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Romantik für Fußgänger

Wanderwege werden wieder populär – wenn man sie gut vermarktet
Das romantische obere Mittelrheintal gehört zu den schönsten Landschaften Deutschlands.  Foto: Fitzthum

Das romantische obere Mittelrheintal gehört zu den schönsten Landschaften Deutschlands. Foto: Fitzthum

Von Gerhard Fitzthum

Dass das Wandern im Trend liegt, ist auch den Österreichern nicht verborgen geblieben. In jedem Teil des Alpenlandes trifft man auf Zeitgenossen mit Rucksack, Goretex-Wanderstiefeln und Teleskopstöcken – und es sind keineswegs nur die altbekannten Sommerfrischler aus dem benachbarten Deutschland.

Dort freilich hat die Wanderbegeisterung Ausmaße angenommen, die Vergleiche mit der Wandervogelbewegung des frühen 20. Jahrhunderts nahe legen. Neueste Untersuchungen brachten zutage, dass inzwischen 60 Prozent aller Deutschen über 14 Jahre in ihrer Freizeit mit gewisser Regelmäßigkeit per pedes unterwegs sind. Im ganzen Land präsentieren die Verkehrsämter nicht nur ständig neue Wanderrouten, sie lassen diese auch von unabhängigen Gutachtern als "Qualitätswege" zertifizieren. Es ist ihnen nicht verborgen geblieben, dass man etwas tun muss, um eine weitere Abwanderung der Inlandsgäste zu verhindern.

Das allerneueste Großprojekt des deutschen Wandertourismus zeigt, dass auch abgehalfterte Destinationen allein durch ein gutes Wanderangebot wieder auf die Erfolgsspur kommen können. Die Rede ist vom Oberen Mittelrhein, dem canyonartigen Durchbruchstal des Rheins zwischen Bingen und Koblenz, das die Romantiker vor rund 200 Jahren entdeckten und europaweit bekannt machten. Während vormalige Dichtertreffs wie Rüdesheim und Assmannshausen sich mehr und mehr in niveaulose Besäufnisstationen verwandelten, dämmerten die meisten anderen Orte an diesem Teil der rechten Rheinseite vor sich hin.

Im Jahr 2002 wurde der 65 Kilometer lange Rheinabschnitt, eine auf unverwechselbare Weise vom Menschen geprägte Naturlandschaft, als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt. Das neue Schutzkonzept der "fortbestehenden Kulturlandschaft" sieht vor, die vielen aufgelassenen Weinberge vor der Rückverwandlung in Wald zu bewahren, die Bewohner der Talsohle vor dem Verkehrslärm zu schützen und die faszinierende Landschaft sinnlich erfahrbar, d. h. in erster Linie begehbar zu machen. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl lokaler Themenwege und den neuen Rheinburgenwanderweg, der die rund 30 Burgen dieses spektakulären Flussabschnitts miteinander verbindet.

Der neue "Rheinsteig"

Das atraktivste Angebot ist jedoch der "Rheinsteig". 320 Kilometer lang und einheitlich ausgeschildert, erschließt er seit September dieses Jahres die gesamte rechte Talseite und berührt dabei die Länder Hessen, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Wirklich neu sind die einzelnen Wegabschnitte nicht, sie wurden nur professionell aneinander gefügt. Die Traditionsrouten der Gebirgs- und Wandervereine wurden jedoch weitestgehend ausgespart. Diese verlaufen nämlich allzu oft durchs Hinterland und umgehen die Burgen fast immer dort, wo mühselige Zusatzaufstiege nötig wären. Dazu kommt, dass viele der einstmals behaglichen Waldwege im Laufe der Zeit zu Transporttrassen der Forstwirtschaft ausgebaut und damit für Wanderer uninteressant wurden.

Um ein touristisches Produkt anbieten zu können, das von solchen Schwächen frei ist, genügte es nicht, sich an den Wegewart eines Wandervereins zu wenden. Man musste sich Fachleute des Wandermarketings holen, die genau wissen, was Wanderer heutzutage wollen.

Die taten sich bei der Suche nach einer geeigneten Linienführung gar nicht so schwer, denn in den ehemaligen Weinbergen und den typischen Niederwaldgebieten fand sich noch eine erstaunlich große Anzahl stiller und abwechslungsreicher Pfade, die allenfalls etwas freigeschnitten werden mussten. Zum Teil konnte man auch auf bereits markierte Wege zurückgreifen, die bisher gar nicht oder allenfalls lokal beworben wurden. Einige dieser Passagen lassen statt an das Deutsche Mittelgebirge an die mediterrane Kulturlandschaft des Tessins oder der Cinqueterre denken.

Bei der Ausgestaltung des Rheinsteigs hatten die drei Landestourismusverbände von Anfang an die klare Absicht, zwischen Wiesbaden und Bonn einen "Top-Trail" entstehen zu lassen, der alle bisherigen Kulturwege des Landes in den Schatten stellt – einen Imageträger nicht nur für die Region, sondern auch für den Wandertourismus in ganz Deutschland.

Die Erwartungen wurden weit übertroffen. Seit der Eröffnung im September ist zwischen Rüdesheim und Braubach am Wochenende kein freies Bett mehr zu bekommen. Die Gastgeber – an Stagnation und Gästerückgang gewohnt – sind fassungslos ob dieses unerwarteten Zustroms einer Klientel, die man zuvor nicht wirklich ernst genommen hatte. Bei der Investitionssumme von 600.000 Euro hatte es natürlich schon im Vorfeld kritische Stimmen gegeben. Doch die sind jetzt alle verstummt. Die Region, in der einst der Tourismus in Deutschland erfunden wurde, hat neue Hoffnung geschöpft – und das wegen eines einzigen, gut gemachten Wanderwegs!

Dass die Hoffnung berechtigt ist, verdankt sich der unermüdlichen Missionierungsarbeit von "Wanderpapst" Rainer Brämer. Anfang der neunziger Jahre begann der Marburger Natursoziologe eine Renaissance des Wanderns zu organisieren. Er sammelte Daten, führte repräsentative Umfragen durch und gründete ein Beratungsbüro, das darbenden hessischen Mittelgebirgsorten und -regionen half, mit professionellen Wanderangeboten Gäste zurückzuholen.

Wanderer neuen Typs

Überregionale und internationale Aufmerksamkeit bekam Brämer schließlich mit seinen Profilstudien, die einen erstaunlichen Wandel beim Wanderpublikum offenbarten: Der heutige Wanderer ist kein anspruchsloser Kleinbürger mehr. Er ist ein überdurchschnittlich gebildeter, anspruchsvoller Gast, dem es bei der Ausübung seines Hobbys nicht primär um Sport und Fitness geht. Auch die Motive des traditionellen Vereinswanderers spielen keine Rolle mehr. Statt in Großgruppen aufzumarschieren und "Strecke zu machen", lässt er es ruhiger angehen: Wenn er sich nach einem ausgiebigen Frühstück zu zweit oder allenfalls in kleiner informeller Gruppe auf den Weg macht, ist vom sprichwörtlichen "Frühtau" nichts mehr zu sehen. Als "Genusswanderer" wählt er eine nicht mehr als 15 Kilometer lange Strecke, auf der er gemächlich dahinschreitet, des Öfteren Pausen macht und besonders gerne in einem gemütlichen Gasthaus mit regionaler Küche einkehrt.

Unterwegs sucht er das, was es im flurbereinigten deutschen Mittelgebirge kaum noch gibt: Wege nach menschlichem Maß, also erdige, naturnahe, kleine Steige und Pfade.

Um diesem neuen Wanderertyp eine seriöse Entscheidungshilfe zu geben, entwarf Brämer schließlich ein Testverfahren zur Qualitätsbeurteilung, auf das inzwischen auch österreichische Kurdirektoren schielen – das sogenannte "Deutsche Wandersiegel". Ein bestehender Wanderweg wird dabei auf insgesamt 36 Qualitätskriterien überprüft. Im Mittelpunkt stehen Format, Wanderleitsystem und Abwechslungsreichtum. Verliehen wird diese anspruchsvolle Auszeichnung nur dann, wenn Schwächen wie Hartbelag oder Straßennähe im Gesamtverlauf eines Weges durch andere Qualitäten ausgeglichen werden – etwa durch schöne Aussichten, Wiesen- und Waldsäume, natürliche Stille, Nähe zu Fluss oder Bach, Natursehenswürdigkeiten oder historische Stadtkerne.

Erstmals wurde dieses Verfahren Ende der neunziger Jahre bei der Neukonzeption des nordhessischen Rothaarsteiges angewandt. Dieser wurde bald zum Modellprodukt einer beispiellosen Qualitätsoffensive. Wo immer man Wanderangebote vermarkten wollte, ließ man sich von Brämers Beratungsbüro Rund- und Tagestouren zusammenstellen, die die strengen Kriterien des "Wandersiegels" erfüllten. Sorgenkinder blieben allerdings die längeren Traditionswege mit regionalem und überregionalem Charakter. Je größer die Distanz ist, die ein Weg zu überwinden hat, desto eher läuft er nämlich Gefahr, gewisse Durststrecken überwinden zu müssen – und deshalb die Mindestpunktzahl des Qualitätssiegels zu verfehlen.

In dieser Hinsicht hat der Rheinsteig nun neue Maßstäbe gesetzt. Nicht nur meidet er Asphalt und Schotter, er bietet auch eine abwechslungsreiche und naturnahe Wegführung über aussichtsreiche Hangkanten und stille Seitentäler, in denen sich bis vor kurzem mehr Wildschweinhorden aufhielten als Wandergruppen. Für den Lärm, der zuweilen aus der Transitschneise heraufschallt, wird man durch das Panorama entschädigt.

Dank seiner organischen Einheit von Fluss, Dorf, Burg und Weinberg gehört das obere Mittelrheintal zu den schönsten Landschaften Deutschlands – auch wenn Straßen- und Bahnverkehr der Talsohle stark zugesetzt haben. In der Höhe, in der der Rheinsteig verläuft, ist das Donnern der Züge und das Rauschen der Autos jedoch zu einem bedeutungslosen Grummeln abgeschwollen.

Im Mittelpunkt der Wahrnehmung stehen die Frachter, Ausflugsdampfer und Containerschiffe, die auf der wichtigsten Wasserstraße Europas unterwegs sind. Im Unterschied zu den auf beiden Seiten durchs Tal dröhnenden Personen- und Güterzügen stört dieser sanfte Verkehr überhaupt nicht. Im Gegenteil: Das leise Tuckern der Dieselmotoren ist ein Synonym der Gemächlichkeit und wirkt geradezu beruhigend.

Zudem bewegen sich die Schiffe mit jener Langsamkeit durchs Bild, die auch für den Wanderer bestimmend ist. Auf dem Rheinsteig wird man zum Betrachter eines landschaftlichen Gesamtkunstwerks, in dem Kultur und Zivilisation präsent sind, aus dem aber trotzdem alles Huschende, Nervöse und Lärmende verbannt ist.

Ein Kunstprodukt

Natürlich hat auch der Rheinsteig Schwächen, die dem Beurteilungsraster des Wandersiegels entgehen. Er ist eben kein organisch gewachsener, in seiner Logik nachvollziehbarer Weg, sondern ein Kunstprodukt, das von einem Ideal bestimmt wird. Menschlich-allzumenschliche Faktoren kann er nicht berücksichtigen. Wer trotz Müdigkeit, schlechter Sicht oder gar Regenwetter zum 20. Aussichtspunkt der Tagesetappe hinaufsteigt, findet sicher nicht den Genuss, der ihm für diesen Umweg versprochen wurde.

Dennoch ist ein "idealer" Weg natürlich besser als ein "schlechter". Im Zeitalter der zunehmenden Bodenversiegelung dominiert bei der Konzipierung von Qualitätswegen zwangsläufig das Prinzip des Ausweichens, auch wenn diese Umwege dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Das gibt dem Nutzer einen Teil seiner Eigenverantwortung zurück. Er muss nun immer wieder selbst zwischen Ideal und aktueller Wirklichkeit vermitteln. Mehr als jeder andere Weg verlangt der Rheinsteig jene individuelle Entscheidungsfähigkeit, die er zu ersparen verspricht.

Informationen: Rheinland-Pfalz Tourismus GmbH, E-Mail: info@rheinsteig.de, Internet: http://www.rheinsteig.de, Info-Telefon (12 cent/min.) 01805-648328

Literatur: "Abenteuer Rheinsteig", Görres-Verlag Koblenz, 224 Seiten. "Ein schöner Tag kompakt" (Rheinsteig-Wanderführer), Ideemedia Verlag Neuwied, 168 Seiten .

Gerhard Fitzthum ist promovierter Philosoph und arbeitet als Reisejournalist für renommierte deutschsprachige Zeitungen. Seine thematischen Schwerpunkte sind: Reisekultur, sanfter Tourismus und vor allem das Wandern.

Freitag, 25. November 2005

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