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Zwischen Sushi und Shinkansen -Als Tourist in Japan

Vierter Stock, Kapsel 459

Von Helmut Kretzl

Es erschien mir immer wie ein Gemeinplatz, dass Japan dem Europäer fremd ist, nämlich wirklich fremd. Doch dieser Gemeinplatz hat seine volle Berechtigung. Die Tatsache, dass die Japaner sich nach dem Zweiten Weltkrieg US-Einflüssen gegenüber offen zeigten, kann den Eindruck erwecken, es handle sich um eine Zivilisation westlichen Zuschnitts. Doch das stimmt nur an der Oberfläche. Unter der weltoffenen Fassade verbergen sich Jahrhunderte alte Traditionen, deren Verständnis sich dem Fremden auch nach jahrelangem Aufenthalt im Land noch verschließt.

Japaner ordnen dem Wohl der Gemeinschaft alles unter - der Familie, der Firma, mit der man sich in hierzulande unüblicher Weise identifiziert, oder dem Staat. Besonders deutlich wird die unterschiedliche Einstellung zu Gemeinwesen und Individuum bei einer Übernachtung in einem so genannten Kapselhotel.

Kaum jemand kann Englisch

Es war spät am Abend, ich hatte zur Abwechslung Sushi gegessen, die einzige vertraute Ernährung, abgesehen von den auch in Japan allgegen- und widerwärtigen McFastFood-Lokalen. Ich befand mich am riesigen Hauptbahnhof von Tokio und suchte verzweifelt nach einer Unterkunft für die Nacht. Sie sollte nach Möglichkeit nicht weit entfernt vom Bahnhof liegen, da ich für den nächsten Tag bereits einen Sitzplatz im Shinkansen reserviert hatte, jenem japanischen Superschnellzug, der mit mehr als 300 km/h die großen Städte des Landes miteinander verbindet. Der Zug fuhr sehr zeitig, frühes Aufstehen war daher erforderlich, ein kurzer Anreiseweg wünschenswert.

Und hier ist ein kurzer Exkurs über die Schwierigkeit bzw. die Unmöglichkeit für einen Ausländer, sich in Japan zurechtzufinden, sofern er nicht Sprache und vor allem Schrift beherrscht, notwendig: Straßenschilder und Wegweiser sind meist nur in japanischen bzw. chinesischen Zeichen beschriftet, dem unbedarften Touristen bleiben sie ein Buch mit sieben Siegeln. Auch das Fragen von Passanten gestaltet sich überaus schwierig, da Japaner kaum oder gar nicht Englisch sprechen. Der Versuch, ihre Sprache aus einem Sprachführer abzulesen, scheitert häufig an einer einzigen falschen Betonung, die dem Wort einen völlig anderen Sinn gibt oder einen solchen gar nicht erst aufkommen lässt. Immerhin sind sich alle Beteiligten des Problems bewusst, die Kommunikation wird daher von vielen Gesten und Handbewegungen begleitet. Manchmal ertappte ich mich beim Versuch, Zustimmung mit japanisch klingenden Lauten auszudrücken - ein wohl unbewusster Versuch, Höflichkeit zu zeigen.

Ich hatte Glück, ein freundlicher Polizist verstand meinen Wunsch und zeigte mir den Weg zum nächsten günstigen "Kapselhotel". Diese typisch japanische Einrichtung verdankt ihren Namen der Tatsache, dass dem Gast kein Zimmer, sondern nur ein gerade ein Bett umfassender Alkoven zur Verfügung steht. Da ringsherum aus Platzgründen möglichst viele weitere solcher Einheiten angeordnet sind, entsteht der Eindruck von Waben oder eben "Kapseln".

Die Idee der Kapselhotels hatte mich fasziniert, seit ich das erste Mal davon gehört hatte. Als ich eine Japanerin dazu befragte, erntete ich nur ungläubiges Gelächter. Das könne doch nicht mein Ernst sein, das sei doch nur eine Notlösung für weit außerhalb der Stadt wohnende Pendler, die nach einer ausgiebigen Zechtour den letzten Abendzug versäumt haben. Eine reine Verlegenheitslösung, jedenfalls keine Option für westliche Ausländer, die Japan naturgemäß nur von der attraktivsten Seite kennenlernen sollten.

Zweiter Exkurs: Mit den so genannten "Love Hotels" hat Japan noch eine weitere Hotellerie-Innovation hervor gebracht. Sie erwecken die Illusion, sich in einem Märchenschloss, einem Luxusdampfer oder einem Raumschiff zu befinden. Alles darin ist auf die Lustbefriedigung der Gäste ausgerichtet, die sich hier ihre geheimsten Wünsche erfüllen sollen. Drehbare Massagebetten, Spiegel oder Videokameras sollen dazu beitragen, aber auch Videospiele oder Karaoke-Anlagen. Dennoch ist die Sache keineswegs anrüchig, sondern vor allem Ehepaare gönnen sich hier ungestörte Stunden gegenseitiger Zuwendung, für die sie in den hellhörigen eigenen Wänden keine Gelegenheit haben.

Zurück zum "kapuseru hoteru", wie die Japaner "capsule hotel" aussprechen, und das ich ohne Hilfe nie gefunden hätte. Die bläuliche japanische Neonschrift ließ für einen Europäer keinerlei Rückschlüsse auf die Funktion des Gebäudes zu. Der Eingang war verborgen hinter einer bunten Ansammlung hell erleuchteter Getränke- und Snack-Automaten. Sie waren bestückt mit allen erdenklichen Arten von Getränkedosen, -flaschen und -packungen, von Erfrischungsgetränken über Legionen von Sojamilch-Abarten bis zu einer unvorstellbaren Vielfalt von Grüntee-Mixgetränken mit Fruchtbeimischung.

Kein Bier nach 22 Uhr

Auch Bier-Automaten gibt es, aber leider sind sie meistens so intelligent, dass sie - einem nicht nachvollziehbarem Gesetz folgend - nach 22 Uhr keine Dosen mehr ausspucken mit Sorten wie Kirin, Sapporo oder Asahi - also gerade zu jener Zeit, wo man solch flüssigen Zuspruchs fern der Heimat am stärksten bedarf. Hopfendurstige finden dann nur noch Trost in länger geöffneten kleinen Selbstbedienungsläden.

Der Nachtportier des Kapselhotels sprach erstaunlich gut Englisch und gehörte damit zu einer Minderheit in Japan. Zwar erhält jeder Schüler Englischunterricht, aber das Resultat lässt sehr zu wünschen übrig. Für Schulabgänger ist Englisch eine kaum lebendigere Sprache als bei unseren Gymnasiasten Latein oder Altgriechisch.

Mein Quartier befand sich im vierten Stock, Kapsel 459. Die an einen Sarg erinnernden Schlaf-"Waben" waren wie Stockbetten jeweils in Zweiergruppen übereinander angeordnet. Der Schlüssel sperrte nicht etwa das Schlafbehältnis, sondern lediglich den schmalen Spind daneben, in dem gerade der Rucksack Platz hatte. Für mehr Gepäck ist hier kein Platz, sind "kapuseru hoteru" doch nicht für Reisende gedacht, sondern für übrig gebliebene Pendler oder zunehmend auch für Geschäftsreisende, deren Firmen sparen.

Patschen statt Schuhe

Im Spind ist auch die Kleidung unterzubringen, insbesondere die Straßenschuhe, die gegen bereitstehende Hauspatschen umgetauscht werden. Diese sind dem ausgewachsenen Mitteleuropäer meist zu eng und klein. Statt Hemd und Hose trägt man im traditionellen japanischen Hotel ein leichtes, sehr bequemes blau-weiß gemustertes Nachthemd. Bis zuletzt blieb mir freilich unklar, ob und wie weit darunter noch etwas getragen wird.

Duschen und Waschräume befanden sich im Keller, im Erdgeschoss gab es ein Gemeinschaftsbadebecken mit Sauna. Aus nahe liegenden Gründen kann sich nicht jeder Kapselbewohner auf einer eigenen Toilette ausbreiten, sondern allen Bewohnern einer Etage steht dafür ein gemeinsamer Raum zur Verfügung. Auch die WCs darin - jedes separat abschließbar, das schon - waren japanischer Art: In den Boden eingelassen ein etwa 100 x 20 cm messendes Bassin, über dem sich der Gast hockend niederlassen und sich dank seines luftigen Hemdchens bequem dem Stoffwechsel widmen kann, ohne irgendetwas zu berühren. Und beim Betätigen der Spülung lässt eine ausgeklügelte Leitungsführung das Wasser zuerst durch ein Waschbecken rinnen. Frauen haben zu diesen Hotels übrigens mit wenigen Ausnahmen keinen Zutritt.

Keinesfalls vergessen darf der Gast, vor dem Toilettenbesuch seine Hauspantoffeln in die eigens im Lokus bereitstehenden Toilettenschlapfen umzutauschen - und nach vollbrachter Tat dasselbe wieder zurück. Ahnungslose Japan-Reisende lösen auch bei höflichen Gastgebern regelrechte Lachgewitter aus, wenn sie in den falschen Hausschuhen am richtigen Ort erscheinen.

Dass mir diese Peinlichkeit erspart blieb, lag nur an der gerade schwachen Auslastung des Hotels. So hatte ich die Toiletten ebenso wie die Waschräume im Keller für mich alleine. Eine lange Spiegelwand mit zahllosen Rasiermöglichkeiten machte ebenso wie ungenutzte Automatenspiele einen verwaisten, ja sogar leicht gespenstischen Eindruck. Bei Vollbetrieb herrscht hier wohl Kasernenstimmung. In meinem gesamten Stockwerk gab es nur vier andere Mitbewohner, die ich nie sah, sondern die sich lediglich durch abgestellte Schuhe und später durch Schlafgeräusche bemerkbar machten.

Da der Einstieg in die "Kapsel" nur durch einen Vorhang verschließbar ist, gibt es keine wirkliche Diskretion, jeder hört zumindest mit, was der andere gerade unternimmt. So gesehen ist auch der am Fußende der Schlafnische angebrachte Fernseher alles andere als ein Schlafmittel. Weil weder ich noch meine Mitbewohner Lust oder Münzen für den Automatenfernseher hatten, versank ich bald in einen herrlichen Schlaf. Kein Gefühl von Beengung in der Zelle, sogar Umdrehen war problemlos möglich. Mein bestellter Weckruf am nächsten Morgen muss freilich auch die übrigen Schläfer geweckt haben.

Gemüsig, fleischig, fischig

Japanisches Frühstück ist nicht jedermanns Sache, weil es viele - dem europäischen Gaumen für die Tageszeit ungewohnte - Geschmacksrichtungen aufweist. Süß ist dabei gar nichts, höchstens das Lächeln der Kimonoträgerinnen, die in besseren Häusern schwarze und rote Tiegelchen vor dem Gast aufbauen. Er kann daraus Gemüse- und Fischstücke rätselhafter Zubereitungsart fischen - stilgerecht mit Stäbchen, versteht sich. Sauer, salzig, gemüsig, fleischig und fischig schmecken die Häppchen.

Wirklich vertraut war mir nur der klebrige Reis als Beilage. Er ist noch mit einem Algenplättchen zu umwickeln, was der frühen Tageszeit gewisse motorische Fähigkeiten abverlangt. Als Muntermachergetränk wird grüner Tee serviert. Kaffee, Milch und Zucker würden den Gast zu dieser Kombination wohl schnell auf eines der beschriebenen WCs treiben.

Wieder am Bahnhof: Wie in England warten geduldige Schlangen am Bahnsteig auf den Zug. Viele haben noch rasch eine bento-box gekauft, jene Urform des Fastfood, die auf kleinstem Raum verschiedene Köstlichkeiten beinhaltet. Jede Region hat ihre eigenen Zug-Bento-Spezialitäten, die sogar in den Kursbüchern der Bahn vermerkt sind. Der superschnelle Shinkansen fährt zunächst sanft an, aber bald schon drückt die Beschleunigung die Fahrgäste stärker in die Sitze. Immer schneller sausen Häuser, Autobahnen, Neonreklamen am Fenster vorbei, bis sich auch der mittlerweile schwindlig gewordene Tourist seiner Bentobox zuwendet . . .

Freitag, 28. Juni 2002

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