Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Der Bauch entscheidet

Wie Appetit entsteht -und warum Ernährungsberatung versagt
Von Udo Pollmer

Warum essen wir, was wir essen? Warum scheitern die meisten Menschen, wenn sie beschließen, in Zukunft etwas "Gesünderes" zu verzehren? Und: Was zeichnet den Feinschmecker aus? Die übliche Antwort lautet: Wir essen das, was uns schmeckt, weil es uns schmeckt. Wäre es aber so einfach, wäre das Thema "bewusste Ernährung" längst gegessen. Es würde reichen, wenn die Lebensmittelindustrie nach den Vorgaben der Ernährungsexperten geschmacklich optimierte Gesundheitsprodukte entwickeln würde: fettarmen Schweinsbraten, luftige Vollkornbrötchen sowie Fruchtquark ohne Zuckerzusatz - und die Kunden blieben schlank und rank bis ins hohe Alter. Niemand müsste mehr Heißhunger auf blasse Pommes, fettige Bratwürste und klebrige Limonaden verspüren.

Doch das Verbraucherverhalten belehrt uns eines Besseren. Daran vermochte auch der Tatbestand nichts zu ändern, dass Produktentwickler und Marketingfachleute seit langem jedes neue Produkt so lange testen, bis es auch wirklich den Geschmacksnerv des Verbrauchers trifft. Da werden die Kaubewegungen gemessen, die Knuspergeräusche und Kiefervibrationen erfasst und der Speichelfluss optimiert. Doch allen Bemühungen zum Trotz verabschieden sich die meisten Neuerungen nach kurzer Zeit sang- und klanglos vom Markt. Wie zum Hohn verzehren die Kunden am liebsten traditionelle Gerichte, die noch nie in einem Sensoriklabor einer kritischen Prüfung unterzogen wurden.

Geschmack wird überbewertet

Zwar verzeichnen nicht wenige Produktideen bemerkenswerte Anfangserfolge. Doch meistens geht der Absatz nach einem halben Jahr unaufhaltsam zurück. Das hat weniger damit zu tun, dass der moderne Kunde ständig etwas Neues im Mund erleben will. Schließlich isst er Speisen, die ihm wirklich schmecken, mit Begeisterung ein Leben lang. Das gilt auch für die wenigen erfolgreichen Innovationen wie Cola, Pommes und Hamburger. Wenn die Mehrzahl der nach fachlichen Kriterien entwickelten Produkte auf dem Markt scheitert, so beweist dies im wissenschaftlichen Sinne nur eines: Wir überschätzen die Bedeutung von Geruch und Geschmack.

Dabei hat die Wissenschaft, bevor sie den kommerziellen Wünschen aufstrebender Sensoriklabors zuarbeitete, den sinnlich erfassbaren Eigenschaften zunächst eine viel geringere Bedeutung beigemessen als das Marketing. "Es wird ganz allgemein angenommen, dass Geschmack und Geruch wenig oder keinen Einfluss auf die langfristige quantitative Regulation der Aufnahme von Speisen und Getränken haben", fassen Teitelbaum und Epstein vom Institut für Psychologie und Zoologie der Universität Pennsylvania den Stand des Wissens von 1963 zusammen.

Das klingt provokant, lässt sich aber auch ohne Tierversuch beweisen. Nehmen wir als Beispiel Kaffee oder Bier. Der erste Konsum erfordert von den meisten Menschen Überwindung, weil beides bitter schmeckt. Angenommen, Kaffee und Bier wären bei uns unbekannt und sollten nun auf dem Markt platziert werden: Schon bei der allerersten Verkostung in der Versuchsküche würden sie von den Testern mit angewidertem Gesichtsausdruck in den Ausguss gekippt. Statt heißem Espresso käme nach umfangreicher Marktforschung und anspruchsvollen Sensoriktests vielleicht ein gekühlter Karameldrink in aktuellen Farben auf den Markt und an Stelle von herb-frischem Pils eine süßstoffhaltige Kräuterlimo.

Wenn schmackhafte Produkte regelmäßig scheitern, dafür aber solche mit einem gewissen Abscheufaktor von Erfolg gekrönt sein können, muss eben der Appetit anderen Regeln folgen als gemeinhin behauptet. Bei Tieren, denen keine Ernährungsberatung bei der Auswahl der Speisen zur Seite steht, lässt sich die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass er als Führer durch den Nahrungsdschungel dienen könnte. Beim Menschen hingegen gilt er als gefährlicher Verführer, dem Zügel anzulegen sind. Wie aber funktioniert der Appetit wirklich?

Aufschluss darüber geben einige Ergebnisse von Fütterungsversuchen. Nach Teitelbaum und Epstein halten Tiere die Zufuhr von Kalorien über auch bei weitreichenden diätetischen Manipulationen konstant. Dieser Korrekturmechanismus setzt erst dann aus, wenn Magen oder Niere überfordert werden. Wird der Nährstoffgehalt einer festen Nahrung mit Zellulose oder Kaolin bis zu 75 Prozent verdünnt, behalten die Tiere ihre Zufuhr in bemerkenswerter Weise bei, indem sie einfach mehr fressen. Fügt man einer flüssigen Nahrung Wasser hinzu, wird die normale Aufnahme bis zu einer Verdünnung der Nährstoffe auf zwei Prozent korrigiert. Dieser Mechanismus ist seit 1947 experimentell belegt. Folglich hätte man sich die Einführung von Lightprodukten sparen können. Die Hersteller socher Erzeugnisse mussten die bittere Erfahrung machen, dass die Anfangserfolge bei der Produkteinführung - was schließlich den Wünschen der Kunden entsprach - nach einiger Zeit dahinschmolzen. Offenbar bemerkt der Körper - und nicht der Gaumen oder das Bewusstsein - den Mangel und regt den Appetit dazu an, sich nach etwas Nahrhafterem umzusehen.

Selbst wenn der Geschmack der Nahrung manipuliert wird, scheint das die Nährstoffaufnahme nicht zu beeinflussen. Teitelbaum und Epstein: "Wenn man die Nahrung mit Traubenzucker süßt, bleibt die kalorische Regulation auf gleichem Niveau. Macht man das Futter bitter, indem man bis zu 1,25 Prozent Chinin-Hydrochlorid beimischt, funktioniert die Regulation der Futteraufnahme von Ratten weiterhin. Bei der Aufnahme von Wasser sieht das Bild ziemlich ähnlich aus . . . Die Tiere trinken Chinin-Lösungen so lange, bis diese akut giftig werden." Zudem findet ein steter Ausgleich statt: Ist die erste Mahlzeit kohlenhydrathaltig, bevorzugen die Tiere danach eher fett- oder eiweißreiches Futter und umgekehrt.

Die Regulation funktioniert sogar dann, wenn die Tiere weder riechen noch schmecken können. Bei verschiedenen Versuchen wurden Geschmacks- und Geruchsnerven chirurgisch durchtrennt. Dennoch waren die Tiere in der Lage, ihre Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme weiterhin zu korrigieren. Es muss sich daher um eine endogene Regulation handeln, die nicht über die bekannten Sinne, sondern unwillkürlich über den Verdauungstrakt vermittelt wird. Diese andere Form der Wahrnehmung ist, anders als der Geschmackssinn, nicht bewusst, wird aber dennoch in ein Appetit- oder Sättigungsgefühl umgesetzt.

Schuldgefühl durch Esssünden

Verfügt der Mensch überhaupt noch über diesen Instinkt? Ist der nicht im Laufe der Zivilisation verloren gegangen oder zumindest durch die Aktivitäten der modernen Lebensmittelindustrie geschädigt? Die Aufnahme von Nahrung ist entwicklungsgeschichtlich so alt wie die sexuelle Fortpflanzung. So wie die rigide Sexualmoral der Kirchen die Christenheit nicht aussterben ließ, wird die Menschheit auch ihren Appetit weder durch Catering noch durch Ernährungsberatung "verlernen". Zwar kann beides durch Schuldgefühle, Ängste und verquere Vorstellungen von Sünde - heute namentlich Esssünden - gestört werden. Dies nimmt zahlreichen Individuen zwar die Lebensfreude, beseitigt jedoch nicht deren angeborene Triebe.

Beim Menschen konnte die Existenz der beschriebenen Regulation anhand einer fettarmen Ernährung experimentell bestätigt werden. Dazu zog man Kinder einer Ganztageseinrichtung heran und teilte sie in zwei Gruppen ein. Während eine mit "normalen" Mahlzeiten versorgt wurde, servierte man der anderen stillschweigend ein identisches Gericht mit Fettersatzstoffen. Da die verzehrten Mengen erfasst wurden, war es möglich, die tatsächlich aufgenommenen Kalorien exakt zu bestimmen. Es zeigte sich, dass der Mangel an Fett bereits wenige Stunden nach dem ersten manipulierten Frühstück eine Gegenreaktion auslöste: Der Appetit wurde beim zweiten Frühstück endogen korrigiert und nach zwei Tagen hatten die Kinder alle fehlenden Kalorien durch Mehrverzehr wieder zu sich genommen.

Mit dieser Erkenntnis lassen sich bisher rätselhafte Verhaltensweisen des Verbrauchers erklären. So kann man in Deutschland und Österreich zwar Kindern problemlos Fruchtspeise- oder "Wassereis" verkaufen, inzwischen aber nicht mehr Erwachsenen. Letztere konsumieren seit einigen Jahren fast ausschließlich Milchspeiseeis mit hohem Fettgehalt. Denn wenn sich der ernährungsbewusste erwachsene Verbraucher ein Eis gönnt, wenn er "sündigt", dann gleicht er nebenbei sein latentes Fettdefizit mittels Eiscreme aus. Erst dann ist er zufrieden - und die liebe Seele hat wieder ihre Ruhe. Kinder hingegen decken ihren Fettbedarf ohne schlechtes Gewissen durch andere Mahlzeiten und akzeptieren auch ein Wassereis, das nur bunt und süß ist.

Einen ähnlichen Mechanismus lässt die Erfolgsstory des Gyros vermuten, das den Hamburger verdrängt. Während in den Herkunftsländern einst mageres Fleisch für Gyros verwendet wurde, setzt man hier zu Lande auf Schweinebauch. Je mehr Menschen sich im Alltag "bewusst fettarm" ernähren, desto mehr büßt der Hamburger an Attraktivität ein. Gyros unterscheidet sich in seiner Zusammensetzung von einem Hamburger vor allem durch seinen höheren Fettgehalt. Ähnliches gilt für Pommes. Seitdem sie von der Industrie so bearbeitet werden, dass sie weniger Fett aufnehmen, und der Fettgehalt zusätzlich durch Abschleudern gesenkt wurde, isst man sie mit Mayonnaise. Wundert es dann noch, wenn gastronomische Konzepte, in denen fettarme Geflügelgerichte mit knackigen Salaten kombiniert werden, nach bemerkenswerten Anfangserfolgen ein halbes Jahr später kläglich scheitern?

Die Diskrepanz zwischen den Wünschen von Kopf und Bauch nimmt immer groteskere Formen an. Je mehr sich der Gast bei Befragungen durch Marketingfachleute leichte sommerliche Salate mit italienischem Dressing wünscht, desto begieriger verzehrt er in der Kantine fetttriefende Currywurst. Je mehr das Angebot seinen verstandesgelenkten Wünschen entspricht, desto schlechter bewertet er das daraufhin angebotene Essen. Der Kopf antwortet im Sinne des Zeitgeistes, des Selbstbildes eines aufgeklärten und souveränen Zeitgenossen, der seinen Körper zügelt und ihn auf dem Weg der Tugend und des Erfolges geleitet. Doch sobald das Essen aufgetischt wird, übernimmt der Verdauungstrakt das Kommando.

Natürlich lässt sich das Kommando auch austricksen - aber meistens nur für kurze Zeit. Hannelore Daniel, Ernährungsphysiologin an der Technischen Universität München, hat tierexperimentelle Studien durchgeführt, bei denen Tiere an Nährstoffmangel litten. Die schränkten daraufhin ihre Futteraufnahme ein. Daniel: "Man kann sie aber dadurch überlisten, dass man ihnen einen Aromastoff anbietet. Wenn dieselbe Mangeldiät plötzlich nach Vanille schmeckt, fangen die Tiere wieder an zu fressen. Nach drei Tagen hören sie zwar wieder auf, wenn man dann aber einen anderen Aromastoff nimmt, fangen sie wieder an."

Kopf gegen Körper

Dieser Effekt wird derzeit von Herstellern der Lightprodukte genutzt. Die kurzen Lebenszyklen kalorienarmer Milchprodukte lassen sich nur durch eine breite Angebotspalette verlängern. Immer dann, wenn sich der Körper von einem Artikel abwendet, findet "der Kopf" im Regal ein neues, das seinen rationalen Wünschen entspricht. Die Gefahr geht damit weniger vom Körper als vom Kopf aus, der versucht, das fachlich korrekte Urteil seines Bauches in seinem Sinne zurechtzurücken. Der Appetit wird folglich nicht durch Pommes und Hamburger gestört, sondern durch die vermeintliche "Vernunft".

Dass die beschriebene Regulation nicht nur für Fett oder Kohlenhydrate zutrifft, beweist die verlässliche Versorgung des Körpers mit Spurenelementen und Vitaminen. Diese sind beim besten Willen meist nicht zu schmecken oder zu riechen. Aber selbst hier verfügt der Organismus über eine Steuerung, wie zahlreiche Tierexperimente gezeigt haben. Die amerikanische Kinderärztin Clara Davis konnte diese Mechanismen auch an Säuglingen nachweisen, die nach dem Abstillen eine breite Palette von rohen sowie gekochten Lebensmitteln zur freien Auswahl angeboten bekamen. Sie ernährten sich Monate, ja bis zu einem Jahr lang optimal und gediehen besser als Kinder, die nach den Maßstäben des Fachpersonals in derselben Klinik aufgezogenwurden. Dafür spricht insbesondere der Fall eines rachitischen Jungen, der aus freien Stücken regelmäßig Lebertran trank, zumindest bis sein Mangelzustand behoben war. Natürlich entsprachen die Versuchsbedingungen nicht unbedingt den Realitäten in einem Haushalt, vor allem hatten die Kinder keinerlei Zugang zu Süßwaren oder typischen Kinderlebensmitteln, dennoch geben sie einen deutlichen Hinweis auf eine angeborene Regulation.

Offenbar sind Lebewesen nicht nur in der Lage, den eigenen Bedarf "richtig" einzuschätzen, sondern auch den ihres Nachwuchses. Dies führen uns jene Ringeltauben vor Augen, die in den Wäldern des amerikanischen Nordwestens leben. Die Männchen trinken jeden Sommer zur selben Zeit von besonderen mineralreichen Quellen. Dann fliegen sie zu ihren Nestern zurück und tränken damit die Weibchen. Inzwischen ist das Geheimnis gelüftet: Tauben bilden eine kalziumreiche quarkartige Substanz, die so genannte Taubenmilch, um damit ihre Jungen zu füttern. Gewöhnlich picken sie Sämereien und Nüsse, aber in der fraglichen Region finden sie fast nur kalziumarme Beeren vor. Indem sie gezielt Kalziumquellen aufsuchen, versorgen die Täuberiche ihre Brut mit Mineralstoffen.

Küche und Kultur

Nun unterscheidet sich unser Verdauungstrakt - der wie gesagt den Appetit entscheidend bestimmt - deutlich von dem unserer Vorfahren und dem unserer nächsten Verwandtschaft. Im Vergleich zu den Menschenaffen hat er sich erheblich zurückentwickelt, unser Kaugerät ist zierlicher, der Darm kürzer. Das ist die Folge

der küchentechnischen Zubereitung unserer Nahrung. Fermentation und Feuer erweiterten nicht nur den Speisezettel. Sie machten die Nahrung leichter verdaulich und verminderten den Gehalt an Abwehrstoffen, Krankheitskeimen und Parasiten. Man denke nur an Getreide, Kartoffeln oder Bohnen, die nicht roh verzehrt werden

sollten.

Die Küche markiert einen Wendepunkt in der Evolution des

Menschen. Die Nahrungsaufnahme

beschränkt sich seither auf wenige Stunden, Magen und Darm wurden entlastet. So gewann die Menschheit Zeit für andere, zum Beispiel schöpferische Tätigkeiten. Ohne Küche gäbe es keine kulturelle Evolution. Ihre Bedeutung ist

der Erfindung der Schrift vergleichbar.

Die Behandlung von Lebensmitteln, um deren Gehalt an Abwehrstoffen zu vermindern, ist nicht auf den Menschen beschränkt. Auch Tiere verarbeiten manchmal ihre Nahrung. Biber lassen Äste im Wasser weichen, um Tannine abzubauen. Vögel, wie etwa der Würger, spießen giftige Insekten auf Dornen oder Stacheldraht so auf, dass sich deren Abwehrsekrete durch Luftzutritt oder durch enzymatische Fermentation zersetzen. Blattschneider-Ameisen fermentieren ihr pflanzliches Material in großen Pilzgärten mit speziellen Kulturen, die sie hegen und pflegen. Papageien wiederum praktizieren Geophagie: Sie fressen gezielt eine bestimmte Art von Erde - nicht etwa um Mineralstoffmangel auszugleichen, sondern um damit Giftstoffe wie Alkaloide in ihrer Nahrung zu binden. Gleiches ist bei Affen zu beobachten. Pica, wie die Geophagie beim Menschen genannt wird, ist bei vielen Naturgesellschaften verbreitet, um toxische Pflanzennahrung wie alkaloidhaltige Kartoffeln schadlos verzehren zu können.

Wenn uns die Erzeugnisse der Küche besser schmecken als die unveränderten Produkte aus der Natur, spiegelt das den optimierten Nährwert und die Minimierung von Gefahren wider. Weißbrot schmeckt nicht deshalb besser, weil es "ungesund", sondern weil es bekömmlicher ist als Vollkornbrot. Dabei wendet der Körper womöglich andere Qualitätskriterien an, als der Ernährungswissenschaft lieb sein mag. Wie präzise diese Rückkopplung funktioniert, ersehen wir daran, dass uns genau diejenigen Speisen am besten schmecken, die eine optimale Kombination darstellen. Viele Rezepte dienen nicht nur der Ergänzung von Nährstoffen, wie etwa im Falle der optimalen Eiweißkombination durch Kartoffelbrei mit Spiegelei oder Mais mit Bohnen, sondern vor allem der Entgiftung. Dazu gehört das Marinieren von Fleisch ebenso wie das Glas Bier zum Braten, der Senf zur Grillwurst oder der Salbei beim Saltimbocca. Entgiftet werden dabei diverse krebserregende Substanzen wie etwa heterozyklische Amine. Leider fehlen bis heute systematische Untersuchungen derartiger Wirkungen.

Allein die Stabilität von Rezepturen und Ernährungsweisen über lange Zeiträume hinweg - unbeeindruckt von wirtschaftlichen Entwicklungen, Kriegen und ideologischen Veränderungen - weisen auf einen biologischen Mechanismus hin. Die Speisekarten, die vor 80 Jahren in Münchner oder Wiener Lokalen auslagen, unterscheiden sich von den aktuellen überraschend wenig. Die einzigen Unterschiede: Früher existierte ein größeres Angebot an Geflügel. Da es noch keine Massentierhaltung von Hühnern und Puten gab, hielten die Landwirte allerlei unterschiedliches Federvieh. Daneben spielten zu dieser Zeit internationale Gerichte wie Pizza, Paella oder Nasi Goreng noch keine Rolle.

Warum aber sind Nationalgerichte so erfolgreich und weshalb isst der Gast heute mit Begeisterung Ethnofood? Liegt es daran, dass die Menschen vermehrt reisen und sich dabei an anderer Leute Küche gewöhnen? Wohl kaum, hatten doch die China-Restaurants schon großen Zulauf, lange bevor wir das Reich der Mitte bereisen konnten. Der Erfolg der ausländischen Gastronomie hat wahrscheinlich andere Gründe. Zunächst handelt es sich bei den so genannten Nationalgerichten um besondere Zubereitungsformen zahlreicher Rezepturbestandteile, die sich in diesen Kombinationen in Millionen von Mägen bewährt haben. In der "gutbürgerlichen Küche" unserer Wirtshäuser wird immer weniger selbst gekocht; stattdessen werden häufig Fertiggerichte im Mikrowellenherd aufgewärmt. Ihre Rezepturen unterscheiden sich aus Kostengründen erheblich von den Vorbildern. Damit sie so schmecken wie das Original, ist eine andere Herstellung erforderlich als in der Küche. Das aber bedeutet bei gleichem Geschmack eine andere physiologische Wirkung.

Demgegenüber ist die ausländische Gastronomie im Vorteil, weil sie durch billigere Familienarbeitskräfte mehr Gerichte frisch zubereiten kann. Wer heute einen echten Hefeteig mit Vorteig speisen will, findet ihn nur noch in seltenen Fällen beim Bäcker, dafür aber relativ häufig in der Pizzeria. Was ordnungsgemäß zubereitet wurde, ist meistens auch bekömmlich.

Für Caterer bedeutet die "Bauchkontrolle" Tag für Tag eine neue Herausforderung. Die Erfahrungen aus den Kantinen sind eindeutig: Zu Beginn schmecken die Gerichte des neuen Lieferanten lecker, sodass neun von zehn Mitarbeitern dessen Angebot nutzen. Aber schon nach wenigen Wochen greift ein Teil der Belegschaft auf selbstbelegte Brote zurück und allmählich sinkt die Akzeptanz auf etwa 40 Prozent - genau der gleiche Effekt, wie er von Lightprodukten oder Vollkorngebäck bekannt ist. Obwohl der Geschmack passte, bekam der Körper nicht genau das, was er sich versprach. Die Caterer versuchen dem zu begegnen, indem sie immer neue Köche einsetzen, damit es immer etwas anders schmeckt. Oder sie beliefern Kunden nur eine gewisse Zeit und übergeben sie dann einem anderen Lieferanten.

Probleme für die Caterer

Das bedeutet keinesfalls, dass es nicht möglich ist, Gerichte zentral zu kochen und zu verteilen. Dazu aber sind detaillierte Kenntnisse der physiologischen Wirkungen von Rezeptur und Verfahrenstechnik notwendig. So lassen sich Bohnen- oder Kohlgerichte problemlos vorkochen. Aber Kartoffeln sollten immer frisch gegart werden. Tiefkühlung bedeutet, dass sich resistente Stärke bildet, die bei manchen Essern zu Blähungen führt. Übrigens leiden auch die Caterer unter den Misserfolgen durch neue Produktideen. Vor allem dann, wenn sie leichtfertig die Ergebnisse von Kundenbefragungen als Maßstab nehmen. Letztlich leben die meisten Unternehmen von ein paar wenigen, traditionellen Gerichten, die regelmäßig gegessen werden und für den erforderlichen Umsatz sorgen. Zumindest so lange sie nicht auf "gesund" getrimmt wurden. Wer die Mägen seiner Kundschaft mit ständig neuen fettarmen Produkten verunsichert, darf sich über mangelnde Kundentreue nicht wundern.

Was für Kantinen und Imbissstände gilt, trifft auch auf Gourmet-Tempel zu. Viele Spitzenköche glauben, sie müssten ihre Gäste mit immer neuen Kreationen à la "Regenwurmsülze an Kresseschaum" verwöhnen. Praktisch nichts von alledem geht in die Annalen der Feinschmeckerei ein. Dafür geht die Kundschaft gar nicht so selten anschließend zum Bratkartoffelessen, um etwas "Anständiges" im Magen zu haben. Nicht die fettarme Gesundheitsküche ist gefragt, sondern Köche, die mit der gusseisernen Pfanne umgehen können, ohne dass das Ergebnis von Fett trieft.

Die Biologie belohnt Triebbefriedigung mit Genuss und Lebensfreude. Je besser die biologische Vorgabe erfüllt wird, desto größer die Befriedigung - eine Tatsache, die das Wesen der Feinschmeckerei und der Genussmittel ausmacht. Aber welche Triebe befriedigt das Luxusrestaurant im Vergleich zu einer simplen Gulaschsuppe im Eckbeisl? Warum schmecken Zucker, Kaffee, Cola oder Schokolade so gut? Etwa weil sie wertvolle Nährstoffe bieten?

Wohl kaum. Wir konsumieren Genussmittel, weil sie psychotrope Substanzen beinhalten. Warum gaben die Europäer mindestens tausend Jahre lang mehr Geld für ernährungsphysiologisch wertlose Gewürze aus dem fernen Morgenland aus als für nährstoffreiches Essen? Mehreren historischen Quellen zufolge soll beispielsweise der sensorisch langweilige, aber sündhaft teure Safran genauso wirken wie Opium. Warum wurde Cola zu einem Welterfolg? Weil es neben den Inhaltsstoffen Zucker und Koffein auch Myristicin enthält, das in der Leber in ein Amphetamin umgewandelt wird. Letzteres ist chemisch fast identisch mit Ecstasy. Überspitzt gesagt: Würde Cola nach Kamelmist schmecken, hätte es immer noch das Zeug zum Welterfolg und alle Experten würden seinen Erfindern bestätigen, sie hätten den Geschmack des Verbrauchers getroffen.

Psychotrope Substanzen sind nicht nur im Kaffee oder in der Schokolade, sondern auch in vielen anderen, unverdächtigen Lebensmitteln enthalten. Etwa jede zehnte Frau kann bei einer Diät nicht auf Topfen verzichten, was auf eine Abhängigkeit von Caseinomorphin hindeutet. Andere entwickeln Heißhunger auf Weißbrotkrusten, Braten oder Chips, in denen opiat-wirksame Substanzen zu vermuten sind. Eine vorzügliche Mahlzeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie ein leichtes, unbeschwertes Gefühl hervorruft. Auch wenn man reichlich gespeist hat, stellt sich ein Gefühl der Zufriedenheit, der Entspanntheit und der Leichtigkeit ein. Dies weist auf Opiate hin. Nein, es ist nicht der abstrakte Gaumenkitzel, den der Körper braucht, sondern die Befriedigung, die jene Speisen auf physiologischem Wege hervorrufen, die uns so gut schmecken.

Entscheidend für einen zuverlässigen Appetit ist das Training von Gaumen und Stoffwechsel. Das Lernen beginnt bereits im Mutterleib. Während das Fruchtwasser Geschmacksstoffe aus der Nahrung aufnimmt, liefert das mütterliche Blut die Nährstoffe aus der Nahrung und "informiert" mittels hormoneller Signale über die Wirkungen. Später transportiert die Muttermilch einen Teil der sensorischen Botschaften der vorher verzehrten Speisen. Nach dem Stillen übt der Geschmack der ersten Nahrungsmittel eine prägende Wirkung aus. Der Körper des Kleinkindes widmet sich intensiv den Wirkungen der neu probierten Speisen. Dadurch kann der Stoffwechsel prüfen, welche Substanzen in der Nahrung enthalten sind, um angesichts von Verfügbarkeit und Veranlagung den Stoffwechsel optimal einzustellen. Ist das Programm auf der "Festplatte" des Stoffwechsels einmal installiert, bleibt es für den Rest des Lebens unverändert.

Von Volk zu Volk verschieden

Das ist auch der mutmaßliche Grund dafür, weshalb sich die Ernährungspräferenzen von Kultur zu Kultur unterscheiden. Jedem Volk schmeckt etwas anderes und jeder Mensch hat seine persönlichen Vorlieben. Die Kultur gibt den Rahmen vor und die sozialen Interaktionen stellen sicher, dass die meisten Mitglieder einer Gesellschaft in ihrer Kindheit die verfügbaren Speisen probieren können. Dabei entscheiden weder die Erziehung noch das Vorbild der Eltern darüber, welche Vorlieben ein Mensch entwickelt. Dahinter steckt weder Protest noch Ablehnung, sondern wiederum die Physiologie.

Jeder Mensch ist dank seiner Polymorphismen - insbesondere der unterschiedlichen Ausstattung mit Enzymen in der Leber zwecks Entgiftung von Abwehrstoffen - zu anderen Stoffwechselleistungen befähigt. Der eine verträgt keinen Rotwein, der andere keinen Weißen; der eine mag keinen Kohl, der andere keine Erbsen. Aufgrund dieser Unterschiede ist aus evolutionsbiologischer Sicht ein System notwendig, das es jedem Individuum ermöglicht, die optimalen Speisen für sich herauszufinden und in seiner Geruchs- und Geschmacksdatei abzuspeichern. Es sind jedoch weder Geruch noch Geschmack, die Gerichte zu Lieblingsspeisen machen, sondern die Wirkung auf den Körper des einzelnen Menschen.

Unser Appetit ist ein uralter Trieb. Von ihm zu fordern, er möge in Zukunft statt einer Tasse Kaffee Appetit auf ein Glas Buttermilch entwickeln, wird kaum Wirkung zeigen. Der Versuch, das biologische Ziel eines lebenswichtigen Triebes durch "Aufklärung", "Beratung" oder "Wollen" umzupolen, ist prinzipiell zum Scheitern verurteilt, gleichgültig wie "sinnvoll" das Ziel und wie "logisch" die Methode auf den ersten Blick erscheinen mag.

Udo Pollmer ist Lebensmittelchemiker, Autor (u. a. "Prost, Mahlzeit", "Lexikon der Ernährungsirrtümer", zuletzt gemeinsam mit

S. Warmuth und G. Frank: "Lexikon der Fitnessirrtümer") und Mitbegründer des Europäischen Institutes für Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften (EU.L.E.), dessen Informationsdienst "EU.L.E.N-Spiegel" (Nr. 3/2003) dieser Text auszugsweise entnommen wurde.

Freitag, 14. November 2003

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon



Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum