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Naoya Hatakeyama und die japanische Gegenwartsfotografie

Eingefrorene Augenblicke

Von Johanna Di Blasi

Die Gesamtheit japanischer Gegenwartsfotografie wird gern mit der Formel "Lust und Leere" umrissen, seit eine Ausstellung in der Kunsthalle Wien 1997 diesen Titel trug. Folgt man diesem Schema, so liegt auf vorderster Lustfront der obsessiv-obszöne Partyheld und Starfotograf Nobuyoshi Araki. Ein Minnesänger einer ins Chaos rutschenden Welt, der seine Nacktmodelle wie Ikebanas oder Sushi-stückchen drapiert und seine Heimatstadt Tokio wie ein riesiges Bordell aussehen lässt - ein das Image der Stadt nachhaltig prägender Blick.

Auf der extremen Leere-Seite steht Hiroshi Sugimoto. Mit "erhabenen" Seestücken übersetzt der Tokioter den "sparsamen Pinsel" des Zen ins Fotografische, kultiviert einen Stil des visuellen Schweigens. Die schrillen Selbstdarsteller Mariko Mori und Yasumasa Morimura wären irgendwo zwischen Lust und Leere anzusiedeln: eine postmoderne, kosmische Göttin und ein transvestitischer Gaukler. Japanisch ist bei Morimura vor allem die spezifische Art der Anverwandlung an die westliche Kultur: exzessiv, masochistisch, ironisch.

Nicht so einfach ins Lust-Leere-Paradigma einsortieren lässt sich hingegen Naoya Hatakeyama. Überhaupt nicht japanisch erscheinen viele Motive des Künstlers, der bei der vergangenen Biennale in Venedig gemeinsam mit zwei weiteren Künstlern sein Heimatland vertreten hat: Kalkwerke und Abbruchhalden gibt es überall auf der Welt, Abwasserkanäle ebenfalls. Wie die meisten der heute populären japanischen Fotografen hat Hatakeyama in den achtziger Jahren zu fotografieren begonnen, vor dem Hintergrund der so genannten "zweiten industriellen Revolution" des Landes. Der verschärfte Zusammenprall von Natur und moderner Zivilisation ist sein durchgängiges Thema.

Bei wechselndem Licht

Seine Aufnahmen von Kalkbergwerken ("Lime Works and Hills") und Bergwerksexplosionen, seine Studien regulierter Tokioter Flussläufe ("River Series") und Abwasserschächte, seine Aufnahmen der Metropole aus der Vogelperspektive bei wechselndem Licht und Wetter und neue Arbeiten, die der Fotograf erstmals außerhalb Japans aufgenommen hat, hat der Kunstverein Hannover kürzlich zur ersten deutschen Überblicksausstellung Hatakeyamas zusammen gestellt. Vom 25.7. bis 15.9. wird die Schau in der Kunsthalle in Nürnberg, und danach noch in Amsterdam zu sehen sein. Sie gibt mit rund 170 Bildern aus 16 Berufsjahren Einblick in eine Fotografie, die eigentlich eine Philosophie ist. "Wie kann man im Finsteren ein Foto machen?" - solche paradoxen Fragen bewegen den Künstler auf einsamen Wanderungen im Tokioter Untergrund. Furore auf internationalen Ausstellungen machten einige Arbeiten, die stark digital bearbeitet aussehen, aber "reale" Ansichten zeigen.

Zum Beispiel ein Tokioter Baseballstadion, in dem sich eine gemütliche Fertighaussiedlung eingenistet hat, oder die Aufnahmen der "River Series", die wie Collagen aussehen.

Geboren ist Hatakeyama 1958 in der Präfektur Iwate. Die Umgebung seiner Kindheit war ländlich. Die Schule lag in der Nähe eines Kalkbergwerks, das den Schüler anzog und ein Haupthema Hatakeyamas späterer fotografischer Recherche werden sollte. Nach dem Kunststudium in Ibaraki nahm es Hatakeyama mit der Megametropole Tokio auf. 30 Millionen Menschen leben im 50-km-Radius rund um den Kaiserpalast. Die Konfrontation mit dem Ballungszentrum führte bei ihm zunächst zu einem fotografischen Knock-out. In einsamen, stockfinsteren Abwasserkanälen Tokios und auf schwindelerregenden Hochhäusern aber fand er, was er suchte: Distanz.

In seinen Aufnahmen der Tokioter Skyline arbeitet Hatakeyama die organoid-wuchernde, endlose Struktur der Metropole heraus. Veränderungen über einen Zeitraum von fast zehn Jahren kann der Betrachter in einer vielteiligen Serie überblicken. Allerdings ist es eine unübersichtliche Übersichtlichkeit, die Hatakeyama vorführt. Eine planerische Ratio oder ein Fortschritt sind nicht erkennbar, aber geänderte Firmenschilder: "Panasonic" statt "Seiko".

Als Gegenstück zu den Metropolen betrachtet der Künstler die vom Kalkabbau geprägten Landschaften Japans. Kalk ist der einzige Rohstoff, den das Land nicht importieren muss. Die an Mondlandschaften erinnernden Steinbrüche und die Städte vergleicht Hatakeyama mit dem "Negativ" und "Positiv" ein und derselben Fotografie, weil aus dem Abbruchmaterial die Städte aufgebaut werden.

Organischer als die Landschaften wirken bei ihm paradoxerweise die Kalkwerke und Städte. In der "Blast"-Serie schließlich hält Hatakeyama die Momente fest, in denen der jahrmillionenalte Muschelkalk aus den Bergen gesprengt wird, gleichsam befreit für neue Transformation in den "Factories". "Im Beton kann ich noch die Spuren von Korallen und Foraminiferen fühlen, die vor zweihundert bis vierhundert Millionen Jahren im warmen äquatorialen Ozean lebten", schreibt der Fotograf in einem seiner poetisch-reflektierenden Texte, die er seinen fotografischen Serien beigesellt.

Natur und deren zivilisatorische Überformung erleben auch Japaner konfliktreich. Sie schimpfen wie wir über Fabriken und Abbruchhalden. Hatakeyama erzählt gern die Anekdote von einem Mitglied des Kaiserhauses, das beim Anblick einer Kalkgrube "armer Berg" geseufzt haben soll, woraufhin die Fabrikanten die topografische Narbe grün überpinselten. Die Naturliebe seiner Landsleute sei nicht selten zu "oberflächlichem Ästhetizismus" verkommen. Blumen, Wind und Mond seien zwar beliebte Motive, man habe aber vergessen, was das eigentlich sei:

Blume, Wind, Mond. Er möchte Natur anders fassen. Für ihn sind auch die Spuren des Menschen natürlich.

Sein bewusst nicht wertender Blick auf durch Menschenhand gestaltete Landschaft rückt Hatakeyama in die Nähe eines anderen bedeutenden japanischen Fotografen: Toshio Shibata, bekannt für seine Aufnahmen von Uferschutzbauten, regulierten Wasserfällen und Dämmen zur Erosionskontrolle, die sich in die üppige Natur fressen. Shibatas und Hatakeyamas Bilder erinnern oberflächlich an Arbeiten der "New Topographics", jener Fotografengruppe, die in den siebziger Jahren im ländlichen Amerika Umweltsünden aufspürte. Die Philosophie dahinter ist aber eine fundamental andere, erklärt der japanische Kunsttheoretiker Masafumi Fukagawa. In die Bilder sei keine Verweigerungshaltung oder postmoderne Kritik eingeschrieben. Sie seien aber auch keine Metaphern einer neuartigen harmonischen Beziehung zwischen Natur und künstlichem Eingriff. Den neuen japanischen Landschaftsfotografen gehe es darum, "das Drama des Gegensatzes sorgfältig, versöhnlich, in individueller Gestalt und fern von Standpunkten" zu erfassen.

Ihr Distanzblick auf Zivilisation ist nach Fukagawas Worten zutiefst verwurzelt in der Geschichte des Gestaltungsprozesses des modernen Japan. Die Idee von "Modernisierung" hätte in Japan auch rund 150 Jahre nach ihrem Import noch keine klare Form angenommen. Unverdaut ist auch die perspektivische Weltbetrachtung mit dem modernen Subjekt in ihrem Zentrum. Auch sie hat erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Insel erreicht und einen "unermesslichen Schock" (Fukagawa) ausgelöst.

Hatakeyama möchte in seinen Bildern nicht zuletzt dem "Terror der Perspektive" entkommen. In den Aufnahmen der "River Series" durchschneidet jeweils eine horizontale Linie die Bildmitte. Ein Effekt, der ganz simpel durch exakte Justierung der Kamera auf Höhe der Uferlinien entsteht. Dadurch verschmelzen diese beiden Linien horizontal und binden die scharfe Perspektive zurück in die Fläche. In seinen jüngsten Arbeiten, die der Fotograf von einem Artist-in-Residence-Aufenthalt in England mitgebracht hat, lässt er die Perspektiven dämmriger Straßen in tausend Regentropfen bersten.

Die Fotografie von der Perspektive erlösen zu wollen, ist ein eigenartiges Unterfangen. Wie kein anderes Medium basiert Fotografie auf Perspektive. Die Fotografie ist geradezu die sachliche Bestätigung der perspektivischen Weltsicht. Die Ambivalenz im Umgang mit der Moderne lässt sich daran abmessen, dass das in der Kameratechnologie führende Land gleichzeitig mit dieser (ursprünglich westlichen) Technologie die größten Schwierigkeiten hat.

Andererseits kommt die Fotografie der asiatischen Tradition wiederum nahe: Als "eingefrorener Augenblick" korrespondiert das Foto mit der fernöstlich-philosophischen Betonung des Hier und Jetzt. Die Befreiung der Horizontale und das Verschwinden in dieser Linie ist ein romantisches Ansinnen Hatakeyamas. Sein Blick aber ist durchwegs sachlich. Er schaut auf die moderne Welt wie ein Archäologe oder Astronaut, der menschenleere Reste einer längst vergangenen Zivilisation vor sich hat. Was er sieht, ist erstaunlich, aber ohne Sinn. Die Abwesenheit von Sinn aber lässt ihn nicht verzweifeln. Sie macht ihn frei.

Freitag, 28. Juni 2002

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