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Auf den Spuren des Christentums in Japan

Café Nazareth in Sakitsu

Von Hans H. Krüger

Manchmal werden Orte fern der großen Wege zum Brennpunkt ihrer Zeit. Einer dieser Plätze liegt an der Westküste der japanischen Insel Kyushu. Hier,

auf den Amakusa-Inseln, errichteten Ende des 16. Jahrhunderts portugiesische Jesuiten-Missionare ein Kolleg. Das Priesterseminar dauerte zehn Jahre - drei Jahre Latein, drei Jahre Philosophie, vier Jahre Theologie. In einem Anbau wurde eine Gutenberg-Presse aufgestellt. Unter den Druckern war auch ein ehemaliger Zen-Mönch, dessen einstige Unterweisung darin bestanden hatte, die Leere zu sehen und das Nichts zu hören. Jetzt erstellte er Wörterbücher und religiöse Werke, in denen die reine Wahrheit, absolute Unfehlbarkeit und ewige Gnade versprochen wurden.

Zu diesem Zeitpunkt stand die fremde Heilslehre auf den Inseln in höchster Blüte. Es gab zwölf Kirchen, die Zahl der Konvertierten ging in die Tausende. Tagelöhner und arme Bauern träumten von einer neuen Gerechtigkeit. Im Jahre 1637 kam es auf den Amakusa-Inseln und der angrenzenden Halbinsel Shimabara zu einem der blutigsten Aufstände in der japanischen Historie. Auslöser war die unerträgliche Besteuerung der Bauern durch zwei Feudalherren. Wer nicht bezahlen konnte, wurde barbarisch bestraft: Absägen von Gliedmaßen mit einer Bambussäge, Pfählen, Verbrennen, Vierteilen, Tod auf dem Rost. Samurais ab einem bestimmten Rang erlaubte man großzügig, sich selbst den Bauch aufzuschlitzen.

Höchstes Ziel der Bakufu-Militärdiktatur unter dem dritten Tokugawa-Shogun Iemitsu war die Aufrechterhaltung der Ordnung. Bevorzugt wurden prompte Lösungen statt abstrakter Gerechtigkeit. Zwischen Gewalt und Gnade bestand kein Gleichgewicht. Unter der Leitung eine Gruppe herrenloser Samurai rebellierte die Bevölkerung gegen die Unterdrückung. Spiritueller Anführer wurde ein attraktiver, wundertätiger 16-Jähriger namens Shiro Tokisada. Sein christlicher Name lautete Jeronimo, berühmt wurde er als Amakusa Shiro. Es hieß, sein Gesicht sei schön gewesen wie das eines jungen Mädchens. Es wird berichtet, er habe Feuer einatmen, in der Luft schweben, über Wasser gehen und Kranke durch Handauflegen heilen können. Er selbst behauptete von sich, ein Abkömmling des Himmels zu sein.

Nach einigen Anfangserfolgen mussten sich die Aufständischen in eine verlassene Burg auf der Halbinsel Shimabara zurückziehen. 37.000 Menschen, unter ihnen 14.000 Frauen und Kinder, verteidigten sich in der Festung Hara gegen eine gewaltige Übermacht. Unterstützt wurden die Regierungstruppen von holländischen Händlern. Das Segelschiff "de Ryp" feuerte 426 Kanonenschüsse auf die Mauern ab. Am 11. April 1638 wurde die Burg nach dreimonatiger Belagerung gestürmt. Dann begann das große Gemetzel. Nur ein Verräter unter den Eingeschlossenen überlebte. Der Kopf von Amakusa Shiro wurde zur öffentlichen Zurschaustellung in die Hafenstadt Nagasaki geschickt.

Die Niederschlagung der Rebellion bedeutete gleichzeitig das Ende des Christentums in Japan. Die letzten Missionare wurden ausgewiesen - oder hingerichtet, einheimische Gläubige zum Widerruf aufgefordert - oder getötet. Alle Familien mussten sich im nächstgelegenen Tempel melden und Zeugnis darüber ablegen, dass sie nicht vom fremden Glauben verseucht worden waren. Wer auf Jesus- und Heiligenfiguren herumtrampelte, hatte die Prüfung des reinen Japanertums bestanden. Nur auf abgelegenen Inseln, abseits der politischen Überwachung, konnten einige christliche Gemeinden überleben. Aus Angst vor Entdeckung beteten sie nicht mehr die Mutter Gottes an, sondern die weibliche Kannon-Figur. Im japanischen Pantheon gilt Kannon als eine Transformation des erbarmungsvollen und gnadenreichen Buddha. Irgendwann erschöpfte sich ihr Glaube in mystischen Riten, fremden Rätseln und unerfüllten Hoffnungen.

"Perlen-Linie" durchs Archipel

Wer heute auf Gottes Spuren nach Amakusa reist, braucht viel Zeit und Geld. Zuerst mit dem Shinkansen von Tokio nach Hakata auf der Insel Kyushu, weiter mit einem Eilzug zur alten Burgstadt Kumamoto, dann der Lokalzug nach Misumi. Die Kleinstadt an der Westküste von Kyushu bildet das Tor zum Amakusa-Archipel, einer Gruppe von 120 Inseln, rund 880 Quadratkilometer groß, die sich in der Weite des Ostchinesischen Meers verlieren. Die Bewohner leben von Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Tourismus. Die größten Inseln heißen Oyanoshima, Kamishima und Shimoshima. Fünf Brücken verbinden die Eilande untereinander und mit dem Festland. Die Ausflugsroute durch den Archipel trägt den poetischen Namen "Perlen-Linie". Sie führt zu verborgenen Schönheiten, stillen Dörfern und vergessenen Bildern.

Einziges öffentliches Verkehrsmittel auf den Inseln sind die grünen Busse der Sanko Transportgesellschaft. In Misumi befindet sich die Haltestelle neben einer Tankstelle, 20 Gehminuten außerhalb des Ortszentrums. Nachmittags sitzen gerade ein halbes Dutzend Fahrgäste im Bus, alte Männer mit viel Zeit, alte Frauen mit schwerbepackten Einkaufssäcken. Draußen zieht eine Traumlandschaft vorbei: schroffe Berge, tief eingeschnittene Täler, zerklüftete Küstenstreifen. In geschützten Buchten werden Garnelen gezüchtet.

Im Hafen von Matsushima ankern Fischerboote, Schlepper und schwimmende Saugbagger. Das einzige moderne Gebäude im Ort ist eine Spielhalle namens Da-Oh. Die Glasfront ist mit Neonreklamen zugepappt. Jetzt, Anfang November, haben die meisten Hotels, Gasthäuser und Restaurants geschlossen. Menschenleere Straßen, die Glockenspiele der Fußgängerampeln erklingen für niemanden. Abends treffen wir in einem Fischrestaurant Herrn Mazuda. Er ist ein fideler Mittfünfziger mit der Jovialität eines Handlungsreisenden. Herr Mazuda spricht rudimentäres Englisch, kommt aber auf den Punkt. "I am a bad boy", sagt er pausenlos. Jeden Abend, erzählt er, gehe er einen heben. Er bevorzugt Shochu, Kartoffelschnaps, angereichert mit einer eingelegten Pflaume, gestreckt mit Mineralwasser. Danach vergnügt er sich im örtlichen Nachtklub, dessen weibliches Personal hauptsächlich aus Filipinas und Chinesinnen besteht. Seine Frau, erklärt er ungefragt, habe für seine Zerstreuungen größtes Verständnis. Ein japanisches Sprichwort sagt: "Hauptsache, der Mann ist gesund und nicht zu Hause." Über das Christentum weiß er nichts zu berichten, dafür viel über Autos. Herr Mazuda ist der örtliche Honda-Vertragshändler.

Ein neuer Tag, ein neuer Sanko-Bus. Die Straße zur Bezirkshauptstadt Hondo auf der Insel Shimo-shima führt vorbei an kleinen Fischerhäfen und Ausflugslokalen in Schockfarben. Die beeindruckende Zahl von Steinbrüchen, Zement- und Kieswerken, Baggern, Raupen und Betonmischern symbolisiert die japanische Angst vor Naturkatastrophen und die unheimliche Allianz aus Politik und Bauindustrie. Die Küste ist entweder zubetoniert oder mit Wellenbrechern geschützt. Hässliche Betonmauern sichern Straßen gegen Erdrutsche. Die meisten Bachläufe und Flüsse sind kanalisiert. Eine Hinweistafel droht mit der automobilen Zukunft. Sie zeigt eine vierspurige Schnellstraße, die wie ein Betonfluss parallel zur Küste verläuft.

Hondo gilt als Zentrum christlicher Erkennungszeichen. Die Topographie der Erinnerung ist eine sonderbare Mischung aus Pathos und Symbolik. Es gibt einen christlichen Friedhof, eine Kirche, eine Lourdes-Grotte voller Marienstatuen - und ein modernes Museum. In Glasviritrinen werden die westlichen Neuerungen und Absonderlichkeiten des 16. Jahrhunderts präsentiert: Uhren, astronomische Geräte, chirurgische Bestecke, vergilbte religiöse Bücher, Rosenkränze, Christus- und Heiligenfiguren.

Wo einst die Burg stand, wurde der Märtyrer-Park angelegt. Das Mahnmal für die Opfer des großen Aufstands heißt "Sennin-zuka", was so viel wie Grabmal der 1.000 Seelen bedeutet. Ein Bronzerelief zeigt den portugiesischen Jesuiten Luis de

Almeida, der 1569 von Nagasaki aus nach Amakusa gekommen war, um das Wort Gottes zu predigen. Die Statue von Amakusa Shiro weist mit dem linken Zeigefinger in die Unendlichkeit des Himmels. Einmal im Jahr findet zur Erinnerung an die Märtyrer eine nächtliche Fackelprozession statt.

Hondo selbst ist eine gesichtslose japanische Kleinstadt: ein Schachbrettmuster aus Straßen und Gassen, Betonmasten mit einem Gestrüpp aus Elektrizität- und Telefonleistungen, funktionelle Kastenbauten, kunterbunte Einkaufsstraßen. Weiter geht es nach Sakitsu im Süden von Shimoshima. Die Straße wird immer enger, die Landschaft immer urtümlicher, kleine Reisfelder, winzige Orangenplantagen, mit Plastikbahnen bedeckte Gewächshäuser. An den Berghängen kleben alte Bauernhäuser. Überall wachsen Bambus, Pflaumenbäume und Kiefern. Wegen ihrer Widerstandskraft selbst in den kältesten Monaten werden sie in Japan

als "die besten Freunde des

Winters" bezeichnet. In der taoistischen Lehre werden Mönche angehalten, Kiefernadeln, Zapfen und Harz zu essen, um so die unsterbliche Lebenskraft des Baumes zu erwerben.

Sakitsu ist ein Fischerdorf am Ende der japanischen Inselwelt. Es liegt an einem steilen Berghang in einem stillen Fjord und besteht aus einem Gewirr zweistöckiger Holzhäuser mit tiefgezogenen Dächern, deren glasierte Pfannen im Sonnenlicht flimmern. Das einzige Café heißt Nazareth - und ist geschlossen. Im einzigen Restaurant, das maximal sechs Gästen Platz bietet, sitzen Herr und Frau Suzuki und schlürfen Nudelsuppe. Sie sind im Auto aus Kumamoto gekommen, um das Grab ihrer Eltern herzurichten. Frau Suzuki sagt: "Sakitsu hat 2.000 Einwohner, aber jedes Jahr werden es weniger. Die Jungen suchen einen Job in den Städten, in Fukuoka, Kumamoto, Nagasaki. Nur die Alten bleiben zurück."

Farbenfrohe Jesusstatue

Überragt wird Sakitsu vom Glockenturm der katholische Kirche. Sie wurde 1933 erbaut. Im Eingangsbereich müssen die Schuhe ausgezogen werden. Es gibt kein Gestühl. Der Fußboden ist mit Tatamie ausgelegt, goldgelben Reisstrohmatten. Zum Altar führt ein dunkelroter Läufer. Die Fenster sind mit gelben und blauen Glasscheiben geschmückt. Im Seitenschiff zeigen naive Gemälde die Kreuzwegs-Stationen. An der Wand des Chors steht eine farbenfrohe Jesusstatue. Gottes Sohn ist ohne Kreuz, also nicht als Leidensfigur dargestellt. Was nachvollziehbar ist in einem Land, in dem nur Kriminelle gekreuzigt wurden. In einer Broschüre steht (auf Japanisch und Englisch): "Die katholische Bevölkerung beträgt nur 1.000 Seelen (Hondo: 150, Sakitsu: 330, Oe: 580). Aber man denkt nicht in Zahlen. Der Glaube, weitergereicht durch Zeiten voller Leiden, ist der Schlüssel zur Liebe Gottes und der Menschen, der Schlüssel zu Friede und Freude."

Der Priester ist auf Visite beim Bischof in Fukuoka. Stattdessen treffen wir Schwester Nelia. Sie ist 75 Jahre alt und hat ein winziges faltenloses Gesicht. Sie ist Mitglied der Salesianerinnen. Ihre Eltern waren Aussiedler, geboren wurde sie in Brasilien. Als Kind kehrte sie nach Japan zurück. Wann ist sie in den Orden der Heimsuchung eingetreten? "Vor 30 oder 40 Jahren", sagt sie. Ihr Mutterhaus ist in Oe, 40 Busminuten von Sakitsu entfernt. "Wir sind nur noch fünf Schwestern", erzählt sie. Schwester Nelia arbeitet im katholischen Kindergarten gleich neben der Kirche. Betreut werden 39 Kinder zwischen eins und sechs.

Ein steiler Weg mit hohen Stufen führt zum Hügel über dem Dorf. Am Hang stehen christliche Gräber, ein Shinto-Schrein, kleine Buddha-Figuren. Auf dem Plateau erhebt sich ein riesiges Holzkreuz, davor befindet sich ein kleines Amphitheater. Weit geht der Blick über Fjorde, bewaldete Höhen, die vorgelagerten Inseln, das Meer. Ein Bild wie aus der Schöpfungsgeschichte . . .

Freitag, 07. November 2003

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