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Wolken von Wohlbehagen

Das Kochbuch -ein Spiegel der Zeit
Von Ingeborg Waldinger

Wenn man eine glühende Zange oder Schaufel auf den Rücken der Schildkröte gelegt hat, treten die Füße und der Kopf derselben heraus, worauf man dieselben schnell abhackt."

Das "tierfreundliche Kochbuch" war noch nicht auf dem Markt, die Lust auf "Schildkröten in Buttersauce/Tortue sauce au beurre" ein Signal der Distinktion. Man schrieb das Jahr 1899, als Lotti Richters erfolgreicher Seller "Mein Kochbuch" erstmals erschien. Das umfangreiche Werk sollte die bürgerliche Hausherrin befähigen, "Wirt und Gäste in eine Wolke von Wohlbehagen und Vergnügtheit zu hüllen". Nicht nur Männer haben die traditionelle Rolle der Frau festgeschrieben. Anleitungen für den "jour" der Hausdame fehlten im Kochbuch ebenso wenig wie die Gebote der Tisch- und Tagesordnung: "Den Speisezettel soll die Hausfrau tags vorher mit ihrer Köchin machen, auch ist Pünktlichkeit im Kochen sowie demgemäß das Einhalten der bestimmten Speisestunden entschieden von Einfluß auf die Ordnung im Haushalte sowie auf die Gesundheit der Beteiligten." Geradezu leitmotivisch durchzieht der Begriff "Ordnung" das Kochbuch. Im Sittenkodex des ausgehenden bürgerlichen Jahrhunderts rangiert er an vorderster Stelle.

Kochbücher erweisen sich als aufschlussreiche Dokumente der "kleinen Geschichte". Um die Rezepte spannt sich ein Metatext. Er gibt Auskunft über den Zivilisationsgrad einer Gesellschaft. Kochen ist Kulturausübung, mochte dies Platon auch anders gesehen haben.

Die bürgerliche Hausfrau

Lotti Richter, Tochter eines erzbischöflichen Güterdirektors, betont ihre Vorliebe für den "häuslichen Wirkungskreis." Damit entsprach sie der Konvention. Die bürgerliche Hausfrau managte Familie, Dienstboten und Haushalt. Die Abläufe folgten einem exakten Zeitplan. Der regelmäßige Tagesablauf machte das Zuhause zum Ruhepol im unsicheren Weltenlauf. Das Leben war überschaubar, berechenbar bis ins Detail. Richters Menüvorschau für ein ganzes Jahr passte in diese Konzeption.

Die Autorin spricht Klartext: solch Speisenkalender habe nur Wert für den wohlhabenden Mittelstand. Der weniger gut situierte Bürger müsse sich primär nach seiner Börse richten; die oberen Zehntausend wiederum fügten sich in kulinarischen Belangen lieber dem Regiment ihres Haushofmeisters oder Küchenchefs. Womit wir bei einem wohlbekannten Schisma angelangt wären: "haute cuisine" ist Männersache. Schon in der griechischen Antike sollten sich Frauen mit der Alltagsküche bescheiden, während Männer das Exklusivrecht auf Fleischzubereitung genossen. Der "mágheiros" verkörperte Opferpriester und Koch in einem, sein Wirken hatte kultischen Status.

Richters Kochbuch bringt gar die Kategorien Nährwert und Verdaulichkeit ins Spiel. Nach heutiger Lesart ein eher verbaler Ansatz, wie das nachstehende Beispiel zeigt. Doch der Grad des Wohlstandes bemaß sich seinerzeit auch am kräftigen Fleisch- und Fettkonsum. Ganz ordentlich fällt der Menüvorschlag für einen beliebigen Montag in den Iden des März aus. Für mittags Suppe mit Kuchentaferln, Römische Pastetchen, gebackene Rostbraten mit grünem Fisolensalat, gestoßenes Reiskoch. Abends: Gedünstete Tauben mit Rahmnockerln und Dessert. Stimmig auch die Weinempfehlungen. Kommen nicht gerade Champagner, ein Château d'Yquem, Château Lafite oder Chablis auf den Tisch, gilt folgende Regel: "Tischwein, und zwar Bordeaux, auch Rheinwein oder Moselwein wird in Karaffen serviert."

Hundert Jahre später verzeichnen Kochbücher einen geradezu historischen Boom. Ob Anfänger oder erfahrener Gourmet, der heutige Rezeptsammler ist genussorientiert, ernährungs- und ökobewusst, an internationaler Küche und buntem Nahrungsmittelangebot interessiert. Culinaria gehören zum Small Talk, erweisen sich als mediale Quotenhits. Schier unüberschaubar ist die Palette an einschlägiger Literatur.

Suche nach Anleitung

Kochen Sie wie die alten Römer, Hildegard von Bingen oder - sicher ist sicher - wie Bocuse und Plachutta; kochen Sie mit der Maus, mit DJ Ötzi oder Produkten einer bestimmten Handelsmarke; beachten Sie die Mondphase, Blutgruppe oder fernöstliche Gleichgewichtsphilosophie; machen Sie sich mit zwei linken Händen oder frivolen Absichten an die Arbeit; schlemmen Sie wie Alexandre Dumas, Verdi, Goethe oder die "Creme der deutschen Kabarettszene". Die fiebrige Suche nach originellen Kochanleitungen spart den literarischen Kanon nicht aus. Gott verrät Moses ein Backrezept für das Speiseopfer - lies nach in der Bibel; Jonathan Swift weiß, wie irische Armenkinder zu schmackhaften Ragouts verarbeitet werden - Näheres in seiner Satire "A modest proposal"; Joseph Roth kürt den Tafelspitz zur Seelennahrung des alten Herrn von Trotta und verleiht dem Gericht so die höheren Weihen des Habsburger Mythos ("Radetzkymarsch").

Kochbuchverlage reagieren natürlich auch auf die veränderten Rollenbilder und Familienstrukturen der westlichen Industriegesellschaft. Männer proben den Küchenalltag, Frauen den Hexenmix, Singles die große Party. Die heutige Durchschnittsküche weist hohe technische Standards auf, aber schwache Frequenz. Das allgemeine "Zeitbudget" für Kochen und Essen schmilzt dahin; Fastfood, Betriebs- und Schulküchen gleichen das Defizit provisorisch aus. Eine Kluft zwischen kulinarisch-sozialen Bedürfnissen, technischen Möglichkeiten und gelebtem Alltag tut sich auf. Kommt endlich eine Tischgesellschaft zustande, will nichts dem Zufall überlassen sein. Idealerweise hat man Ratgeber wie "Die schnellen Gäste" zur Hand. Verfasserin Heidi Fronek lehrt nicht die List des Hinauskomplimentierens, sondern die Kunst des Improvisierens. Auch Klaus Bernarth befreit mit seinem "Chaoten-Kochbuch" aus gastronomischen Verlegenheiten. Das Coverfoto zeigt, in kinematischer Unschärfe, einen von Edelstahltöpfen umzingelten Mann, der diffus am Herd agiert. Darunter steht zu lesen: "Angeben und Blenden was das Zeug hält. Perfekte kulinarische Inszenierungen." Das Leben, eine Bühne. Die Revolution kommt auch diesmal nicht aus dem Kochtopf.

Sinnliche Gerichte

Markige Titel kratzen am traditionellen Image der Köche. Für Gisela Krahl soll das Essen "Frech auf den Tisch", besonders - so der angestrengt dreiste Untertitel - "wenn die Schlampe feiert". Über Geschmack lässt sich streiten, doch eines steht fest: die Erotisierung der Küchensphäre schreitet voran. "Das erotische Kochbuch" mixt schwüle Weltliteratur mit Rezepten für sinnliche Gerichte. Meisterkoch Alfons Schuhbeck lehrt im Buch "Liebesmenü" alchimistische Tricks für "ein anregendes kulinarisches Vorspiel". TV-"Naked Chef" Jamie Oliver indes hält nicht, was der Titel verspricht: der Shootingstar der jungen britischen Kochszene steht keineswegs nackt vor der Kamera, sondern bereitet "einfache" Gerichte ein bisschen cooler zu. Dabei erzählt er zahme Non-Food-Stories oder mimt beim Zwischendurch-Einkauf den lieben Jungen von nebenan.

Es tut sich viel an der Oberfläche. Die Neuen Wilden der Kochszene tragen legere Straßenkleidung; viele Rezepte sind elastisch gestaltet und suggerieren individuelle Freiheit. Das altruistische Hausfrauenprinzip, durch gute Mahlzeiten eine Atmosphäre des Wohlbehagens zu schaffen, wird umgemünzt: machen Sie einen Party-Braten und kommen Sie damit "ganz groß raus", schlägt Küchenlegende Oetker vor.

Die neuen Koch- und Benimmregeln tragen zeitgemäße Sprachmasken. Schemata wie "Dekorationsideen", "Organisationstipps" oder "Extra-Service" klingen nach Dienstleistung und Eventmanagement. Autoritäres Küchenlatein ist out, selbst das noble Gourmet-Französisch verliert an Stellenwert. Die Terminologie der neuen "Ess-Klasse" (Buchtitel) orientiert sich an der lingua franca der Moderne - dem Englischen. Food lautet der modische Leitbegriff. Finger-Food heißt man das Häppchen, Fusion-Food den euroasiatischen Mix. Low Fat und Fatburner mahnen die ideale Figur ein. Generell soll alles trendy und easy gehen. Das ultimativ unkomplizierte Kochbuch "Just cook it" hilft dem Banausen mit lehrreichen "Step-by-step-Bildern".

Experimentell, kreativ, ethno und retro darf heutige Küche sein. Panch Phodoner Kaddu muss man nicht aussprechen, aber zubereiten können - am besten nach der Anleitung aus "Stylish India". Stehen Kochlust und Geldbeutel in ungünstiger Relation zueinander, ist ebenfalls vorgesorgt. Die "Aldidente"-Serie eines deutschen "Kult-Discounters"(!) weist den preiswerten Weg zu 5-vor-12-Gerichten, Diät oder vegetarischen Gaumenfreuden.

Kochen als Lebenshilfe

Kochbücher dringen zunehmend in den Bereich Lebenshilfe vor. Hiebei verschmelzen zeitgeistige Pseudophilosophie, Wellnessdoktrin und Esoterik zum schicken "Soul-Food".

Essen beeinflusst die Stimmung. Kochen auch, predigt Jane Eldershaw in ihrem Buch "Mood-Food". Sie lotst die Frau von heute mit dem Therapie-Trick in die Küche: "Um sich gut zu fühlen, müssen Sie sowohl Ihre Gedanken als auch Ihr Essen kontrollieren . . . Die erwachsene Variante des Spielens mit Essen ist das Kochen . . . Kochen beruhigt - allein schon durch die vorgeschriebene Ordnung des Rezepts. Es gibt die einzuhaltende Reihenfolge der Kochanleitung, das immer gleiche und daher beruhigende Putzen, Würfeln, Hacken und Abwiegen, das rhythmische Rühren. Das Zen der Nahrungszubereitung kann Sie in einen meditationsähnlichen Zustand versetzen, der Ihnen hilft, Ihre Mitte zu finden."

Na bitte. Positiv Denken lautet die Devise -, dazu backen Sie ein Blech "Machen-Sie-Ihr-Glück-Kekse", mogeln nette Orakelsprüche in den Teig, und schon scheinen "Ihre Ziele . . . real und machbar." Guten Appetit!

Freitag, 25. April 2003

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