbußen.

Die rote Sonnenscheibe mit Strahlenkranz, das einst verbotene Symbol des Militarismus, ist gleichfalls wieder erlaubt, zu sehen unter anderem am Yasukuni Schrein nördlich des Kaiserpalastes. Hier wird auch Kriegsverbrechern spirituelle Ehre erwiesen. Am Schrein ist zudem eine Waffensammlung untergebracht, die ihn damit zum Wallfahrtsort für Rechtsradikale aus dem ganzen Land macht. In den Mittagsstunden finden sich Scharen von Japanern in den typisch dunklen Anzügen zu einem kurzen Gebet und einer Nudelsuppe ein.

Auch Premierminister Koizumi von der derzeit regierenden Liberal-Demokratischen Partei (LDP) erschien bereits viermal hier. Seine Auftritte am Yasukuni-Schrein sorgten regelmäßig für diplomatische Verstimmungen mit China und den beiden Koreas. "Als Japanerin kann ich nicht erkennen, dass Koizumi deswegen ein Neo-Nationalist wäre", sagt Yoko Doi, die bei den Vereinten Nationen in Tokio tätig war und seit kurzem in Afghanistan arbeitet. "Die jetzige Regierung geriert sich bestenfalls neo-konservativ, vor allem gegenüber den USA". Die Schrein-Besuche des Premiers führten zwar zu Verstimmungen mit den Nachbarn, sind aber nicht der Grund für das größte politische Tief, das Japan seit Koizumis Amtsantritt 2001 erlebt.

Die Regierung entsandte im Frühjahr Soldaten in den Irak. Dieser erste bewaffnete Auslandseinsatz japanischer Truppen seit dem Zweiten Weltkrieg wird im Westen kaum beachtet, umso argwöhnischer aber in den asiatischen Nachbarländern verfolgt, die unter dem japanischen Militarismus zu leiden hatten. Nach jüngsten Umfragen sind 60 Prozent aller Japaner für die Beibehaltung der in der Verfassung verankerten pazifistischen Haltung ihres Landes. Allerdings gilt Japan als Eineinhalb-Parteien-Demokratie, in der die LDP das Sagen hat und die Opposition, bestehend aus Demokratischer Partei, Kommunisten und Sozialdemokraten, nur als unbedeutendes Anhängsel im Parlament vertreten ist. Die unterschiedlichen LDP-Fraktionen stützen sich vor allem auf die einflussreiche Agrarlobby und fördern durch wiederholte Verstrickung in Bestechungs- und Finanzskandale die Politikverdrossenheit.

Als prominenter Fürsprecher einer rechtsradikalen Linie tritt Tokios Gouverneur Shintaro Ishihara auf. Im aufkeimenden Nationalismus, der sich im Kaiser, der Flagge und der Nationalhymne manifestiert, wird die Luft auch für die koreanische Minderheit in Tokio wieder dünner. Kaum vom japanischen Kolonialismus befreit, teilten ideologische Grabenkämpfe auf der koreanischen Halbinsel die heute etwa 650.000 ethnischen Koreaner auch in Nippon in "Nord" und "Süd". Die für Pjöngjang agierende Vereinigung der Koreaner in Japan, Chongryun (CR), genoss im Vergleich mit der pro-südkoreanischen Vereinigung Mindan zunächst höheres Ansehen. Mit den militärischen Drohgebärden aus Nordkorea und dem kürzlich gemachten Eingeständnis, japanische Staatsbürger in den 1980er Jahren in das Reich Kim Il-Sungs verschleppt zu haben, hat der Wind jedoch gedreht. CR wird beschuldigt, an den Entführungen von damals beteiligt gewesen zu sein. Ein Vorwurf, der von den Statthaltern Pjöngjangs in Tokio schroff zurückgewiesen wird, aber Radikale wie den Gouverneur Ishihara auf den Plan rufen. Das Atompotential Nordkoreas gibt den rechts-konservativen Kreisen der LDP zudem Gelegenheit, öffentlich über eine japanische Atombombe nachzudenken.

Die Enkel der größtenteils zwangsweise nach Japan geholten Koreaner haben in Ueno, mit der Yamanote-Linie nur ein paar Stationen vom Regierungsviertel entfernt, eines ihrer Zentren gefunden. In den Torbögen unter den Gleisen sowie in angrenzenden Seitenstraßen erstreckt sich ein Eldorado an Restpostenmärkten, meist unter koreanischer Regie. Billige Kleidung und Elektronikartikel finden hier viele Abnehmer. Die Kundschaft besteht hauptsächlich aus Japanern, die auch in den günstigen Garküchen einkehren und koreanischen Chimki, den scharf eingelegten Weißkohl, kosten.

Bei genauerer Betrachtung unterscheidet sich das bunte Ueno aber doch von den anderen, überwiegend von Japanern bewohnten Stadtteilen. Jener dörfliche Charakter, der sich beispielsweise in den Seitengassen von Shinagawa bewahrt hat, fehlt hier völlig. In Shinagawa, rund um das Wahrzeichen der Stadt, dem Tokyo Tower, flanieren elegante Japanerinnen in Seidenkimonos mit Mobiltelefon in der einen, einem Fächer in der anderen Hand. Männer in schwarz-weiß gemusterten Bademänteln und mit Holzpantoffeln kehren von einem Besuch im Bad nach Hause zurück und machen unterwegs Halt an einem der 24 Stunden am Tag geöffneten Supermärkte. Hinter kleinen Holzhäusern ragen Bürotürme auf - Traditionsbewusstsein und High Tech auf engstem Raum. Gemeinsam sind allen Wohngebieten hingegen die an jeder Ecke aufgestellten Getränkeautomaten. Das Sortiment reicht von grünem Tee und Ginseng-Drinks in Dosen bis zu Cola in Plastikflaschen. Obwohl in Tokio nur wenige Mülleimer zu finden sind, liegt nirgendwo Abfall herum.

Das teils nationalistische Getöse weckt vor allem in Wirtschaftskreisen Bedenken. Japan erholt sich gerade von einer jahrelangen Rezession und China ist mit 11 Prozent Exportanteil zum zweitwichtigsten Handelspartner hinter den USA aufgestiegen. Da reißen die Auftritte des Premiers an sensiblen Orten wie dem Yasukuni-Schrein alte Wunden wieder auf. Dies könnte sich bei der Vergabe weiterer Aufträge an Japan nachteilig auswirken, warnen Kritiker.

Davon ist derzeit jedoch wenig zu spüren. Im Gegenteil, der Export boomt und die japanische Bilanzrezession, bei der Industrie und Bevölkerung Schulden abbauten und Zurückhaltung bei der Aufnahme neuer Kredite übten, geht dem Ende zu. Japans Wirtschaftsminister Heizo Takenaka hebt die erstmals seit rund zehn Jahren steigende Binnennachfrage hervor.

Einkaufen in der Ginza

Von der Yurakucho Station an der Yamanote-Linie sind es nur wenige Schritte ins Herz des exklusiven Einkaufsviertels, in die mit vielen Reklametafeln geschmückte Ginza. "In Japan ist es üblich, selbst bei einem kleinen Besuch eine Aufmerksamkeit mitzubringen", sagt Hiromi Sawada, Lektorin an der Tokioter Universität. Dem Kult um das passende Geschenk wird in den Einkaufstempeln besonders Rechnung getragen. Trotz lang anhaltender Rezession liegen die Grundstückspreise noch immer bei 140.000 US-Dollar pro Quadratmeter. Entsprechend ist das Preisniveau in den Läden: eine Honigmelone etwa kostet im Renommier-Kaufhaus Mitzukoshi 80 Euro! Ihr Erwerb wird vom Personal mit einer tiefen Verbeugung honoriert.

Die meisten Passanten sind für das europäische Auge tadellos gekleidet. Daher lässt sich schwer abschätzen, ob eher Arme oder auch Reiche die Yamanote-Linie, das wichtigste öffentliche Verkehrsmittel Tokios, benutzen. Unterschiede werden bei der Lektüre ersichtlich. Die einen greifen zu "Asahi Shimbun", dem konservativen Tagesblatt mit einer Acht-Millionen-Auflage. Andere lesen unbeirrt und scheinbar unbeachtet von Mitreisenden einen pornografischen Manga, eines der typisch japanischen Comics im Format eines Telefonbuchs.

Viele Pendler nutzen die Fahrten hingegen für ein Schläfchen - und zwar zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Aus Erschöpfung, die die oft weiten Wege zwischen Wohnung und Arbeitsplatz mit sich bringen. Lange Wartezeiten gibt es allerdings nicht, da die rund 200 Meter langen Züge alle zwei bis vier Minuten verkehren. Graffitis, aufgeschlitzte Polster oder liegengelassener Müll sind in den silbern polierten Waggons sowie im öffentlichen Raum nahezu unbekannt. Auf den Bahnhöfen wie in Parks ist rauchen verboten. An bestimmten Plätzen sind Bistrotische mit eingelassenen Ascherbechern aufgestellt, um die sich die Raucher drängen.

Freitag, 16. Juli 2004

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