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In Tokio verwirren sich die europäischen Perspektiven

Die flüchtige Stadt

Von Wolfgang Popp

Kommt man erstmals nach Tokio, bewegt man sich in eine symbolische Leere hinein. Man überlegt, was man zuerst sehen möchte, wenn man ankommt, und es fällt einem nichts ein. Tatsächlich gibt es kein für die Stadt repräsentatives Gebäude, das man besichtigen, besteigen oder umrunden könnte und dessen Anblick die Geschichte und das Flair Tokios - seinen unverwechselbaren Gefühlsraum - wachrufen würde. Wofür es gute Gründe gibt: 1923 wurde die Stadt von einem Erdbeben und einer sich anschließend ausbreitenden Feuersbrunst fast vollständig zerstört, im Zweiten Weltkrieg von den amerikanischen Bombardements. Und was nach diesen beiden Katastrophen noch stand, wurde in den Jahrzehnten des japanischen Wirtschaftswunders abgerissen und durch moderne Neubauten ersetzt.

Ein Blick auf den Stadtplan zeigt, dass der Kaiserpalast nur einen Kilometer westlich vom Bahnhof liegt, an dem man gleich aussteigen wird. Ohne ein Bild vor Augen zu haben, beschließt man hinzugehen, schon allein, weil sich der Palast und der ihn umgebende Garten fast genau im Zentrum der Stadt befinden und man wissen möchte, worum die Stadt sich dreht. Das Areal ist dreifach von seiner Umgebung abgeschlossen, durch seine Mauern, einen Wassergraben und eine sechsspurige Straße. Betreten darf man es nicht, da der Palast noch immer als kaiserliche Residenz dient. Das ehrwürdige Alter, das man sich von einem solchen Bau erwartet, hat dieser jedoch nicht: Fertiggestellt wurde er 1968 als Ersatz für seinen im Zweiten Weltkrieg zerstörten Vorgänger.

Die unsichtbare Mitte

Die Mitte der Stadt bedeutet hier etwas ganz anderes als in europäischen Städten. Manifestiert sie sich dort in einem großen Platz, dem öffentlichen Raum par excellence, der meist von der ältesten Bausubstanz der Stadt umschlossen wird und einen zentripedalen Sog auf sein Umfeld ausübt, so ist sie hier für die Öffentlichkeit funktionslos und unsichtbar. Tatsächlich hat man vom Vorplatz des Kaiserpalastes einen wesentlich besseren Blick hinaus auf die Stadt als hinein auf den Palast mit seinem Garten. Die Führung des Blicks durch die Stadt, die Inszenierung der Straßenzüge als Blickachsen . . . das ist ein weiterer Punkt in der Stadtplanung, in der westliche und japanische Auffassungen einander fast diametral gegenüberstehen. Ließ man in Europa die wichtigsten Straßen und damit den Blick auf symbolisch aufgeladene Gebäude "stoßen", legte man sie in Tokio so an, dass sie ungehindert in die umliegende Natur ausliefen, nach Möglichkeit in Richtung des Fuji, der auf diese Weise als Ansicht ins Stadtbild miteinbezogen wurde: Zahlreiche Farbholzschnitte mit Darstellungen Edos (wie Tokio bis 1868 hieß) zeigen den heiligen Berg unverhältnismäßig groß und, nur durch Wolken von der Stadt getrennt, über derselben thronen.

Man nimmt wieder den Stadtplan zur Hand und stellt fest, dass sich auf der Rückseite vergrößerte Ausschnitte einzelner Stadtteile finden: Shinjuku, Ueno, Shibuya, Ikebukuro. Alle liegen sie auf einer Stadtbahnlinie, der Yamanote, die sich ringförmig um das Zentrum der Metropole zieht. Die jeweiligen Stationen, besser Bahnhöfe, stellen die Herzen dieser Stadtteile dar. Nicht nur, weil sie Verkehrsknotenpunkte sind, sondern, weil sie damit automatisch auch - wie immer in Japan - Konsumzentren sind. Wobei die beiden Funktionen so eng verschmolzen sind, dass sich bei oberflächlicher Betrachtung dieser Gebäudekomplexe kaum sagen lässt, wo der Bahnhof aufhört und das Kaufhaus beginnt. Ihre jeweiligen Identitäten beziehen auch diese Stadtteile weniger aus symbolisch aufgeladenen Gebäuden als aus der jeweiligen Verfügbarkeit bestimmter Waren und Dienstleistungen. In Shinjuku befinden sich die großen Elektronikdiskonter und Tokios bekanntestes Rotlichtviertel. Ikebukuro besitzt zwei der größten Kaufhäuser der Welt, von denen das eine - Seibu - eine Lebensmittelabteilung besitzt, in der man leicht einen Nachmittag verbringen kann. Shibuya bietet alles, was Menschen unter 35 zu brauchen glauben. Und in Ueno, das damit das andere Tokio darstellt, liegt die Ameyayokocho-Arkade, ein billiger Straßenmarkt und ein Park mit zahlreichen Museen.

Das bisher Gesagte mag erklären, warum gerade in dieser Stadt dem Begriff des Großstadtnomaden so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Demjenigen also, der diverse Orte ohne distinkten Charakter durchläuft - u. a. Konsumweideflächen abgrast -, denen er sich, über ihre vorläufige Funktion hinaus, die er nutzt, nicht verbunden fühlt. Und bei dieser Emanzipation von seiner unmittelbaren Umgebung bekommt der Großstadtnomade von allen Seiten Unterstützung: Mode-Designer entwarfen multifunktionale Großstadtnomadenkleidung, die Technologie sorgte dafür, dass er immer überall sein konnte, aber immer weniger hier sein musste, und die Architekten sorgten für Räume, die so flexibel sein sollten, wie die Menschen, die sich in ihnen bewegten: Bereits in den 60er Jahren formierte sich die Bewegung des Metabolismus, die versuchte, die starren Formen innerhalb der Gebäude so weit als möglich aufzulösen, um auf diese Weise ihr Nutzungsspektrum so breit als möglich zu halten.

Der Architekt Toyo Ito hat sich überhaupt von der Vorstellung gelöst, dass die Stadt zuallererst aus Häusern besteht: "Im Gegensatz zur westlichen Kultur, für die die Stadt ein Museum mit einem festen Bestand an Monumenten und Räumen darstellt, begreift er die Stadt Tokio als etwas Flüchtiges, das sich nicht in festen Gebäuden, sondern in Elektrizitätsmasten, Verkaufsautomaten, Leuchtreklamen und Verkehrszeichen artikuliert; seine Stadt wird definiert durch das Kleinformatige, den kurzen Moment und die zufällige Begegnung."

Der rastlose Japaner

Diese Ausrichtung der Stadt auf Bewegung, Beweglichkeit und Bewegte hin scheint wie eine Zementierung des Klischees vom rastlosen, hypernervösen Japaner, der verlernt hat, zu bleiben. Dabei ist es gerade diese Flexibilität der Räume, die jeden Ort zu einer Insel der Intimität machen kann. Nur dass eben diese Inseln nicht durch Mauern nach außen hin abgeschotet, sondern durch Anwesenheiten oder gesellschaftliche Abmachungen definiert sind. Erstes Beispiel: Die überfüllten U-Bahnen lassen auf den ersten Blick keinen Gedanken an Intimität aufkommen, dicht an dicht drängen sich die Menschen, Schulter an Schulter sitzen sie nebeneinander auf gegenüberliegenden Sitzbänken. Bald fällt einem aber auf, dass die meisten schlafen, eine höchst intime Tätigkeit, die gerade deshalb bei uns im öffentlichen Raum keinen Platz

hat (öffentliche Schläfer stehen bei uns im Kontext von Alkoholismus und Obdachlosigkeit). Und diejenigen, die nicht schlafen, schauen nicht - was übrigens eine Konstante der japanischen Blickkultur darstellt und die Voraussetzung dafür ist, dass Intimität in der Öffentlichkeit überhaupt entstehen kann. Man hat hier fast den Eindruck, dass der Blick für die Japaner hörbar ist, als Anrede gilt, auf die in jedem Fall Ansprache folgen muss, um seine Bedeutung konkret zu machen.

Zweites Beispiel: Spätnachts torkeln drei Geschäftsmänner in Anzug und Krawatte stockbesoffen durchs Rotlichtviertel, einer kickt vor den Augen eines Ordnungshüters einen Verkehrskegel um, der zweite kotzt in die Mülltonne, der dritte überwacht beschwichtigend die Szenerie und grenzt die Gruppe dadurch von der Außenwelt ab, weshalb sich auch niemand, einschließlich des Ordnungshüters, um sie kümmert.

"Baby sein"

Der japanische Soziologe Doi Takeo sieht in seinem Buch "Anatomy of Independence" im Verb amaeru den Schlüsselbegriff zum Verständnis der japanischen Gesellschaft. Es lässt sich etwa mit Baby sein übersetzen und bezeichnet für ihn die Kunst, zu wissen, wann man sich gehen lassen kann, also von welchem Gegenüber man zu welchem Zeitpunkt Nachsicht, Verwöhnung und Hingabe erwarten, ihm also wie ein Kind seiner Mutter begegnen darf. Der richtige Zeitpunkt spielt also die Hauptrolle, weniger der richtige Ort.

Den wirklich ruhigen Winkel, der für uns die Voraussetzung für Intimität ist, hat es in Japan ja auch nie gegeben. Betrachtet man das traditionelle Wohnhaus, fällt zuallererst das Fehlen massiver Begrenzungen auf. Die Wände waren dünn - meist nur ein papierbespannter Holzrahmen - und ließen sich in den meisten Fällen verschieben oder sogar vollständig entfernen. Das Bett, der Nullpunkt des täglichen Lebens, hatte seinen festen Platz nicht in einer dunklen Ecke des Raumes, sondern war - wie alles Mobiliar - beweglich und wurde nur für die Zeit des Gebrauchs hervorgeholt. Der Raum war also leer und wartete darauf, von den Anwesenden "bespielt", mit Identität versehen zu werden.

Ebenso verhielt es sich mit den Plätzen in der Stadt. Sie waren nicht von der Obrigkeit errichtet worden, mit Gebäuden als sichtbaren Zeichen ihres Machtanspruchs, vielmehr kamen Plätze "zufällig" zustande, durch das Zusammenlaufen von Verkehrsadern an Brückenköpfen, oder weil aus Gründen der Brandprävention breite Schneisen in die Stadt geschlagen wurden. Diese symbolisch vakanten Plätze wurden also der Bevölkerung überlassen, die sie bereitwillig mit ihrem Alltag bespielte. Womit wir wieder beim Anfang wären und der Frage, wohin man in Tokio gehen muss, um Tokio zu sehen.

Freitag, 04. April 2003

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