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In Tokio gehen Nahverkehr und Konsum Hand in Hand

Kaufhäuser mit Bahnanschluss

Von Martin Hablesreiter und Sonja Stummerer

Tokios Bahnhöfe gelten international als Vorbilder für das perfekte Zusammenspiel von Eisenbahnverkehr und Shopping. Vielerorts entstehen mittlerweile Architekturtheorien, die auf der nahezu vollkommenen japanischen Symbiose zwischen öffentlichem Verkehr und Konsum basieren.

Das Verlassen eines Eisenbahn- oder U-Bahn-Zuges in Japans Großstädten, besonders in Tokio, erweist sich manchmal als schwieriger denn erwartet. Anstelle frischer Stadtluft erwartet den Besucher oft unverhofft der Duft des Geldes in einem der unzähligen Shopping-Tempel. Tageslichtverheißende Rolltreppen münden vielerorts in riesige Großkaufhäuser. Mühsame oder teure Direttissimas durch Parfum- oder Schuhabteilungen verzögern nicht selten den Weg nach draußen.

Architektonische Vordenker wie der Niederländer Rem Koolhaas bezeichnen diese unmerklichen Übergänge zwischen verschiedenen urbanen Funktionen als "smooth spaces", holprig übersetzt: "gleitende Räume". Derartige Gedanken über die räumliche Symbiose von öffentlichen Transportbauten und Einkaufsparadiesen wurden von der elitären Architekturtheorie genauso begeistert aufgenommen wie von Marketing-Strategen europäischer Verkehrsunternehmen. Präzisere Betrachtungen jener "smooth spaces" in Tokio oder in Osaka hinterfragen allerdings die These, die besagt, dass Einkaufsmöglichkeit und Bahnhof in diesen Städten immer perfekt Hand in Hand gehen.

Riesige Raumgefüge

Tatsächlich funktioniert das Zusammenspiel zwischen den beiden urbanen Funktionen in Japans Großstädten sehr gut. Für ungeübte Benutzer erscheinen Tokios bedeutendste Verkehrsknotenpunkte in Shinjuku, Shibuya oder Ikebukuro als Labyrinthe. Die entstehende Orientierungslosigkeit erweckt den Eindruck riesiger Raumgefüge und verleitet jeden Fahrgast dazu, seine Yen locker zu machen. Auch der Verlust des individuellen Zeitgefühls aufgrund raffinierter Verkaufskonzepte verstärkt das Gefühl, einzig und allein vom Konsumrausch durch die Hallen getragen zu werden. Die fantasievoll präsentierten Produkte, die nicht hinter Glasscheiben, sondern direkt am Rande der langen Wege von U-Bahn-Linie A zu Eisenbahnlinie B locken, tun ein Übriges, um den Besucher durch den Raum "gleiten" zu lassen.

Auf diese Art perfektionierte Funktionsabläufe wirken als Wohltat im Vergleich zu Qualität und Quantität der Infrastruktur auf europäischen Bahnhöfen. Doch warum scheitern Europas Verkaufsstrategen in Anbetracht der funktionierenden Konzepte in Japan?

Die 30 Millionen Menschen, die im Großraum Tokio wohnen, erfordern natürlich hohe gesellschaftliche Akzeptanz und enorme Frequenz der öffentlichen Verkehrsmittel. Daraus resultieren einerseits die berühmten Menschenmassen in Tokios Bahnhöfen und andererseits die besondere urbane Bedeutung dieser Zweckbauten. ist Der Gedanke, mit dem privaten Pkw ein Zentrum in Japans Hauptstadt zu erreichen, ist beinahe absurd. Mangelnde Parkmöglichkeiten, stundenlange Staus und horrende Parkgebühren führen zwangsläufig zur Benützung öffentlicher Transportmittel. Die wirtschaftliche Potenz, die sich aufgrund der enormen Anzahl der Fahrgäste um die Bahnhöfe bündelt, machte aus diesen rasch die eigentlichen Zentren der Städte.

Die Symbiose zwischen Markt- und Transportbauten gründet sich aber auch auf die Tatsache, dass die einzelnen Funktionsbereiche doch nicht so nahtlos miteinander verbunden sind, wie beim flüchtigen Betrachten angenommen. Die durchgestylten Einkaufsparadiese erweisen sich durchaus als separierte Bereiche. Zwar wird die größtmögliche Nähe zur Bahnhofszone gesucht, doch die Station selbst muss durch ein Drehkreuz verlassen werden, ehe die angepriesenen Produkte erworben werden können. Da in Tokio die Waren hauptsächlich in Großkaufhäusern und nicht in kleinen Boutiquen angeboten werden, ist eine tatsächliche räumliche Trennung vom Bahnhof unumgänglich. Kleine Geschäfte und Kioske habendie Möglichkeit, sich direkt innerhalb des streng kontrollierten Bahnhofbereiches anzusiedeln; große Konsumtempel hingegen nicht. Die exakte Trennung von der öffentlichen Infrastruktur ermöglicht allerdings auch, sich außerhalb der Geschäftszeiten vollständig abzuschließen. Untertags unsichtbare Rollläden lassen die Welt der teuren Marken und der Sonderangebote bei Nacht aus den Augen der Fahrgäste verschwinden. Der gleitende Raum weist somit durchaus Grenzen auf.

Die Kaufhäuser selbst folgen einem MarketingKonzept, das dem europäischen an sich widerspricht, nämlich dem des Indoorbummels. Während der Sonntagsspaziergang durch die Zürcher Bahnhofsstraße oder über den Wiener Graben oft und gern für einen gemütlichen Schaufensterbummel genützt wird, befriedigen die schier endlosen Hallen in Luxuskaufhäusern die japanische Lust am Flanieren. Zudem bieten diese Konsumtempel, ähnlich dem "Harrods" in London, ein beinahe unendlich großes Angebot an Waren und Dienstleistungen und die Gewissheit Jahrhunderte langer Kauftradition. Die geschichtsträchtigen Häuser buhlen im harten Konkurrenzkampf aber nicht nur um die durchreisenden oder besser durchhetzenden Salarymen, wie Japans Büroangestellte liebevoll genannt werden, sondern auch um jene, die ohnehin nach Shinjuku, Shibuya oder Ikebukuro fahren, um zu shoppen.

Bestmögliche Nähe zum nächsten Transportmittel bedeutet auch ein Höchstmaß an Komfort für den Kunden und gerade das ist in Japan von enormer Wichtigkeit. Die nahe Infrastruktur ist kein kurzfristiger Werbegag, um neue, zufällig vorbeikommende Kunden zu gewinnen, sondern optimaler Service für jene, die ohnehin kommen, um zu kaufen.

Ein Tiefgaragendasein

Dieser Verkaufsgrundsatz im Umgang mit öffentlichen Transportbauten zeigt sich auch im allgemeinen Stadtbild. Im Gegensatz zu Europa, wo Bahnhöfe versuchen, sich durch aufregende Architektur und/ oder Monumentalität machtvolle urbane Präsenz zu sichern, sind diese in Tokio beinahe zu einer Art "Tiefgaragendasein" verdammt. Während die Großkaufhäuser den sichtbaren Stadtraum kontrollieren und durch ihre wuchtige Erscheinung beeinflussen, bescheidet sich die öffentliche Infrastruktur mit simpler Funktionsarchitektur.

Auf räumliche Notwendigkeit reduziert, präsentieren sich jene Räume in Shinjuku oder Shibuya, die tatsächlich der unmittelbaren Benutzung von Eisenbahn- oder U-BahnLinien dienen. Großzügige Bahnhofshallen, wie sie in vielen europäischen Städten zu finden sind, existieren in Japan nicht. Stattdessen erscheinen die Umsteigzonen nur als kleinräumige Gangstrukturen, die ausschließlich die Wege zwischen den Bahnsteigen ermöglichen. Kleine Funktionsboxen beinhalten Fahrkartenschalter, Reservierungsbüros oder Informationsschalter und diese sind, sofern nicht überhaupt automatisiert und auf der Straße angeordnet, direkt vom öffentlichen Außenraum begehbar. In diesem Sinne wäre es beinahe schon absurd, bei Tokios Bahnhöfen von öffentlichen Räumen zu sprechen.

Die streng kontrollierten Drehkreuze ermöglichen zudem ausschließlich Inhabern von Fahrkarten den Zutritt zu den eigentlichen Stationsräumen. Die "gleitenden Räume" bleiben also im Prinzip den Besitzern von Eintrittskarten vorbehalten, denn im Kaufhaus wird doch der Inhaber einer Kreditkarte dem Besitzlosen vorgezogen. Der tatsächlich öffentliche Raum im Bahnhofsbereich reduziert sich dadurch auf ein paar wenige Unterführungen und Wegpassagen.

Ein Beitrag zum Stadtgefüge

Das japanische Zusammenspiel von Transport und Kommerz ist nun aber nicht nur Ausruck schnöder Wirtschaftsentwicklung, sondern ein in der Tat funktionierendes urbanes Konzept. Die Infrastruktur wird nicht als eigenständiges, städtisches Element betrachtet, wie dies in Europa so oft passiert, sondern als wesentlicher Beitrag innerhalb eines pulsierenden Stadtgefüges. Eisenbahn- oder U-Bahn-Netze werden weder als gefährliche Feinde noch als ehrwürdige Überwesen betrachtet, sondern als Knotenpunkte, an die so nah wie möglich angedockt werden muss.

Somit werden in Tokio alle Vorteile, die eine Station bieten kann, direkt genutzt. Das Verbinden der Verkehrslinien, das Andocken anderer Verkehrsmittel und das Lockmittel "leichte Erreichbarkeit" werden perfekt kombiniert - und darauf wird im wahrsten Sinne des Wortes aufgestockt. Die Kaufhäuser werden meist direkt über die Gleiskörper gebaut, um die optimale Nähe zu diesen zu garantieren.

Natürlich erleichtert die Tatsache, dass in Japan Bahn und Kaufhaus oftmals den selben Besitzer haben, die Entwicklung solcher Stadtzentren, doch es wäre auch in Europa eine Wohltat, wenn Bahnhöfe nicht nur für überteuerte und unattraktive Shoppingzonen genützt werden könnten. Das urbane Element Bahnhof ist in Tokio perfekt in den Stadtraum integriert und kann dadurch seine Funktion als Orientierungspunkt innerhalb der Stadt behaupten. Zentrum und Bahnhof sind in Japan keine getrennten Bereiche, sondern sie bilden einen gemeinsamen Knotenpunkt.

Freitag, 22. November 2002

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