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pingreen.gif 1 KB Der deutsche Schuldkomplex heute und Stalins Angriffspläne damals:

Die Rolle Moskaus im Zweiten Weltkrieg

Anders als die Deutschen: Das russische Volk - halb Täter, halb Opfer - will die historische Wahrheit wissen, aber es lehnt kollektive Schuldzuweisungen ab und läßt sich keine sachfremden politischen Entscheidungen aufzwingen

VON KARL LUDWIG BAYER

Am 30. November 1939 tauchten plötzlich über dem Himmel von Helsinki sowjetische Militärmaschinen auf und bombardierten die friedliche Stadt. Gleichzeitig rollten Stalins Panzer über die finnische Grenze. Im ersten größeren Ort, den sie erobert hatten, ließ Stalin eine kommunistische »finnische Regierung« proklamieren, deren Mitglieder sich freilich zu diesem Zeitpunkt noch in Moskau befanden. Der sowjetische Staatsrundfunk stellte Frequenzen zur Verfügung, über die handverlesene finnische Kommunisten behaupteten, sie würden von »befreitem finnischen Boden« aus senden und ihr Ziel sei bloß die brüderliche Hilfe für das unterjochte finnische Proletariat.

In seinem Allmachtwahn hatte Stalin nur den Militärbezirk des damaligen Leningrad (St. Petersburg) mobilisiert, da er an einen raschen Sieg glaubte. Er unterschätzte den Widerstandswillen der Finnen und er überschätzte die Wirkung der marxistischen Propaganda. Doch kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Sowjets ganz Finnland schlucken wollten.


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Zeichnung: Krokodil, Moskau

Die Eßwerkzeuge des Kommunismus. Auf dem Schild steht »Die Löffel fehlen«


Daß Stalin nach einigen Gebietsabtretungen 1940 doch noch mit Helsinki Frieden schloß, entsprach einer außenpolitischen Taktik. Denn der Finnlandkrieg mobilisierte die Westmächte, die dem kleinen bedrängten Land Waffen schickten und Interventionen anboten. Als sogar Mussolini zur Unterstützung Finnlands aufrief und erste italienische Waffentransporte in Bewegung setzte, sah Stalin die Gefahr, daß sich Frankreich und England, die gerade erst an Hitler den Krieg erklärt hatten, mit Italien und Deutschland gegen ihn verbünden könnten. Um dies zu verhindern, lenkte er zum Schein ein - um Zeit zu gewinnen.

Warum jedoch Rudolf Augstein im Spiegel bis heute bestreitet, daß die Sowjets Finnland erobern wollten, und stattdessen wirklichkeitsfremd verkündet, Stalin habe bloß ein paar strategische Positionen verbessern wollen, läßt sich (wenn überhaupt) psychologisch erklären. Augstein ist Wortführer der pazifistischen deutschen Nachkriegsintellektuellen. Deutsche sollen seinem Glaubensbekenntnis zufolge als Zeichen bußfertiger Zerknirschung aller Waffen entsagen. Ein solcher Pazifismus aber wäre - in den Jahrzehnten vor Gorbatschow - bei halbwegs realistischer Einschätzung Moskaus einfach nicht möglich gewesen. Um nicht als Selbstmord-Prophet in die Geschichte einzugehen, verbog Augstein die Wirklichkeit. Erst der dogmatische Lehrsatz, die sowjetische Politik sei defensiv und von friedlichen Absichten getragen, machte einen deutschen Pazifismus intellektuell möglich. (Mit Recht warnt Arnulf Baring vor »typisch deutscher Realitätsverweigerung«.)

Zugleich erleichterte diese Reinwaschung des Sowjetsystems die Aufrechterhaltung des zeitgeschichtlichen Dogmas von der alleinigen deutschen Schuld und der reinigenden Sühne. Davon leitet sich bis heute eine - den deutschen Interessen oft widersprechende - Politik ab, die den Weg zur Normalität versperrt. Die Deutschen werden mit Denkverboten belegt und dazu gebracht - gleichsam als Schadensersatz aus unerlaubter Handlung -, ihre neue Rolle als Zahlmeister Europas und der Welt zu akzeptieren.

Indessen hat beim einstigen Kriegsgegner im Osten das große Umdenken längst eingesetzt. Das von den Kommunisten sieben Jahrzehnte lang beherrschte und mißbrauchte russische Volk sieht zunehmend realistischer, daß es - halb Opfer, halb Täter - das ethnische Zentrum eines expansiven Imperiums war. Nach dem früheren sowjetischen Geheimdienstoffizier Wladimir Resun, der unter dem Pseudonym Viktor Suworow publiziert und heute in England lebt, haben eine ganze Reihe russischer Historiker Indizien für die aggressiven Absichten Stalins am Beginn des Zweiten Weltkrieges gefunden. Bücher zu diesem Thema sind heute in Rußland Bestseller.

Die sowjetische Führung hat den Krieg stets als legitimes Mittel ihrer Politik betrachtet und es ist absurde Realitätsverleugnung, an ihrem nie erlahmenden Willen zum Export der Weltrevolution zu zweifeln. Noch 1984, als das rote Imperium in seinen Fugen schon zu krachen begann, wurde während des Fluges von Erich Honecker nach Addis Abeba mit tiefem Ernst der Plan besprochen, Äthiopien zum »Kuba Afrikas« - zum Ausgangspunkt der Revolutionierung eines ganzen Kontinents - werden zu lassen.

Die einzigen wirksamen Bremsen waren Barrieren militärischer Macht, die von der sowjetischen Führung für unüberwindbar gehalten wurden. Der subjektive Faktor - die Einschätzung aller Kräfte und Möglichkeiten seitens des Diktators an der Spitze des Staates - spielte naturgemäß im System Stalins eine ähnlich große Rolle wie in Hitler-Deutschland. Fraglos ist die Analyse von Botho Kirsch in dieser Ausgabe richtig, daß die Sowjets am liebsten subversiv vorgingen und ihre potentiellen Gegner so lange zermürbten, bis ihnen der Territorialgewinn wie eine reife Frucht in den Schoß fiel. Doch zeigt noch das afghanische Beispiel (von 1979 bis zum Ende der Sowjetunion), daß Moskaus Einschätzung der militärischen Möglichkeiten oft nicht mit den realen Kräfteverhältnissen übereinstimmte. Anders ausgedrückt: Auch eine Weltmacht kann sich gelegentlich einen Bruch heben.

Eben dies widerfuhr Stalin 1939 gegenüber Finnland sowie 1941 gegenüber Deutschland. Auch damals spielten Methoden der politisch-psychologischen Kriegsführung eine große Rolle. In maßloser Selbstüberschätzung glaubte der Sowjet-Führer, nach der subversiven Vorarbeit seiner Fünften Kolonne sei der Weg nach Westen frei. Die kommunistische Propaganda werde gegnerische Soldaten aus proletarischem Milieu zum Überlaufen veranlassen oder sogar Aufstände gegen die herrschenden »Kapitalisten« anzetteln. Die Rote Armee werde schließlich die Ernte einfahren und in weiten Teilen des europäischen Kontinents das sozialistische System etablieren.

Daß Hitler das Spiegelbild dieses Denkens verkörperte und sich von Stalin allenfalls durch seine größere Risikobereitschaft unterschied, steht auf einem anderen Blatt der Chronik. Obwohl schon ganze Bibliotheken an Dokumentationen darüber vorliegen, sei es der Vollständigkeit halber noch einmal gesagt: Hitler wollte den Krieg gegen Stalin. Er hätte - wenn die Sowjetunion nicht 1940/41 ihren gewaltigen Aufmarsch Richtung deutsche Grenze vollzogen hätte - gewiß einen anderen Vorwand gefunden, um seinen Ostlandritt nach außen hin zu begründen. Er hätte bloß auf die Erklärung verzichten müssen, daß er - wie er im Juni 1941 in der Tat mit durchaus plausiblen Gründen behaupten konnte - zum Präventivschlag gegen die Sowjets gezwungen sei. Die Fakten über Hitlers Ziele und Pläne sind bekannt. Sie sollen und dürfen weder beschönigt noch verschwiegen werden. Wer deutsche Massenmedien konsumiert, weiß auch, daß dies nicht geschieht.

Von brennendem Interesse ist hingegen das Phänomen, daß die Deutschen - wie auch andere Völker des Westens - so wenig über das besondere Verhältnis Sowjet-Rußlands zum Krieg wissen.

Stalin dehnte am Beginn seiner Herrschaft den Machtbereich der Sowjetunion in China aus (Mongolei und Sinkiang), eroberte im September 1939 die östliche Hälfte von Polen und besetzte anschließend Estland, Lettland, Litauen, die nördliche Bukowina und Bessarabien sowie finnische Gebiete am Ladoga-See. Im Herbst 1940 schließlich legte Stalins Außenminister Molotow in Berlin die Karten auf den Tisch und erklärte auch Bulgarien mitsamt der türkischen Meerengen - und im Norden sogar Schweden - zur sowjetischen Interessenssphäre.

Der fromme Glaube deutscher Journalisten, der monströse Diktator an der Spitze der Sowjetunion habe aus Friedensliebe keine Angriffsabsichten gegen Deutschland gehegt, ist abwegig und durch Fakten widerlegt. Diskussionswürdig ist hingegen die Ansicht, Stalin habe so großen Respekt vor der Stärke der deutschen Wehrmacht gehabt, daß er deshalb den offenen militärischen Konflikt zunächst hinauszögern wollte, um einen günstigeren Zeitpunkt abzuwarten.


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Moskau, roter Platz, Mausoleum (vorne rechts): Stalin wurde bereits ausquartiert - jetzt soll Lenins Leichnam folgen.


Es ist möglich, daß es so war; oder daß beide Diktatoren, Hitler wie Stalin, den Angriff der jeweils anderen Seite erwarteten und deshalb ihren Truppen befahlen, dem Gegner zuvorzukommen und selber anzugreifen. Immer noch fehlen wichtige Dokumente aus den Archiven der früheren sowjetischen Führung. Die Tatsache des Aufmarsches der Roten Armee Richtung Westen wird aber heute von russischen Historikern ebenso wenig bestritten wie das Faktum, daß Stalin auf Angriff setzte. Die Details sind nachzulesen in den in deutscher Sprache vorliegenden Büchern von Viktor Suworow und Dimitri Wolkogonow, sowie in den Arbeiten von Ernst Topitsch, Walter Post, Joachim Hoffmann, Hartmut Schustereit, Werner Maser, Volker Detlef Heydorn und Richard C. Raack.

Was sich heute der deutsche Medienkonsument nur schwer vorstellen kann, war damals grausige Wirklichkeit: Beide Diktatoren waren größenwahnsinnig. Sie hielten utopische Ziele für erreichbar, waren von ihrer eigenen Genialität und der Überlegenheit ihrer Waffen überzeugt - und es war ihnen völlig gleichgültig, wieviel Millionen Menschen für die vermeintlich höheren Zwecke ihrer Politik geopfert werden mußten.

Für sie stellte sich nur die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. Hat Stalin 1941 die einmalig günstige Konstellation erkannt? Glaubte er an innere Schwächen Deutschlands und an die Mobilisierungskraft der marxistischen »Befreiungsidee«? Stalin hob bei seinen Planungen gegen Deutschland immer wieder die politische Komponente hervor. So sagte er am 30.1.1941 vor Kommandeuren, nach dem Einsatz von 5.000 Flugzeugen, die alles zerstören, könne man über die Karpaten vorstoßen - und dies werde als Signal für die »Revolution in Ungarn« dienen. Anschließend würden die Sowjettruppen bis zur Adria vorstoßen und so den Balkan und den Nahen Osten von Deutschland abschneiden. In der Tat hat es kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Budapest eine kommunistische Putsch-Regierung gegeben; Stalin wollte daran anknüpfen und im Zusammenspiel von Revolution und militärischem Vormarsch - wie schon vom legendären Sowjet-General Michail Frunse in den frühen zwanziger Jahren konzipiert - Moskaus Macht nach Westen und Süden ausdehnen.

Am 5.5.1941 sagte Stalin vor seinen Generälen - wie Dimitri Wolkogonow berichtet -, der Krieg werde »auf dem Territorium des Gegners geführt und der Sieg mit geringen Opfern errungen werden«. Der zu diesem Zeitpunkt für die militärische Vorbereitung maßgebliche Schukow-Plan sah den Hauptangriff aus den Geländebögen von Bialystok und Lemberg Richtung Weichsel und Oberschlesien vor - für die politische Begleitmusik sollten polnischsprachige Rotarmisten sorgen. Der Abbau der alten Befestigungslinie an der von 1920 bis 1939 bestandenen Westgrenze der Sowjetunion (»Stalin-Linie«) zeigt zweifelsfrei, daß nur Angriff auf dem Plan stand; Stalin glaubte, eine effiziente Verteidigung gar nicht mehr nötig zu haben - die Befestigungslinie war bei der Entfaltung der Offensivkräfte Richtung Westen bloß hinderlich. Feldflugplätze der Sowjetarmee wurden in der Regel in unmittelbarer Nähe der damaligen deutschen Ostgrenze errichtet und waren daher für Verteidigungszwecke unbrauchbar - da leicht verwundbar. Ihre Lage ergab nur einen Sinn, wenn damit beabsichtigt war, eine optimale Reichweite der sowjetischen Militärmaschinen für Angriffsoperationen Richtung Westen zu erzielen.

Stalin behauptete, über Nachrichten zu verfügen, wonach die deutsche Armee bereits unter innerem Zerfall leide und dadurch stark geschwächt sei. Stalin übertrug hier offensichtlich in seinem Wunschdenken die Bilder marxistischer Zersetzung unter den Soldaten des Ersten Weltkrieges (vor allem im russischen Zarenreich, aber auch in Deutschland) auf die Situation am Beginn des Zweiten Weltkrieges. Stalins Außenminister und zeitweiliger Ministerpräsident Wjatscheslaw Molotow offenbarte dem letzten Außenminister des freien Litauen (kurz vor der Annexion durch Moskau 1940), der Zweite Weltkrieg werde zum Sieg der Sowjetmacht in ganz Europa führen, so wie der erste Weltkrieg dem Sieg der Revolution in Rußland den Weg geebnet habe.

Erstmals aus dem Jahr 1925 ist eine Äußerung Stalins nachgewiesen, wonach es für die Sowjetunion am vorteilhaftesten wäre, Deutschland und die Westmächte in einen neuerlichen Krieg gegeneinander zu hetzen, um dann nach gegenseitiger Schwächung dieser beiden »kapitalistischen« Gegner als lachender Dritter die Ernte einzufahren. Dieser Grundlinie seiner Expansionspolitik blieb Stalin stets treu. Der lachende Dritte mußte militärisch stark sein und jederzeit - wann immer sich eine günstige Gelegenheit bieten würde - zuschlagen können. Als Chef des sowjetischen Generalstabs hat Marschall Schaposchnikow 1938 mit der Ausarbeitung konkreter militärischer Planungen begonnen, um »den Kampf auf das Territorium des Gegners zu tragen«.

Fünf Jahrzehnte später - in der Prawda vom 8.5.1991 - gestand der russische Militärhistoriker B. Petrow: »Infolge der Überschätzung eigener Möglichkeiten und der Unterschätzung des Gegners schuf man vor dem Krieg unrealistische Pläne offensiven Charakters. Möglich, daß sie auf dem Papier geblieben wären und es heute keinen Sinn mehr hätte, darüber zu reden. Doch in ihrem Sinn begann man die Gruppierung der sowjetischen Streitkräfte an der Westgrenze zu formieren. Aber der Gegner kam uns zuvor.«

In Novosibirsk befaßten sich am 16.4.1995 russische Historiker auf einem wissenschaftlichen Symposion der Gesellschaft Memorial mit der Rolle der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Der Historiker Michail Meltjuchow sagte, die Vorbereitungen zum Angriffskrieg seien in beiden Ländern (Rußland und Deutschland) parallel betrieben worden und die Entscheidung zum Angriff sei 1940 ungefähr gleichzeitig - jedoch unabhängig voneinander - gefallen. Beide Seiten mußten nach Meltjuchow angesichts der gewaltigen Militärmaschinerien, die in Bewegung gesetzt wurden, im Jahr 1941 zur Tat schreiten. Selbst wenn es deutsche Aggressionsabsichten nicht gegeben hätte, wäre Stalin losmarschiert. Weitere russische Historiker, die zu ähnlichen Überlegungen kommen, sind W. Neweshin, G. Bordjugow und V. Danilov. Danilov, er in der Roten Armee den Rang eines Oberst bekleidete, bevor er zum zivilen Historiker wurde, urteilt heute: »Wir hatten uns darauf vorbereitet, einen vernichtenden Angriff zu beginnen und deshalb viele organisatorische Fragen bezüglich einer zuverlässigen Landesverteidigung außer Acht gelassen. Diese Fehlkalkulationen erklären die großen Niederlagen am Anfang des Krieges.«

Im Rückblick auf sein kommunistisches Lebenswerk bekannte Molotow - ganz im Geist der traditionellen russischen Expansionspolitik, die von der Sowjetunion nur mit neuen ideologischen Begründungen fortgeführt wurde -, er habe seine Aufgabe immer darin gesehen, »die Gebiete des Vaterlandes so weit wie möglich zu erweitern. Ich glaube, wir haben diese Aufgabe mit Stalin ganz gut gelöst.«

Milovan Djilas, Titos Kronprinz, hatte 1945 bei seinen Gesprächen mit Stalin den festen Eindruck, daß Moskaus Westexpansion nach einer Erholungspause weiter fortgesetzt werden sollte. Stalin habe diese Absicht deutlich zum Ausdruck gebracht. Er rechnete mit einem Abzug der Amerikaner aus Europa und wollte dann ganz Deutschland unter seine Kontrolle bringen. Die sowjetische Militäradministration in Deutschland teilte bei den Verhandlungen zur Gründung der SED ihrem sozialdemokratischen Parteigänger Otto Grotewohl schon vorsorglich mit, Stalin beabsichtige, ihn (Grotewohl) zum Regierungschef des künftigen sozialistischen Gesamtdeutschlands zu machen.

Stalin hoffte, nach der Erledigung Deutschlands - gestützt auf die Massen kommunistischer Parteigänger in Frankreich und Italien - doch noch seine alten Pläne von 1925 und 1941 verwirklichen zu können: den Vorstoß zum Atlantik, die Bolschewisierung Kontinentaleuropas. Allein die dauerhafte Präsenz der Amerikaner in Europa, mit der er nicht gerechnet hatte, zwang ihn zum Stillstand. Richard C. Raack, Professor of History an der California State University: »Stalin had apparently relied on the local Communist parties in France and Italy as effective fifth columns, prepared to deliver those nations over to a Soviet-united Europe.« Ein sowjetisch vereintes Europa war das Ziel. Seriöse Historiker wissen dies längst. Viele Deutsche aber glauben immer noch, es sei eine singuläre Besonderheit - eine teutonische Eigenschaft sui generis - gewesen, die sie zwölf Jahre lang in die Fänge einer kriegerischen, menschenverachtenden Diktatur geraten ließ.

Bei den Russen waren es sieben Jahrzehnte. Wie die Deutschen sind auch die Russen ein altes Kulturvolk mit tausendjähriger Geschichte. Die beiden Länder haben Goethe und Tolstoi hervorgebracht, aber auch die Hitler-Herrschaft und die Stalin Zeit. In der totalitären Diktatur verhalten sich die Menschen ähnlich. Sie passen sich an, wenn sie die Lebenserwartung eines Regimes höher einschätzen als ihre eigene Lebenserwartung. Sie werden dadurch zu Mit-Tätern, obwohl sie sich selbst für Opfer halten. In Wahrheit sind sie beides.

Ich denke an zwei betagte Lehrerinnen aus St. Petersburg, die jetzt im Westen leben und voller Verachtung und Abscheu vom Leben im Kommunismus erzählen. Auch sie fühlen sich als Opfer. Aber haben sie nicht jahrzehntelang selbst das Regime gestützt, indem sie dessen ideologische Derivate in die Gehirne von Kindern und Jugendlichen verpflanzten?

Sind sie somit schuldig geworden? Oder haben sie bloß von ihrem Recht als »ganz normale Menschen« Gebrauch gemacht, sich selbst und ihren Familien das Überleben zu sichern? Der Befund ist eindeutig: Niemand fühlt sich in Rußland schuldig - abgesehen von einer verschwindend kleinen Minderheit. Stets sei daran erinnert, daß die Abgeordneten der Duma am Jahrestag von Stalins Tod 1996 gebeten wurden, sich im Gedenken von den Plätzen zu erheben, und daß nur zehn Parlamentarier dieser Aufforderung gefolgt sind. Die Russen wollen mit einem derart demonstrativen Verhalten der Wahrheit nicht ausweichen, aber sie lehnen es ab, die Politik der Gegenwart und Zukunft von sachfremden Erwägungen leiten zu lassen. Stalin ist für die Russen heute schon »historisiert« und damit der aktuellen Politik entzogen. Die Vergangenheit ist allein Sache der Geschichtswissenschaft. Einen Schuldkult gibt es in Rußland nicht. Wie sagte doch Honecker: Von Moskau lernen heißt siegen lernen. Siegen über die lähmenden Schatten der Vergangenheit.

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