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Fallbeispiel Wienerberg

Im sozialen Wiener Wohnbau vollzieht sich ein Paradigmenwechsel
Von Reinhard Seiß

Vor 80 Jahren baute die Stadt Wien Wohnungen für einen neuen Menschen - den selbstbewussten, gesunden und sich bildenden Arbeiter. So beschreibt Architekt Harry Glück den Wandel der wohnbaupolitischen Zielsetzungen, und fährt fort: "Heute schafft man Wohnraum für den konsumierenden Arbeiter, der am Wochenende mit dem Auto zu seinem Zweitwohnsitz im Grünen fährt." Glück, der - vor allem in den 70er und 80er Jahren - mehr Wohnungen als alle anderen österreichischen Architekten realisierte, vermisst schon seit längerem jene gesellschaftspolitischen Visionen, die zwischen 1923 und 1934 das wohl erstaunlichste und erfolgreichste soziale Wohnbauprogramm der westlichen Welt begründeten.

Nirgends in der Bundeshauptstadt treffen Vergangenheit und Gegenwart des Wiener Wohnbaus unmittelbarer aufeinander als an der südlichen Stadtkante, dem Wienerberg: Auf der einen Seite der Wienerbergstraße werden derzeit die letzten Hochhäuser der Wienerberg City fertig gestellt, in deren Schatten, gleich vis-à-vis, der George-Washington-Hof liegt - neben dem Karl-Marx-Hof, dem Reumannhof und dem Rabenhof eine Ikone des Roten Wien.

Von 1927 bis 1930 entstand hier einer der größten jener so genannten Superblocks, die mit tausenden Wohnungen und einer beispielhaften sozialen Ausstattung kleine Städte in der Stadt bildeten: Badehäuser, Waschküchen, Kindergärten, Schulen, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen, Büchereien, Kultur- und Sportstätten sowie Geschäfte des täglichen Bedarfs machten die "Arbeiterpaläste" quasi autark gegenüber der bürgerlichen Stadt. Charakteristisch waren die großzügigen Grünflächen im Inneren der Anlagen, die - als Antwort auf die engen und ungesunden Massenquartiere des 19. Jahrhunderts - selbst in den untersten Geschoßen die Besonnung und Durchlüftung der Wohnungen ermöglichten. Wurden in gründerzeitlichen Baublöcken bis zu 85 Prozent einer Parzelle bebaut, lag dieser Wert im George Washington-Hof nur bei 24 Prozent.

Wohnbaumisere ab 1960

Austrofaschismus und Nationalsozialismus beendeten nicht nur das sozialdemokratische Wohnbauprogramm - sie vertrieben auch viele jener engagierten Architekten und Politiker, die den sozialen Wohnbau bis dahin bestimmt hatten. Dieser geistig-kulturelle Aderlass fand in zahlreichen kommunalen Wohnanlagen der 50er, 60er und 70er Jahre unmittelbar Niederschlag. Zudem litt die Qualität des Wiener Wohnbaus ab 1960 - wie in den meisten europäischen Großstädten - unter dem unreflektierten Einsatz des standardisierten, industriellen Bauens. Viele Großsiedlungen am Stadtrand belegen bis heute die damalige Maxime "Masse statt Klasse", wobei nicht nur an architektonischer und bautechnischer Qualität gespart wurde: Auch die Freiraumgestaltung, die infrastrukturelle Ausstattung, die Verkehrs-Anbindung bzw. Abgelegenheit mancher Standorte lassen viele Anlagen eher als un-sozialen denn als sozialen Wohnbau erscheinen.

Andererseits gewährte die Kommunalpolitik in den relativ liberalen 70er Jahren so manchem Wohnbau-Experiment den nötigen Spielraum, etwa Harry Glücks Wohnpark Alt Erlaa aus den Jahren 1973 bis 1985 - Wiens wohl einziger Großwohnbau nach dem Zweiten Weltkrieg, dessen Freiraum- und Ausstattungsqualität an die Modelle der 20er und 30er Jahre anknüpft. Die drei terrassierten Hochhauszeilen mit bis zu 70 Metern Höhe bieten ihren 10.000 Bewohnern sonnige Grünterrassen bis in den 14. Stock, darüber Loggien mit uneingeschränktem Fernblick - und am Dach acht großzügige Schwimmbäder. Die sozialen Probleme, die andere Wohnsatelliten der 60er und 70er Jahre kennzeichnen, sind in Alt Erlaa unbekannt.

Eine andere Innovation der Wiener Wohnbaupolitik der 70er und 80er Jahre ist das bis heute laufende Programm der sanften Stadterneuerung. Dank großzügiger Subventionen konnte der immense Althausbestand Wiens sozial verträglich modernisiert werden, anstatt ihn - wie in anderen westlichen Großstädten lange Zeit üblich - weiträumig abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen. Als wesentlichster Erfolg gilt, dass es dabei gelang, die angestammten Mieter in den aufgewerteten Wohnungen zu halten und vor Verdrängung durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten zu schützen.

Im Zuge der sanften Stadterneuerung hielt auch die Forderung nach Bürgerbeteiligung Einzug in die Wohnbau- und Wohnumfeldplanung Wiens. In Sanierungsgebieten sind dafür seit 30 Jahren eigene, von der Stadt Wien beauftragte Beratungs- und Betreuungsstellen zuständig, die gemeinsam mit Bewohnern, Hauseigentümern und Gewerbetreibenden versuchen, ihre Viertel baulich und gestalterisch, aber auch sozial, kulturell und wirtschaftlich weiterzuentwickeln. Ziel ist es, aus den "Betroffenen" der Planung "Akteure" der Stadtentwicklung zu machen.

Gegenläufig mutet jedoch die Tendenz bei Neubauprojekten an, bei denen heute offenbar immer leichtfertiger an den Bedürfnissen der Bewohner vorbeigeplant wird. Die Stadt Wien verknüpft mit der Gewährung öffentlicher Wohnbausubventionen zwar die Realisierung hoher bautechnischer Standards. Viele andere Voraussetzungen für Wohnzufriedenheit - wie Gemeinschafts- und Kommunikationseinrichtungen, ausreichende und funktional gestaltete Grün- und Freiflächen, Nahversorgung oder ein attraktiver Anschluss an den öffentlichen Verkehr - werden von den großen Bauträgern aber mit Billigung der Politik zunehmend ignoriert.

Symptomatisch für diese Gesinnung sind die Mitte der 90er Jahre in Mode gekommenen Hochhausviertel, von denen nun auch eines am Wienerberg entstanden ist. Dabei war dieser Standort in keinem Stadtentwicklungskonzept je für derartige Bauvolumina - 1.100 Wohnungen und 5.500 Arbeitsplätze - vorgesehen, nicht zuletzt, da dem ehemaligen Ziegeleigelände jeglicher Anschluss an das öffentliche Verkehrsnetz fehlte. Das Gewinnstreben des politisch einflussreichen Grundstückseigentümers - mittlerweile der Welt größter Ziegelhersteller - dürfte die stadtplanerischen Bedenken allerdings überspielt haben, und so wuchsen neben drei Bürotürmen auch vier Wohnhochhäuser aus dem bis vor kurzem noch wertlosen Boden.

Wohlmeinend ließe sich sagen, dass die bis zu 100 Meter hohen Wohnbauten in ihrer dichten Staffelung die urbanistische Antithese zum benachbarten George-Washington-Hof darstellen. Im Klartext bedeuten sie einen Rückfall hinter 80 Jahre sozialen Wohnbaus - versehen mit einer gehörigen Portion Verantwortungslosigkeit aller beteiligten Architekten, Bauträger, Beamten und Politiker.

Trotz direkter Nähe zum Erholungsgebiet Wienerberg beschränkt sich die Aussicht der Hochhausbewohner in den unteren zehn, zwölf Geschoßen auf die Fassaden der sie eng umschließenden Nachbargebäude. Folglich sind hier die subventionierten Mietwohnungen für sozial schwache Familien untergebracht. In den darüber anschließenden Stockwerken, wo der Verkehrslärm von der sechsspurigen Triester Straße her immer noch deutlich wahrnehmbar ist und sich die Türme vielfach noch gegenseitig beschatten, folgen geförderte Eigentumswohnungen für die Wiener Mittelschicht. Darüber, auf den wenigen sonnigen Etagen, befinden sich frei finanzierte Wohnungen sowie ganz oben luxuriöse Penthäuser mit Dachterrassen.

Keine Spielplätze für Kinder

So wird öffentlich geförderter Wohnraum minderer Qualität übereinander gestapelt, um als Fundament für den Fernblick einiger exklusiver Apartments zu dienen. Dazu kommt, dass die Freiräume zwischen den Türmen bloße Restflächen sind, wo sich Kinder mangels Spielplätzen zwischen den Ein- und Ausfahrten der Tiefgaragen aufhalten müssen - sofern die von den Hochhäusern erzeugten Fallwinde einen Aufenthalt im Freien überhaupt zulassen. Innerhalb der Hochhäuser herrscht ein ebensolcher Mangel an Spielgelegenheiten oder Gemeinschaftsräumen - daran ändert auch ein Pool als halbherziges Harry-Glück-Zitat auf einem der vier Türme nicht viel. Soziales Leben ist im sozialen Wohnbau à la Wienerberg offenbar nicht mehr vorgesehen.

Dabei ist die Wienerberg-City kein Einzelfall. Nur zwei Kilometer östlich davon errichtet Österreichs zweitgrößter Baukonzern derzeit auf seinem ehemaligen Werksgelände, für das sich keine betriebliche Verwendung mehr fand, einen komplett neuen Stadtteil mit 4.000 Büroarbeitsplätzen und 1.000 Wohnungen. Zwar ist dieser Standort am Laaer Berg mindestens so abgelegen wie jener am Wienerberg, mit Wiens ehemaligem Vizebürgermeister als Aufsichtsratsvorsitzendem gelang es dem rathausnahen Unternehmen aber dennoch, für sein Immobilienprojekt die nötige Flächenwidmung zu erwirken und das Grundstück dadurch zu "versilbern".

Auch für die Errichtung der geplanten Wohnungen erteilte die Stadt Wien die gewünschte Förderzusage - ungeachtet des Fehlens sozialer Infrastruktur und öffentlicher Verkehranschlüsse, und ungeachtet des Umstandes, dass das Areal von der Stadtautobahn A23 durchschnitten wird. Der Investor hat die meistbefahrene Straße Österreichs auf einer Länge von 220 Metern einfach überplattet, um darüber allen Lärm- und Abgasemissionen zum Trotz "Wohnungen im Grünen für Familien mit Kindern" zu schaffen, wie es aus dem Büro des Wohnbaustadtrats heißt. Dort wird man auch nicht müde zu betonen, dass Wiens sozialer Wohnbau immer besser werde - selbst wenn die jüngste soziologische Studie der Wiener Stadtplanung zeigt, dass mit Alt-Erlaa eine Wohnanlage aus den 70ern nach wie vor die höchsten Wohnzufriedenheitswerte erzielt; unerreicht von sämtlichen Prestigeprojekten des letzten Jahrzehnts. Wie sähe unser heutiges Leben wohl aus, hätten wir lauter Produkte, die qualitativ unter den Standards der 70er Jahre lägen?

Reinhard Seiß lebt als Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien.

Freitag, 04. Februar 2005

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