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Weiches Tier mit rauer Schale

Das bretonische Cancale ist ein altes Zentrum der Austernzucht
Von Ingeborg Waldinger

Gott, wie hässlich! höhnte der Teufel, als er der neuesten Schöpfung des Allmächtigen ansichtig wurde. Die Auster beleidigte sein Gefühl für Ästhetik. Indes, nicht jede Kreatur muss durch äußere Schönheit glänzen, um allseits begehrt zu sein. Der sinnlichen Reize gibt es viele. Also hielt der Schöpfer seinen Kritiker an, doch die inneren Werte der Missgestalt zu entdecken. Es kam, wie es kommen musste: Der Teufel, wahrlich kein Kostverächter, geriet ob des erlesenen Gouts der Molluske in Verzückung. Sogleich beschloss er, die Austernproduktion selbst in die Hand zu nehmen. Allein, die Chose wollte nicht gelingen. Die falschen Austern des Spötters entpuppten sich als ein mattes Plagiat - als gemeine Sattelmuscheln. Sie gingen als Anomia ephippium in die Gelehrtenbücher ein.

Des Teufels kulinarische Stümperei ist noch in einer anderen Version überliefert: Der Herr der Hölle macht sich an die erste Austernverkostung. Weil er am Öffnen der ruppigen Schalen scheitert, isst er sie kurzerhand mit - und spuckt den splittrigen Brei angeekelt wieder aus. Nachsichtig unterweist der Schöpfer den Dilettanten, dass nur das Innere der Muschel genießbar sei, und befiehlt einer Auster, sich zu öffnen. Der Teufel steckt seinen Finger zwischen die Klappen, um den vermeintlichen "Fang" herauszulocken, die Falle geht zu. Der Schmerz ist groß, die darauf folgende Idee noch größer: man brauchte ja bloß Austern zu basteln, deren Schalen spielend leicht aufgingen. Wieder scheitert das teuflische Experiment, wieder kommen nur Sattelmuscheln heraus.

Die Tücken der Auster

Sagen setzen die Alltagslogik durch das Einwirken des Transzendenten außer Kraft. Dennoch haben sie einen wahren realen Kern, der die Geschichte für den Zuhörer plausibel macht. Auch in den Natursagen der bretonischen Ärmelkanalküste verschmelzen uralter Volksglaube und konkrete Lebenserfahrung. So verweisen die phantastischen Austerngeschichten nicht nur auf eine metaphysische Ebene, sondern erzählen auch viel vom Wesen und Wert dieser Muschel - und von den Tücken im Umgang mit ihr. Tatsächlich hat die Auster eine raue, dicke, hässliche Schale; ihr glattes Inneres aber birgt ein weiches, köstliches Tier. Um an es heranzukommen, braucht man einigen Sachverstand, denn die Austernschale ist eine wahre Festung.

Die Auster ist an Europas Küsten seit Jahrtausenden heimisch. In Anbetracht der Sortenvielfalt gilt es zu präzisieren: die Rede ist von Europas erster Speiseauster, der flachen, runden Ostrea edulis. Ihre alten, natürlichen Bänke erstrecken sich von Skandinavien über den Atlantik bis an die griechische Mittelmeerküste. Den Nahen Osten erreichen sie nicht - was die Absenz der mythischen Molluske in biblischen Texten erklärt. Erste Zuchtversuche sind schon aus der Antike bekannt. Die Hellenen entdecken die Vorliebe der Auster für ins Meer geschwemmte Tonscherben: der Nachwuchs setzt sich daran fest. Die Römer erzielen ähnliche Resultate mit Zweigen, die sie ins Mare nostrum hängen.

Ganz anders der Atlantik. Seine heftigen Gezeiten, Strömungen und Stürme erfordern komplexere Methoden, um die Austernpopulation zu steuern. Doch der Aufwand scheint lohnenswert. Schon Roms Legionäre haben ein untrügliches Gespür für Galliens beste Austern. Die finden sie in Cancale, einem kleinen Hafen in der Bucht des Mont-Saint-Michel. Im sauerstoff- und planktonreichen Küstenwasser des Atlantiks gedeihen sie hervorragend. Die Fischer ernten die natürlichen Bänke von Schiffen aus mit Scharrnetzen ab. Vereinzelt erreichen die plates, die flachen Austern, ein Gewicht von 1.000 Gramm und die Größe eines Hufes, - daher die volkstümliche Bezeichnung pied de cheval.

Stadtrecht gegen Muscheln

Alsbald beliefern die Meeresbauern von Cancale den französischen Hof, und heimsen für die Qualität ihres Produktes das Stadtrecht ein. Die Ehre hat ihren Preis. König François I. bezieht seine Cancale-Austern fortan gratis. Und weil man, was gut ist, nicht ändern soll, halten Frankreichs gekrönte Häupter noch bis in die Revolutionszeiten an der Konvention fest.

Unterdessen imitiert die aufstrebende Bourgeoisie die Sitten des Adels - auch die kulinarischen. Der Austern-Markt ruft Spekulanten auf den Plan. Cancale wird Europas größter Produzent von huitres plates. 1636 bringen zwei Notable das Kunststück zuwege, sich ein Monopol auf die Austernernte von Cancale zu sichern. Wer das Wesen der bretonischen Meeresbauern kennt, ahnt, was nun kommen musste. Die Küstenfischer erstreiten ihre alten Ernterechte zurück, zerstören die Parks der Ex-Monopolisten und beuten die natürlichen Austernvorkommen selbst aus.

Die Muscheln werden im mittleren Stadium von den Bänken gescharrt und reifen in künstlich angelegten Parks nach. Noch 1889 sind bei der Austernernte 500 Fischerbarken im Einsatz. Nun kommen auch die ersten Touristen und wollen die Anlagen besichtigen. Aber in Lackschuhen durch den Schlick? Cancales Frauen vermieten Stiefel zu 1 Franc das Paar (der Neupreis liegt unter 2 Francs).

Das maßlose Abfischen der Austernbänke geht unterdessen weiter. Durch den Rapport des obersten Fischereiinspektors alarmiert, erlässt der König 1757 ein Regulativ zur Sicherung der Bestände: das Fischen und Verkaufen von Austern wird in ganz Frankreich zwischen dem 1. April und 31. Oktober verboten. Daher vermutlich die Legende von den Monaten "ohne R", während derer man keine Austern essen sollte. Die Zeiten mangelnder Kühl- und Transporttechnik sind Geschichte; Austern können heute das ganze Jahr über verzehrt werden. Dass sie während des sommerlichen Reproduktionszyklus einen leicht milchigen Geschmack annehmen, tut ihrer Qualität keinen Abbruch. Die edlen Weichtiere zeigen übrigens ein sonderbares Rollenverständnis: Sie wechseln regelmäßig das Geschlecht.

Moderne Zuchtverfahren

Die moderne Austernzucht beginnt in Cancale in den 1910er Jahren. Auch Cancales Frauen leisten damals, wie noch heute, harte Arbeit, waschen, sortieren und verpacken die Muscheln. Und sie gehen auf die Straße, um soziale Rechte für die Zunft zu erkämpfen. Selbst der Bannspruch der Kirche kann ihr Engagement nicht erschüttern.

Endlich war es gelungen, die in Myriaden durch die Strömung treibenden Larven an künstlichen Sammelvorrichtungen einzufangen. Die Kollektoren (Pfähle mit aufgefädelten Tonscherben, Austernschalen und Jakobsmuscheln) werden in den Meeresboden gerammt. Nun "schwitzen" die Larven den Baustoff ihres künftigen "Eremiten-Gehäuses" aus, wie Gaston Bachelard in seiner "Poetik des Raumes" bemerkt. Tatsächlich sondert die Auster den Kalk ab, der ihre Festung bildet. Besser als am Ärmelkanal glückt diese Zuchtphase allerdings an Frankreichs Westküste, wo der Tidenhub halb so stark, das Meerwasser dafür wärmer und salzreicher ist.

Im Alter von neun, respektive achtzehn Monaten werden die Austern-Babies von den Sammlern geschabt und in die Parks gebracht. Die flache Auster - d. h., was von dieser nach dem verheerenden Parasitenbefall in den 1970er und 1980er Jahren noch übrig ist - wird nun zum Reifen direkt in den Meeresboden gesät. Erst nach etwa vier Jahren gelangt sie in den Handel.

Die japanische Variante

Seit der schmerzlichen Dezimierung der flachen Auster setzen Cancales Züchter auf eine länglich-ovale Variante japanischen Ursprungs, die Crassostrea Gigas. Sie hat eine tiefe untere Schale und wird daher creuse genannt. Die Jungtiere der creuses werden in Sacknetze gefüllt, um in den Parks auf Gestellen noch gut drei Jahre heranzuwachsen. Der Prozess unterliegt dem Rhythmus der Gezeiten, der Tidenhub beträgt um Cancale bis zu 15 Meter. Wenn die Flut die Gestelle bedeckt, öffnen sich die Austern und filtern das nährende Plankton aus dem Wasser. Bei Ebbe stehen die Anlagen frei im Schlick, und die Austern bleiben fest verschlossen.

Während all der Jahre muss der Züchter die Säcke mehrmals wenden, die Austern nach Größe umsortieren, und die durch Stürme vertragenen Exemplare wieder einholen. Ist die Ernte eingefahren, kommt die Auster in ein Klärbecken, um sich von Sand und Schlamm zu reinigen. Dann bringt man ihr durch unregelmäßiges Wässern noch bei, die Schalen länger geschlossen zu halten. So übersteht sie auch längere Transporte.

Längst ist der Konsum von Austern demokratisiert, jedenfalls in Erzeugerländern wie Frankreich, wo die exquisite Meeresfrucht auf Märkten und in Supermärkten feilgeboten wird. Frankreichs Austernzüchter produzieren jährlich 140.000 Tonnen; ein Großteil davon wird zu den Weihnachts- und Osterfeiertagen konsumiert.

Der hohe Nährwert der Auster (Mineralstoffe, Proteine und Vitamine) ist erwiesen, zudem ist die Molluske arm an Fetten und Kalorien. Dass die zu Pulver verriebene Schale gegen Wutanfälle hilft, war lange Zeit Lehrmeinung der volksnahen Medizin. Zur aphrodisischen Wirkung der Auster hatten die alten Römern einiges zu sagen, Casanova noch mehr, auch Schnitzlers epochenmüder Anatol wollte daran glauben. Tschechow widmet der Edelmuschel eine eigene Erzählung, die Knef ein nettes Chanson. An Anekdoten herrscht kein Mangel: So soll Maria Leczinska, Tochter des Königs von Polen und Großherzogs von Lothringen, den Verzehr von 15 Dutzend Austern fast mit dem Leben gebüßt haben. Nur ein mystisches Gebräu der Kartäusermönche konnte sie noch retten. Wie meinte doch Karl Kraus? "Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um die Vorspeise der Neugier bereichert und um die Nachspeise der Reue verdorben."

Freitag, 16. April 2004

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