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Wie Wien immer schöner wurde

Die Bedeutung der Vergangenheit für das neue Wien-Image
Von Wolfgang Kos

Ewiges Wien (1946), "Vienna gloriosa" (1947), "Damals in Wien" (1957), "Verklungenes Wien" (1964): Schon die Buchtitel der von den 30er bis in die 60er Jahre erfolgreichen Sachbuchautorin Ann Tizia Leitich beschwören jenes Bild von Alt-Wien, mit dem sich gerade in "katastrophalen" Zeiten gemütvoll und wertkonservativ eine Gegen-Stadt träumen ließ - zuerst gegen die Reformparolen des Roten Wien, dann gegen den Trümmerschock von 1945 und schließlich gegen die Wiederaufbau-Moderne. Mit dem 1939 erschienenen und 1959 neu aufgelegten Erfolgsbuch "Die Wienerin" und dem Zeitpanorama "Wiener Biedermeier" (1941) hatte Leitich genau jene Themen besetzt, die auch in der Tourismuswerbung und dem Unterhaltungsfilm über die NS-Jahre hinweg in Funktion geblieben waren.

Wien war in dieser Sicht eine offenbar durch nichts zu beschädigende Stadt der Harmonie, umrahmt von prachtvollen Barockkulissen und biedermeierlicher Liebenswürdigkeit, umspielt von Nonchalance und heiterer Walzerseligkeit und bewohnt von milden Obrigkeiten, schrulligen Beamten, edlen Damen à la Paula Wessely, feschen Offizieren, süßen Mädeln, singenden Trinkern und skurrilen Querschädeln wie Paul Hörbiger und Hans Moser. Die christlichen, höfisch-aristokratischen und kleinbürgerlichen Traditionsfäden waren überrepräsentiert, andere, etwa

die aufklärerischen, proletarischen, jüdisch-großbürgerlichen oder modernistischen, blieben ausgespart. Prinz Eugen, Kaiserin Maria Theresia und Kanzler Metternich waren - im Gegensatz etwa zum asketisch-reformerischen Joseph II. - Fixsterne auf dem Wiener Firmament.

Diese konservative und nostalgisch verzerrte Wiener Selbstbild-Melange war in den kurzen Jahren der Ständestaats-Diktatur perfektioniert worden, als österreichischer Mythos einer unzerstörbar gloriosen "Großmacht der Kultur" (Bundeskanzler Schuschnigg, 1935). Dies diente einerseits der Schaffung eines neuen Österreich-Bewusstseins, das vor allem nach 1945 konsensfähig werden sollte, und andererseits der Positionierung im internationalen Tourismus. In der Fremdenverkehrswerbung der 30er Jahre war Wien als elegante Stadt mit zeitlosem Flair dargestellt worden. Bis heute hat sich dieses retrospektiv grundierte Wien-Bild bewährt: Prachtbauten mit historischer Gloriole, kleinteilige Gemütlichkeit à la Heurigen-Gasserl, Symbole langsamen Lebensgenusses wie Kaffeehaus und Fiaker, "ewig nachklingende" Musik aus goldenen und silbernen Epochen und das Versprechen einer kurzfristigen Abschirmung vor den Unannehmlichkeiten der hektischen, modernen Welt.

In vielen Medien, etwa in launigen Wien-Büchern von Autoren wie Hans Weigel oder in repräsentativen Bildbänden, wurde Wiens Patina immer wieder vorgeführt. Dabei rückten Themen wie das Kaffeehaus - mit dem "Hawelka" als neuem Wien-Mythos - oder die undurchschaubaren Eigenarten der Wiener Bevölkerung verstärkt ins Zentrum. Für viele Wien-Bücher steuerten namhafte Schriftsteller, von Doderer bis Qualtinger, Texte bei, die mitunter Virtuosenstücke der ironischen Wien-Bespiegelung waren.

Wien war also bestens vorbereitet, als ab den 1970er Jahren der Städtetourismus an Bedeutung gewann. Das Image einer schönen Stadt mit Charakter, präsentabler Vergangenheit und den Leitmotiven Kultur und Genuss wurde zur Grundlage für beachtliche Zuwachsraten. 1972 zählte man 4 Millionen Gästenächtigungen, 1990 waren es bereits 7,5 Millionen. Typische Instrumente der internationalen Wien-Werbung waren Kaffeehäuser auf internationalen Fachmessen - mit Mehlspeisen als süßem Gruß aus Wien. Den Tourismus-Verantwortlichen war durchaus bewusst, dass das so gut funktionierende, auf Tradition basierende Wien-Bild Risken in sich barg. "Wien hat ein zu museales Image" und sei "zu statisch, zu wenig dynamisch", sagte 1972 etwa der neu bestellte Landesfremdenverkehrsdirektor Helmut Krebs.

Die neue "Wiener Szene"

Doch die Relativierung des primär auf ein älteres Publikum abzielenden Backhendl-Images war offenbar ein mühsamer Prozess. 1979 war es noch zu heftigen Widersprüchen der Branche gekommen, als Kulturstadtrat Helmut Zilk unter dem Eindruck subkultureller Forderungen nach "Rasenfreiheit" im Burggarten und nach Straßenmusik in den Fußgängerzonen, den Wiener Tourismusvertretern bei ihrem jährlichen Jour fixe vorwarf, sich zu wenig um jugendliche Reisende zu kümmern: "Sollten wir das Gitarrespiel polizeilich verhindern, dann brauchen wir gar nicht auf junge Touristen warten."

Aber erst ab 1988 wurde komplementär zum weiterhin dominierenden Nostalgie-Marketing mit der neuen Marke "Wiener Szene" geworben. Diese umfasste Musicals ebenso wie die Beisl-Szene im "Bermuda-Dreieck". Die Neupositionierung Wiens als vitale Stadt mit gesteigerter Atemfrequenz entsprach vor allem dem Lebensgefühl jüngerer und erlebnishungriger City-Hopper. Ab den 80er Jahren hatte sich vor allem das abendliche Wien fühlbar verändert. Immer mehr Lokale und Musikklubs hatten bis Mitternacht und länger offen, die öffentliche Kulturmaschine lief auf Hochdruck.

"Die Donau-Metropole wird trendy", titelte 1985 das Hamburger Stadtblatt "Szene". Die Frauenillustrierte "Petra" schwärmte im selben Jahr von der "Traumstadt Wien", der Spiegel widmete dem "Wien-Wunder" einen mehrseitigen Artikel. Tatsächlich sprang der Wiener Städtetourismus im Lauf der 80er Jahre von Rekordwert zu Rekordwert, die Zuwachsrate betrug allein von 1983 auf 1984 gut 10 Prozent. Innerhalb von zehn Jahren hatte sich die Bettenkapazität verdoppelt, internationale Hotelketten drängten nach Wien.

Meister der Imagepolitur

"Die Wiener Tourismustrommler", so Inge Cyrus, langjährige Wiener Korrespondentin des "Spiegel" im Sommer 1985, "sind hemmungslose Meister der Imagepolitur. Sie haben dem US-Präsidenten vor laufenden Fernsehkameras einen Lippizaner geschenkt, in Tokio eine Kopie des Johann-Strauß-Denkmals aufgestellt und die Mozartkugeln tonnenweise rollen lassen." Nicht so sehr die Wiederentdeckung von Jugendstil und Karl-Marx-Hof hätte zum Wien-Boom geführt als vielmehr das Beharren auf den "schönbrunnergelben Habsburger-Schmäh". Auch der "Spiegel"-Artikel war, in auffälligem Kontrast zum behaupteten "neuen Wien-Gefühl", strikt traditionell bebildert: Fiaker, Hofburg, Schönbrunn, Lippizaner, Heuriger, Konditorei Demel. Als einziges neues Image geriet die UNO-City in den altbekannten Bilderreigen. Das passte zur Kernaussage des Artikels: Wien bediene auf ideale Weise die Sehnsüchte von Menschen, die der Hässlichkeit der technischen Zivilisation überdrüssig seien und sich nach "Ruhe, Ordnung und Sauberkeit" sehnen würden. Einmal mehr wurde Wien also gegen Stress und Unsicherheit in Stellung gebracht, und wieder einmal sprach ein Wien-Porträt vom "Urtalent der Wiener, die eigenen Untergänge irgendwie zu überleben".

Nachdem im "Spiegel"-Bericht das Leitmotiv einer "kleinstädtischen Gemütlichkeit" in der "kleinsten Großstadt" Europas mehrfach variiert wird, holt die Autorin gegen Ende des Panoramas doch noch das As "explodierende Szene" aus dem Talon: Sogar in Wien gebe es endlich den "Luftzug einer wirklichen Metropole" mit "aufgekratzten Schickies an gestylten Theken". Der Bericht des deutschen Nachrichtenmagazins lag also hundertprozentig auf der Alt/Neu-Werbelinie der Wiener Touristiker.

"Wien ist in den vergangenen Jahren um vieles schöner geworden". Das schrieb Bürgermeister Helmut Zilk 1986 in einer Bilanz der Wiener Altstadterhaltung. Nicht nur die Gäste Wiens, sondern auch die Wiener selbst würden sich darüber freuen, dass viele Gebäude "in alter Schönheit" wiederhergestellt seien, vom Palais Ferstel bis zum Dorfkern von Dornbach: "Das uniforme Grau vieler Altbauten ist freundlichen Farben gewichen."

Aufhellen und Verschönern

Verglichen mit dem tristen Stadtbild der Nachkriegsjahre, war es tatsächlich zu einer merklichen Aufhellung der Stadt gekommen. Darin spiegelte sich der steigenden Wohlstand ebenso wie der Wunsch der Wiener, den Besuchern eine möglichst attraktive, also traditionsreiche Stadt anbieten zu können - nicht zuletzt aus ökonomischen Motiven.

Das Herausputzen der historischen Bausubstanz war vor allem der Altstadterhaltungsnovelle 1972 zu verdanken, die die "Pubertätsjahre der Stadtbildpflege" (Roland L. Schachel) abgelöst hatte. Mindestens ebenso wichtig für einen Paradigmenwechsel im Umgang mit der Idee Stadt war ein internationaler Megatrend: die Nostalgiewelle. Nicht nur das Florieren von Trödelmärkten war ihr zuzuschreiben, sondern generell eine Verlangsamung, Redimensionierung und Emotionalisierung des städtischen Lebens - mit kleinräumlichen Idealbildern à la Fußgängerzone und Retro-Utopien à la Beisl-Kampagne und Grätzl-Revitalisierung.

Pionier der Rettungs-Bewegung für das aussterbende Wirtshaus war der Publizist Jörg Mauthe, der in den 70er Jahren als Kolumnist im "Kurier" ("Watschenmann") regelmäßig prototypische Wiener Beisel vom alten Schlag vorstellte. Die ÖVP mit ihrem unkonventionellen Stadtparteiobmann Erhard Busek ("Bunte Vögel"), die Wiener Wirtschaft und eine Bank griffen die Initiative auf, schließlich gab es sogar ein "Beislförderungsgesetz" mit finanziellen Zuschüssen der Stadt (und analog dazu Suventionen für gefährdete Kaffeehäuser). 160 Wirtshäuser beteiligten sich an der Aktion, vier Jahre später wurde bereits die "Wiedergeburt einer Institution" vermeldet. Den Erfolg konnte man daran erkennen, das traditionelle Speisen wieder verstärkt auf den Speisekarten auftauchten oder zumindest mit dem prestigeträchtigen Zusatz "Alt-Wien" versehen wurden.

Auch Politiker der Mehrheitspartei SPÖ erkannten die neue Zeitstimmung und setzten auf den Stimmungsfaktor "Seinerzeit". Der damalige Kulturstadtrat Helmut Zilk wurde anlässlich einer Veranstaltung vom Denkmalschutz-Aktivisten Martin Kupf auf die modernistische Stadtmöblierung angesprochen, etwa auf die dessen Meinung nach exemplarisch hässlichen Peitschenlampen. Außerdem präsentierte Kupf die Idee, Litfass-Säulen im Stil der Jahrhundertwende ins Stadtbild zurückzubringen. Der Stadtrat reagierte spontan und beauftragte Kupf mit Entwurfszeichnungen. Einige "rückrestaurierte" Lampen wurden am Ring aufgestellt, die Verbreitung von Litfass-Säulen im Nostalgie-Design wurde von der gemeindenahen Plakatierungsfirma Gewista übernommen - allerdings in Kunststoff-Ausführung und nicht mit jener historischen Exaktheit, die Ideengeber Kupf vorgeschwebt war.

Auffällig ist die demonstrative, ja geradezu reißerische Betonung der Nostalgie, etwa im Zusammenhang mit Wiens einstiger Rolle als Kaiserstadt. Der Grund dafür scheint ausschließlich ein spekulativ touristischer zu sein, haben doch Gebäude mir kaiserlichem Flair (Schloss Schönbrunn, Hofburg) die höchsten Besucherzahlen und gelten einschlägige Souvenirs als typisch für Wien. "Keine andere Stadt ist so sehr Kaiserstadt wie Wien", las man 1991 in einem Werbetext: "Das versunkene Kakanien ist höchst lebendig: Vom Franz-Joseph-Kaffeehäferl bis zum Doppeladler-T-Shirt."

Wien um 1900

Die Bedeutung des Komplexes "Wien um 1900" für eine Neukonstrukion des Wien-Bildes kann nicht überschätzt werden. Mit der Rückholung von Schiele und Klimt, Wagner und Loos, Freud und Wittgenstein ins breite Bewusstsein war das Wiener Erinnerungs-Firmament mit neuem Personal versehen. Es handelte sich um nicht weniger als um die Neuentdeckung verdrängter, fremd gewordener Traditionen. Mit dem Jugendstil war aber auch ein als exklusiv betrachteter Leitstil gefunden, der hohes Renommee und einen Schuss Avantgarde in sich hatte - und trotzdem dekorativ war. Erstmals war man in Wien nun in breiter Linie darauf stolz, einst so modern gewesen zu sein. Und weil man mit dem Jahrhundertwende-Boom Welterfolg hatte, prolongierte man ihn.

Ein widersprüchlicher Aspekt war die Erinnerung an die jüdischen Künstler und Intellektuellen sowie an jenes Großbürgertum, aus dem um 1900 die Käufer und Mäzene gekommen waren. Die lange Verkannten und später teilweise Vertriebenen wurden im Nachhinein zu gefeierten Kulturpersönlichkeiten, die Rede vom verlorenen jüdischen Weltstadt-Geist wurde zur Festredner-Floskel. Hilde Spiel hat das Phänomen sarkastisch kommentiert: "Ja selbst die Juden, deren Überzahl man so grausam gelichtet hat, gehen den Wienern nun ab."

Nur 20 Jahre lagen zwischen dem Abriss von Stadtbahn-Stationen von Otto Wagner und dem Massenerfolg der Marke "Jahrhundertwende". Zwar war die 1964 vom Historischen Museum organisierte Ausstellung "Wien um 1900", die in drei Häusern Malerei, Grafik und Plakatkunst zeigte, eine wichtige Wegmarke. Doch noch fehlte das Verständnis für die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Wiener Moderne. Nur so ist es erklärbar, dass die Postsparkasse, immerhin in einem Hauptwerk Otto Wagners residierend, noch um 1970 das "alte" Mobiliar herausriss, es Trödlern anbot oder als Sperrmüll entsorgen ließ. Auch bei der Stadtbahn wurden originale Möbel und Baudetails gedankenlos eliminiert. Kurios sind die Metamorphosen, die dem Aussortieren häufig folgten. Etliche der Objekte hatten einen erstaunlichen Aufstieg vor sich - vom Trödlerramsch über wachsame Händler mit Kennerblick, von mittelpreisigen Versteigerungen bis zur teuren Spitzenware im internationalen Kunsthandel. Der junge Künstler Mario Terzic schleppte beispielsweise einen ausrangierten Wartezimmer-Tisch aus der Stadtbahn-Station Hütteldorf-Hacking ab, der sich heute, feinst restauriert, in einer bedeutenden amerikanischen Sammlung befindet. Auch ehemalige Schreibtische aus der Postsparkasse sind zu lukrativer Handelsware geworden. Manchmal hinterließen die Relikte auch Ratlosigkeit: Die jungen Kunst-Enthusiasten Paul Asenbaum und Christian Witt-Döring erwarben von der Stadt Wien Stadtbahn-Säulen, die beim Alteisen gelandet waren, um den Kilopreis. Nach einer Zwischenstation im Garten einer Großmutter kamen sie schließlich als Schenkung an das Historische Museum. Bedingt durch ihr Gewicht und ihre Größe, verbrachten sie die folgenden Jahrzehnte im Hof des Zentraldepots.

Auffällig ist, dass die wichtigsten Impulse für die Neubewertung von Kultur und Gesellschaft der Wiener Jahrhundertwende aus dem Ausland kamen, vor allem aus den USA. In Büchern wie dem Bestseller "Fin-de-Siècle Vienna" (US-Ausgabe 1980, deutsche Ausgabe 1982) des Historikers Carl E. Schorske, das auf Aufsätzen basierte, die der Historiker seit den frühen sechziger Jahren veröffentlicht hatte, oder der Studie "Wittgenstein's Vienna" (1973) von Allan Janik und Stephen Toulmin wurde versucht, ein umfassendes Bild der Wiener Moderne zu zeichnen, das über die einzelnen Künste weit hinaus ging. Das breite Interesse an Wien basierte auf der These, die Stadt habe zwischen 1895 und 1914 "eine ihrer fruchtbarsten, originellsten und kreativsten Perioden in Kunst und Architektur, Musik, Literatur und Psychologie wie auch in Philosophie" durchlebt. Dadurch seien von Wien internationale Impulse ausgegangen wie später nie wieder.

Bücher zu einzelnen Teilbereichen (etwa über die Wiener Werkstätte), die Wiederauflage wichtiger Texte (etwa von Adolf Loos) und vor allem eine steigende Zahl von Ausstellungen intensivierten und popularisierten in den siebziger und achtziger Jahren den Mythos "Wien um 1900". Glanzvoller Höhepunkt war die Großausstellung "Traum und Wirklichkeit. Wien 1870 bis 1930", die 1985 im Künstlerhaus stattfand, aber eigentlich eine Produktion des Historischen Museums der Stadt Wien war. Ausstellungsbudget und Besucherzahlen sprengten die in Wien üblichen Größen, eine Unmenge von Folgeprodukten kam auf den Markt. So sehr sich das Team um Museumsdirektor Robert Weissenberger und Ausstellungsgestalter Hans Hollein auch bemühte, dem Untertitel gemäß auch die "Wirklichkeit" zu beachten - es waren dennoch vor allem die Pracht der Gemälde von Klimt und der kunstgewerblichen Produkte, die die Epoche um 1900 repräsentierten. Besonders für Gäste aus Italien, Japan oder den USA wurden Klimt & Schiele nun ebenso fester Bestandteil des Wiener Pflichtkanons wie Schönbrunn & Hofburg. Der in unzähligen Texten beschworene imaginäre Raum des Fin de Siècle wurde in reale Räume kostenpflichtiger Nutzung transformiert.

Die im städtischen Alltag sichtbarste Folge des "Wien um 1900"Booms war das "Jugendstilisieren" (Manfred Wagner) beim Gestalten von Lokalen und Geschäften. Aus einzelnen Versatzstücken des Jugendstils entstand ein imitativer Hybridstil, der sich durch das Herauslösen von Ornamenten aus dem Zusammenhang oder durch den opulenten Einsatz von Messing auszeichnete. Eine besondere Rolle spielte dabei die Gestaltung von Schriften, die typographisch eine Mixtur aus Pariser Belle Époque und Wiener Secessionismus waren und von Nobelhotels ebenso gerne eingesetzt wurden wie von Vorstadtfriseuren. Ein frühes Beispiel für tourismusgerechte Jugendstil-Historisierung war die Fassaden- und Innendekoration des Hotels Hilton (inklusive Logo und Klimt-Torte).

Ab 1980 mussten im Zuge von Umgestaltungen von Hotels und Kaffeehäusern zahlreiche späthistoristische und neusachliche Interieurs dem neuen Pseudostil weichen. Zu exemplarischen Debatten kam es im Zusammenhang mit dem Umbau des Café Schwarzenberg durch ein Tochterunternehmen der Stadt Wien. In dieser Diskussion wurde von städtischer Seite zum ersten Mal ein Begriff ins Spiel gebracht, der die ganze Paradoxie der Aktualisierung einer historischen Formensprache auf den Punkt bringt: "Zeitgenössischer Jugendstil".

Parallel-Identität

Nicht alle Stadtbereiche präsentierten sich als Idyllen. Bezirke mit billigen Wohnungen wie Margareten oder Ottakring blieben von rauer Nüchternheit geprägt (durch Zuwanderer und jüngere Mieter gab es allerdings neue Akzente), in vielen verkehrsreichen Straßen wurden seit den achtziger Jahren reihenweise Geschäfte geschlossen. Doch es kam nie zu einer wirklichen Krise der "inner cities", wie sie in vielen westlichen Städten die Stadtplaner alarmierte. Einzig der Gürtel wurde als "innerstädtische Problemzone" bezeichnet, für deren Revitalisierung die Stadt EU-Fördermittel lukrieren konnte.

In einigen Vierteln kam es zu Umwertungen durch neue Nutzer-Milieus. In Neubau boten sich ehemalige Fabriksräume als Lofts für Kreativbeatriebe an, ein unauffälliges Quatier im 4. Bezirk profilierte sich dank seiner Nähe zum Nasch-markt als "Freihausviertel", mit Galerien und Lokalen als Attraktoren. Den besonderen Fall eines langsamen Verschwindens lokaler Charakteristik stellte das "Textilviertel" an der Peripherie der Inneren Stadt dar. Hier hatte sich, für das gründerzeitliche Wien eher untypisch, in den Straßenzügen der Ringstraßen-Erweiterung des späten 19. Jahrhunderts ein monotypischer Geschäftsbelag herauskristallisiert. Es wurde Meter- und Massenware aus dem Ausland zu Halbfertigware verarbeitet und an Großhändler weiterverkauft. Und hier entstanden, zumeist von jüdischen Händlern betrieben, die erst nach 1945 nach Wien gekommen waren, Konfektionsgeschäfte und Stoffniederlassungen, die vor allem ländliche Kaufleute und Marktfahrer mit aktueller Massenware belieferten. Bis in die siebziger und achtziger Jahre gab es hier, in geringer Distanz von den prestigereichen Adressen der Innenstadt, "tote Winkel", die kaum unter ökonomischem Druck zu stehen schienen.

1989 versuchten Eva Menasse und Ruth Rybarski die Stimmung des Viertels in einer "Profil"-Reportage einzufangen. Durch den Artikel zog sich eine Poesie der Tristesse: "Tafeln verrosten und vergilben, Schriftzüge verwelken hinter Glas, trübe Lichtschutzfolien verdunkeln die Augen."

Endzeitstimmung

Der Anlass für den Exotik-Report war eine unübersehbare "Endzeitstimmung". Einerseits waren in den Gassen um den Rudolfsplatz noch die "ärmlichen, altväterlichen Insignien einer dahinsterbenden Handelskultur" präsent, andererseits hatte eine Neubesiedelung durch In-Lokale und Szene-Shops längst begonnen. Beschleunigt wurde die Abwanderung, als 1978 auf dem ehemaligen Schlachthofgelände im peripheren St. Marx ein neues "Modecenter" eröffnet wurde. Einige Händler, denen die Kosten im neuen Zentrum zu hoch waren, verblieben in der Innenstadt und gründeten eine "Interessengemeinschaft Textilviertel", analog zu Händler-Initiativen in krisengeschüttelten "alten" Einkaufsstraßen in ganz Wien. Heute lässt sich bilanzieren: Während sich einige wenige Textilgeschäfte von Grossisten zu Boutiquen mit internationalem Flair entwickelten, konnten sich die ursprünglich typischen Geschäfte - Massenware en gros und en detail - nur an ganz wenigen Standorten halten.

Länger als in den meisten anderen Großstädten hielten sich in den vornehmen Geschäftsstraßen der Innenstadt traditionsreiche Einzelgeschäfte ("Elitegeschäfte"), bis sie ab den neunziger Jahren mit internationalen Ketten-Niederlassungen und Mozartkugel- und Sissibonbon-Läden in Konkurrenz treten mussten. Während der Vorbereitungszeit zur Ausstellung "Alt-Wien" im Jahr 2004 sind Geschäfte verschwunden, die als Institutionen galten: Die Modehäuser Braun und Ita, die Feinkosthandlung Wild, die Buchhandlung Gerold. Just zur selben Zeit erschienen edel ausgestattete Bücher über alte Wiener Luxusgeschäfte, womit wieder einmal das ewige Paradox der Musealisierung bestätigt war, nämlich der enge Zusammenhang zwischen Verschwinden und Wiederentdecken.

Der schweifende Blick auf die jüngere Wiener Image- und Mentalitätengeschichte, der in diesem Beitrag versucht wurde, könnte so bilanziert werden: Der fortschrittliche und zugleich biedere Weg in die Zukunft, den die Wiederaufbau-Pragmatiker vorgaben, war es nicht, der Wien, eine Stadt am Rand von Bedeutungslosigkeit und Resignation, wieder zu sich selbst kommen ließ. Es waren vielmehr Rückgriffe auf Vergangenes oder Koalitionen mit vorgestriger Zukunft (hier sollte man auch die Arbeiterkultur der 20er Jahre als Reservoir für Selbstfindung erwähnen), die zu einer neuen Identität Wiens geführt haben. Das scheint für das touristisch forcierte Außenbild der Stadt ebenso zu gelten wie für das Wien-Bild der Bevölkerung. Alle scheinen es zu genießen, dass Wien die Zeiten ohne allzu große Schäden überstanden hat.

Wien ist eine postmoderne Musterstadt geworden, die ihr "Alt-Wiener" Gesicht jederzeit zuschalten kann und sich dennoch als moderne, innovative Großstadt positioniert hat. Diese Parallel-Identität ist ein nicht weiter hinterfragter Normalzustand geworden. Gelegentlich scheint die Balance ins Schwanken zu kommen, etwa bei neuen Bauprojekten in der dicht verbauten Innenstadt. Anlässlich der Errichtung des neuen Haas-Hauses von Hans Hollein Mitte der achtziger Jahre am Stephansplatz tobte in den Medien ein Zweikampf zwischen jenen, die froh waren, dass endlich zeitgenössische Architektur als weltstädtisches Zeichen an zentralem Ort auftreten konnte, und jenen, die den ästhetischen Bannkreis des Stephansdoms gefährdet sahen. In einem Gastkommentar in der "Presse" meldete sich der greise Publizist Milan

Dubrovic, Autor vieler Erinnerungsbücher an das noble Wien von gestern, zu Wort und klagte, dass mit dem Haas-Haus "ein neuralgischer Punkt im sentimentalen Bereich der Wiener Seele" betroffen sei. Zu einem "Krieg" um die Deutungsmacht in Stadtfragen kam es in den neunziger Jahren anlässlich der Errichtung des MuseumsQuartiers auf dem Areal der ehemaligen Hofstallungen, einem heruntergekommenen Gebäudekomplex. War der vom Büro Ortner und Ortner gewonnene Architekten-Wettbewerb noch unter der Prämisse durchgeführt worden, große Teile des Altbestands wegreißen und relativ hohe Gebäude errichten zu dürfen, kam es in der Folge sukzessive zu Abstrichen. Ein wesentlicher Faktor war dabei das Zusammenspiel von Denkmalschützern, prominenten Kunsthistorikern und der Boulevardpresse. Vor allem die Kampagne der mächtigen "Kronen Zeitung" war es, die die Politiker unter Druck setzte. Der Kern des Konflikts lag in der Frage, ob zeitgenössische Bauten mit einer barocken Zweckarchitektur-Fassade in Dialog treten dürfen oder ob diese so sakrosankt sei wie der Status Quo der viel zitierten Stadt-Silhouette. Ähnlich waren die Argumentationslinien beim Projekt Wien-Mitte, wo ein Bahnhof mit der Anmutung eines "Ratzenstadls" (Bürgermeister Häupl) durch einen zirka 90 Meter hohen Gebäudekomplex ersetzt werden sollte. In diesem Fall setzten Bedenken der internationalen Kommission für das Weltkulturerbe (dieser Status wurde der Wiener Innenstadt 2003 verliehen) die Stadtregierung unter Druck.

Solche Erfahrungen und das Gefühl, dass die Hüter der historischen Stadt ein argumentatives Übergewicht bekommen haben, haben bei Architekten und Stadtdenkern zur Befürchtung geführt, Wien könnte zu einer undynamischen Stadt "unter einem Glassturz" werden. Mit solchen Konflikten wurde eine produktive Diskussion über die Zukunft Wiens ausgelöst, die sich traditionellerweise aus Rückgriffen auf die Vergangenheit speist.

Freitag, 19. November 2004

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