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Vom Leberkäs zum Kebab

Was sich in den letzten 20 Jahren in meinem Grätzel veränderte
Von Beppo Beyerl

Eigentlich hatte ich vor zwanzig Jahren beschlossen, die Supermärkte meiner Umgebung zu boykottieren und den Wiener Lebensmitteleinzelhandel mit meinem Einkauf zu beglücken. Mein Greißler am Eck war der Herr Kraft, ein dicker gemütlicher Wiener, der mit jedem seiner Kunden ein Tratscherl machte. Als er eines Tages auf "die bösen Polacken" zu schimpfen begann, die alles bekommen, während die Wiener leer ausgehen, beschloss ich, die ausländerfeindlichen Greißler zu boykottieren und wieder im Supermarkt einzukaufen. Dort schimpfte die Kassierin sicher auch über die bösen Polacken. Aber sie schimpfte zumindest nicht vor den Kunden, weil sie beim Zahlvorgang nichts redete, also nur das saubere Geld, aber keine unsauberen Worte wechselte.

Kurz zuvor hatte ich im Rahmen meines Slawistik-Studiums an einem Seminar teilgenommen, das die Verwendung der Sprachen der Arbeitsemigranten bei Gericht, im Spital und auf dem Amt untersuchte. Ja, damals bezeichnete man sie auf wissenschaftlichen Symposien noch als Arbeitsemigranten, also als Auswanderer und nicht als Einwanderer. Die meisten von ihnen waren vollkommen unschlüssig, ob sie in ihre türkische oder jugoslawische Heimat zurückkehren oder in Wien bleiben sollten. Viele von ihnen überwiesen Teile ihres Monatslohnes an die zurückgebliebenen Familienmitglieder. So mancher zeigte - übrigens auch mangels Angeboten - keine Ambitionen, sich im Gastland zu integrieren.

Zwanzig Jahre später ist nun alles anders. Der Herr Kraft hat in den späten Achtzigern seine Greißlerei für immer geschlossen, ich kann mich noch gut an das "Ich bedanke mich bei meinen Kunden"-Taferl erinnern, das an der Eingangstür hing. Mit seinem Laden verschwand auch der Typus der Wiener Greißlerei aus der gesamten Wohngegend. Kein vernünftiger Wiener übernimmt mehr eine Arbeit mit derart steigenden Arbeitszeiten und sinkenden Verdienstspannen.

Aus seiner Greißlerei wurde ein "Jugolokal". Küche gab es keine, die Jugos kehrten auch nicht zum Essen ein, schließlich stand "Bierinsel" über der Eingangstür. In einem dunklen Eck standen zwei oder drei Spielautomaten, die zu fortgeschrittener Stunde mit starrer Beharrlichkeit traktiert wurden. An den Tischen hockten stumme Zecher.

Die Greißlerei ist also tot. Dafür haben zwei Türken Läden aufgemacht. Der eine Türke heißt "Türkenpeter" und kommt von der Hamburger Werft, dort hat er auch - vom Vater eines deutschen Arbeitskollegen - seinen Namen erhalten. Mit bundesdeutschem Akzent verkauft der Türkenpeter seine Kebabs, die Nachfolger der Leberkässemmeln. Sowohl mit den wienerischen als auch mit den türkischen Kunden geht sich locker ein Tratscherl aus. Da ich nicht türkisch kann, pflegen wir beim Einkauf eines Döner-Kebab ein paar Worte auf Serbisch zu wechseln. Sein Nachbar ist nämlich ein Serbe, der gelegentlich zu einem Tratsch beim Türkenpeter vorbeischaut. Sollte nicht gerade Ramadan sein, stattet der Türkenpeter seinerseits den Serben einen Besuch ab.

Ein Eck weiter hat ein türkisches Obst- und Gemüsegeschäft aufgemacht. Dort wird demonstriert, wie ein Laden aussieht, der nicht von strikten Öffnungszeiten und gewerkschaftlichen Arbeitszeitbestimmungen belästigt wird. Der hat bis 21 Uhr offen. Es werken stets zwei Personen, ein paar Gesichter kenne ich recht gut, die gehören sozusagen zum inneren Kern des Ladens. Andere Gesichter tauchen nur sporadisch auf. Die gehören wohl zur zweiten Wahl, sollte die Truppe des inneren Kerns verhindert sein.

Einzig und allein der Supermarkt hat seinen Standort nicht gewechselt. Dafür hat sich die Herkunft seiner meist weiblichen Mitarbeiter geändert. Als Ladnerinnen werken Frauen aus Serbien, Kroatien und Ungarn. Die Stapelfahrer sind muskulöse Serben und Türken. An der Kassa hingegen sitzen Steirerinnen und Burgenländerinnen. Die Zuwanderung als normative Kraft des Faktischen hat begonnen, die lokale Ausländerfeindlichkeit zu zersetzen. "Zwanzig Wiener" bestellte ich neulich an der "Feinkosttheke". "Dvadeset Beclija, zwanzig Wiener. Das sind fünf Sprachen", antwortete der Verkäufer.

An einem anderen Eck meiner näheren Wohngegend hat inzwischen ein serbisches Caféhaus eröffnet. Die Serben der dritten Generation sind längst den Klischees entwachsen, die sich in des Volkes Meinung noch steif und starr behaupten. Sie sitzen mit Sakko oder Anzug an ihren Tischen, das Handy liegt griffbereit. Die Mädchen nicht überschminkt oder aufgeputzt, aber doch in dezenter Markenkleidung. Alkohol ist eher verpönt, gerade auf ein, zwei Tischen stehen Bierflaschen. Untertags werden Cola und Kaffee bevorzugt, des Abends modische Energy-drinks. Schnaps gibt es im serbischen Caféhaus nicht. Mittels laut ausgestrahlter serbischer Folklore und durch die Verwendung der Sprache der Großväter wird versucht, Übereinstimmung mit der verlorenen Heimat herzustellen.

Genau gegenüber steht eines der letzten Vorstadtbeisln in der Gegend. Viele Wiener Stammkunden, einfache Küche, niedrige Preise, ein Schild "Hier kocht die Wirtin persönlich", keine Ausländer. Betritt man das Lokal, hört man stets volkstümliche Musik, an zwei Tischen hocken Kartendippler, an zwei weiteren Tischen so genannte "Herrlis" mit ihren angeleinten Hunden, auf allen Tischen Bier- und Weingläser.

Passiert man am nächsten Morgen den Gehsteig vor dem Beisl, so kann man zumeist registrieren, dass - im günstigen Fall - in der Nacht jemand kräftig an die Hauswand gepisst hat. Im ungünstigen Fall hat dieser jemand seinem Mageninhalt freien Lauf gegeben und ihn direkt am Hauseck deponiert.

Was werden die Serben dazu sagen, davon denken, die im Sommer in ihrer "Einserschale" gegenüber an den Gehsteigtischen sitzen? Vielleicht "Müssen wir das lernen, um als Wiener anerkannt zu werden?" Oder: "Da hätten unsere Großväter ja gleich zu Hause bleiben können!"

Beppo Beyerl lebt als Schriftsteller und Journalist in Wien, und schreibt seit 1984 für das "EXTRA".

Soeben ist im Promedia Verlag, Wien sein neuestes Buch erschienen: "Die Eisenbahn. Historische Weichenstellungen entlang des österreichischen Schienennetzes."

Freitag, 15. Oktober 2004

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