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Suche nach dem dritten Weg

Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich über Neoliberalismus, Globalisierung und den Weg zu einer guten Gesellschaft
Von Urs Fitze

Der Schweizer Wirtschaftsethiker Peter Ulrich plädiert abseits von europäischem Sozialabbau und us-amerikanischem Neoliberalismus für einen dritten Weg zur "guten Gesellschaft": nämlich für eine freiheitliche Gesellschaft mit freien Bürgern.

Wiener Zeitung: Was hat Ethik mit Wirtschaft zu tun?

Peter Ulrich: Eine ganze Menge, wenn Sie etwa an die klassische politische Ökonomie eines Adam Smith denken. Ihm ging es primär um die Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft. Doch leider ist das heute weitgehend vergessen. Die moderne Ökonomie interessiert sich nur noch für die reine Systemlogik der Marktwirtschaft. Dabei geht es lediglich um effizientes Wirtschaften, während alle anderen Gesichtspunkte einfach unter den Tisch fallen. Wirtschaftsethik hat deshalb eine kompensatorische Aufgabe. Sie spricht auch über jene Aspekte der Wirtschaft, zu denen die Mainstream-Ökonomie nichts mehr zu sagen hat.

Zum Beispiel?

Die Folgen der Rationalisierung. Wir alle spüren den Stress und den Leistungsdruck. Das hat unangenehme Folgen für das persönliche Wohlbefinden. Doch am schlimmsten sind jene dran, die dieser Hektik nicht mehr gewachsen sind. Die Gesellschaft spaltet sich in Gewinner und Verlierer. Da geht es um viel mehr als Effizienz, nämlich um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben möchten.

Wo macht sich dieses Effizienzdenken bemerkbar?

Nehmen wir z.B. die Börse als Teil der Finanzmärkte. Sie entspricht fast dem Idealfall eines freien Marktes. Sie ist weltumspannend, technisch vernetzt und just in time, und es geht ausschließlich um effiziente Kapitalverwertung. An der Börse hat sich durch den Boom der 1990er-Jahre dieser Gesichtspunkt zum einzigen verabsolutiert, der im marktwirtschaftlichen System auf Kapitalbasis gelten soll. Das ging auffallend parallel mit der fundamentalistischen Verherrlichung eines politischen Generalrezeptes: Markt ist gut - Staat ist schlecht. Die Börse wurde so zum Leitstern dessen, was die Journalisten "Neoliberalismus" genannt haben.

Seit drei Jahren geht es mit der Börse nur noch bergab. Ist damit der Neoliberalismus gescheitert?

Ja, vor allem ideologisch. Denn letztlich ging es wie bei jeder Ideologie immer darum, Einzelinteressen unter dem Deckmantel des Gemeinwohls durchzusetzen. Die Leute sind über den Tisch gezogen worden. Wir haben gerade eine Studie zum Thema Bankenethik abgeschlossen. Die Recherchen haben gezeigt, dass in gewissen Banken während des Börsenbooms mit Methoden gerarbeitet worden ist, die nicht nur unverantwortlich, sondern zum Teil auch kriminell waren. Die Ideologie des Neoliberalismus hat, dies zeigt das Beispiel der Banken deutlich, zu einer moralischen Enthemmung geführt. Wirtschaftsethik ist deshalb auch immer Ideologiekritik. Sie möchte uns als mündige Bürger befähigen, die Tricks der Ideologen zu durchschauen.

Manche Neoliberale sind aber doch mit dem expliziten Anspruch angetreten, einen Kapitalismus fürs Volk zu schaffen, von dem alle etwas haben sollten.

Die neoliberale Doktrin beruht ja geradezu auf einer marktmetaphysischen Gemeinwohlfiktion. In Wahrheit macht sie aus der "Volkswirtschaft" aber zunehmend eine Wirtschaft ohne Volk. Da wird suggeriert, es gebe nur den Homo Ökonomicus, dem es nur darum geht, seine Ressourcen so effizient wie möglich zu verwerten. Dass diese grenzenlose Marktlogik nicht nur Gewinner, sondern auch immer mehr Verlierer hervorbringt, wird komplett ausgeblendet.

Angenommen, die wirtschaftlichen Akteure hätten sich in den vergangenen 20 Jahren in Ihrem Sinne wirtschaftsethisch verhalten. Was wäre anders gelaufen?

Die Führungskräfte in den Unternehmen hätten ihr kommerzielles Denken nicht von ihrem Bewusstsein als Bürger abgespaltet. Gewisse Formen des Erfolgs wären gar nichterstrebenswert gewesen. Ich denke etwa an Fusionen, dir nur das unredliche Ziel verfolgten, den Return on Equity durch Massenentlassungen zu steigern.

Aber wird in diesem Zusammenhang nicht immer mit wirtschaftliche Sachzwänge argumentiert?

Sicher. Aber das ist ein Scheinargument. Als es in der Schweiz zur Fusion der Großbanken Bankgesellschaft und Bankverein kam, hat die deutsche Konkurrenz einhellig reagiert. Es hieß in allen Stellungnahmen, die Schweizer seien vorgeprellt und zwängen die Deutschen jetzt, nachzuziehen. Mit dem Verweis auf globale Sachzwänge hatten aber zuvor schon die Schweizer ihre Fusion gerechtfertigt. So schaukelte man sich gegenseitig hoch.

Die Banken argumentieren, sie hätten Defizite bei der Produktivität, und technische Fortschritte machten viel Personal überflüssig. Das ist doch nicht aus der Luft gegriffen.

Es gibt natürliche legitime Gründe, Arbeitsplätze abzubauen. Entscheidend ist aber die Frage, ob Entlassungen wirklich nötig sind. Das würde ich bei der erwähnten Bankenfusion verneinen. Wenn Entlassungen bloß als ein Mittel zur Umverteilung der Wertschöpfung - von den Arbeitnehmern zu den Shareholdern - dienen, so ist das höchst unfair.

Und wann sind Entlassungen gerechtfertigt?

Wenn zuvor alle anderen Möglichkeiten zur Wiederherstellung der Unternehmensrentabilität ausgeschöpft worden sind und die Shareholder sich einen vorübergehenden Ertragsverzicht zumuten lassen. Es geht also um eine faire Opfersymmetrie. Als vor einigen Jahren Teile der Autoindustrie in einer existenziellen Krise steckten, prüfte das Management in vielen Fällen erst jene Maßnahmen, die niemanden existenziell bedrohten. Bei Volkswagen hat man zu innerbetrieblichen Maßnahmen gegriffen. Als dann trotzdem Entlassungen unumgänglich wurden, kam es zu keinem öffentlichen Aufschrei. Denn diese Unternehmensleitungen hatten gute und redliche Gründe für die Entlassungen, zu denen sie stehen konnten. Dazu kommt, dass auch von den Shareholdern Opfer verlangt wurden. Aus ethischer Sicht kommt es eben immer auf diese guten, gegenüber allen Betroffenen vertretbaren Gründe an.

In ganz Europa betreiben Regierungen Sozialabbau. Weshalb?

Im heutigen internationalen Umfeld wird sich jede Regierung, sei sie nun links oder rechts, über kurz oder lang den Umständen anpassen. Denn die nationale Politik hat ihre Handlungsfähigkeit gegenüber der internationalen Wirtschaft weitgehend verloren. Was primär zählt, ist die Konkurrenzfähigkeit im internationalen Standortwettbewerb. Aber es gibt einen dritten Weg. Er besteht nicht einfach im Abbau des Sozialstaats, sondern sucht nach intelligenteren Lösungen, die den ursprünglichen Absichten entsprechen, aber weniger kosten.

Wie soll das möglich sein?

Meine Formel lautet: Weniger kompensatorische Sozialpolitik, die nur im Nachhinein Symptome bekämpft, dafür aber mehr emanzipatorische Gesellschaftspolitik. Also eine Politik, bei der möglichst alle Bürger ermächtigt werden, sich selbst zu helfen.

Also die deutsche Ich-AG?

Nein. Das Zynische an der derzeitigen deutschen Sozialpolitik liegt eben gerade darin, dass sie die Leute zwar auffordert, zu arbeiten statt in der sozialen Hängematte zu liegen, gleichzeitig aber jedem Zehnten den Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt. "Eigenverantwortung" ist nur zumutbar, sofern die Menschen dazu befähigt und berechtigt sind, sich selbst zu helfen. Wir müssen zunächst alles tun, um den Erwerbswilligen eine Möglichkeit zu verschaffen, zu arbeiten. Wenn das mit den herkömmlichen Rezepten wie Arbeitsmarktliberalisierung und Wirtschaftswachstum nicht geht, müssen wir das knappe Gut Arbeit umverteilen. Das ist keine linke Utopie, sondern ein bewährtes Rezept der Nachkriegszeit. Produktivitätsfortschritte müssen mit einer Senkung der Arbeitszeit weitergegeben werden.

Dann möchten Sie das Rad der Zeit zurückdrehen . . .

Keineswegs, es geht vielmehr darum, die Rahmenordnung der Marktwirtschaft auf ein höheres Niveau zu bringen, das einer voll entfalteten Bürgergesellschaft entspricht. Für mich sind freie Bürger mit einer gesicherten Existenz unabdingbar für eine freiheitliche Gesellschaft. Wenn wir aber mit Arbeitszeitverkürzungen nicht mehr weiterkommen, dann müssen wir die Einkommensverteilung ein Stück weit von der Verteilung der zu knappen Erwerbsarbeit abkoppeln, um allen Bürgern anständige, nicht-demütigende Lebensbedingungen zu gewährleisten. Ich denke da an ein Bürgergeld, ein an keine Bedingungen geknüpftes Grundeinkommen, das jedem erwachsenen Menschen zusteht. Das bedeutet nicht staatliche Fürsorge, sondern einen selbstverständlichen Rechtsanspruch. Bei richtiger Ausbalancierung zwischen Grundeinkommen und Erwerbsanreizen gäbe es im Prinzip weder Arbeitslosigkeit noch Jobs, die sich nicht besetzen lassen, und es gäbe auch keinen Neid mehr, weil jeder tun kann, was ihm gefällt. Wir hätten außerdem wieder ein Fortschrittsziel. Das Bürgergeld soll ja nicht die Anreize, Karriere zu machen, zerstören; es müsste so niedrig

angesetzt sein, dass nicht zu viele darauf verzichten möchten, zusätzlich zu arbeiten. Damit es auf der anderen Seite hoch genug sein könnte, um einen eventuellen Verzicht auf Karriere zumutbar zu

machen, bräuchten wir dazu noch einige Fortschritte bei der Produktivität.

Das bedeutet, Maschinen würden den Menschen nur insoweit ersetzen, dass damit genug Einkommen erzielt wird, um es wieder umverteilen zu können?

Produktivitätssteigerungen kommen so oder so. Das entspricht der Logik des Wettbewerbs. Nur muss die Gesellschaft klug damit umgehen. Sonst ist sie in ihrer Existenz bedroht. Das zeigt sich am Beispiel der USA.

In den USA hat gerade die Deregulierung der Arbeitsmärkte zu niedriger Arbeitslosigkeit geführt.

Die USA haben die Option "niedrige Arbeitslosigkeit, verbunden mit sozialer Desintegration" gewählt. 30 Millionen leben dort unter dem Existenzminimum, und die strukturellen Verhältnisse entsprechen dem eines Entwicklungslandes. Die europäische Alternative ist die sozial integrierte Gesellschaft ohne Obdachlose und Slums. Dafür zahlen wir aber den Preis hoher Arbeitslosigkeit. Beide Varianten sind unbefriedigend. Wir müssen einen dritten Weg finden.

Literatur:

Peter Ulrich: Der entzauberte Markt. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Herder, Freiburg i. B. 2002, 222 Seiten.

Ulrich Thielemann/Peter Ulrich: Brennpunkt Bankenethik. Der Finanzplatz Schweiz in wirtschaftsethischer Perspektive, Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 2003, 160 Seiten.

Freitag, 16. Jänner 2004

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