Wiener Zeitung Homepage Amtsblatt Homepage LinkMap Homepage Wahlen-Portal der Wiener Zeitung Sport-Portal der Wiener Zeitung Spiele-Portal der Wiener Zeitung Dossier-Portal der Wiener Zeitung Abo-Portal der Wiener Zeitung Portal zum ouml;esterreichischen EU-Vorsitz 2006 Suche Mail senden AGB, Kontakt und Impressum Benutzer-Hilfe
 Politik  Kultur  Wirtschaft  Computer  Wissen  extra  Panorama  Wien  Meinung  English  MyAbo 
 Lexikon   Glossen    Bücher    Musik 

Artikel aus dem EXTRA LexikonDrucken...

Schnee von gestern?

Schöne und weniger schöne Winterlandschaften in der Literatur

"Es ist Winter./Du kannst dich entsprechend verhalten." (Karl Krolow) Foto: Karl Zimmermann

Von Elke Papp

Die vier Jahreszeiten – vielleicht werden wir sie bald nur noch aus Vivaldis Konzerten kennen, in denen sie einander in barockem Reichtum abwechseln. Ingeborg Bachmann erkannte jedoch in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts schon den rettenden Ruf der Reklame "sei ohne sorge (. . .) heiter angesichts eines Endes" , und in diesem Sinn wird uns die Werbung weiterhin mit tröstlichem Produktreichtum an die Existenz der Jahreszeiten erinnern: an Saisonen, Trends, aktuelle Farben. Gegen die Wintergrippe werden wir eine immer stärkere Abwehrarmee aufbauen. Die Krippen werden in Zukunft gar nicht mehr abgebaut werden. Vor Depression in der Weihnachtszeit wird gewarnt, ein Urlaub auf der südlichem Erdhalbkugel empfohlen. Lichttherapie.

Oder Literatur. Wer einen warmen Ofen hat, lehne sich daran, wer nicht, setze sich neben die Gasetagenheizung und nehme Jack Londons "Alaskastories"(ins Deutsche übersetzt von Christine Hoeppener, Verlag Neues Leben, Berlin, 1969), das kleine blaue Bändchen "Winter" (herausgegeben von Anne Marie Fröhlich, Manesse Verlag, Zürich, 1989) mit Weltliteratur über und für die kalte Jahreszeit, in der Stifters Weihnachstidyll "Bergkristall" natürlich nicht fehlt. Ein Winterklischee, dem ich mich hingebe, während die Tannen und Fichten im vorweihnachtlichen Fön bei lautem Verkehr auf Käufer warten und ich neben meinem Gaskonvektor sitze und Schnee herbeiwünsche. Gegenüber schrubbt eine Frau die schwarzen Fensterrahmen weiß. Weihnachtsputz.

Hunde und Schlitten

Die Aussicht auf einen Spaziergang im frischen Schnee lockt schnell einen Hund hinter dem warmen Ofenrohr hervor. Luchs heißt dieser Hund in Marlen Haushofers Roman "Die Wand" von 1963. Marlen Haushofer, die sich zeitlebens lieber mit Tieren als mit Menschen umgab, lässt in "Die Wand" eine Hütte im Ennstalter Sensengebirge zur letzten Bleibe einer Frau werden. Über Nacht ist eine unsichtbare Wand gewachsen. Die Besitzer des Jagdhauses kehren nicht mehr aus dem Dorf zurück. Die Frau, eine Städterin, muss mit Luchs, dem Hund der Besitzer, und ein paar anderen Tieren von einer Jahreszeit zur nächsten überleben lernen.

Muss sie? Sie will. Während die Menschen jenseits der Mauer tot sind, sät, erntet, jagt und sammelt sie Holz, um ihr Leben und das der Tiere zu erhalten. Erst im zweiten Winter, als Luchs tot ist, beginnt sie zu schreiben, um "die langen Wintermonate durchzustehen" . Sie kennt die Abgründe des Winters bereits: "Es gab keine Gedanken, keine Erinnerungen, nur das große, stille Schneelicht. Ich wusste, dass diese Vorstellung für einen einsamen Menschen gefährlich war."

Ganz andere einsame Helden kämpfen sich in den "Alaskastories" durch "das weiße Schweigen" . Dem "Mann unterwegs", der in der Weihnachtsnacht allein mit seinen Hunden in der Kälte vor den Wölfen und der Polizei flieht, wird in der warmen Stube von Malemute Kid bei heißem Punsch gewünscht: "Mögen seine Hunde bei Kräften bleiben, mögen seine Streichhölzer nicht ausgehen" .

Im Ennstal wird mit weniger Heldentum, aber mit demselben Heldinnenmut bis zum letzten Streichholz gelebt, bis zum letzten Blatt geschrieben. Das macht der Leserin Mut in der warmen Stube. Der Schnee kann kommen.

Bis zur Romantik war die Nachahmung der Natur das höchste Ziel jeder Kunst. Dann begann die Kunst sich ihr Vorrecht zu erkämpfen. Dieser Wettstreit gipfelte im Ästhetizismus des Fin de Siècle, als sich Kunst zur Natur erklärte. Die Natur aber verschwand nicht aus der Literatur. Sie wurde vielmehr zur Gegenwelt der fortschreitenden Denaturalisierung der Wirklichkeit. Stifter erkannte in ihr ein "sanftes Gesetz", das er auch auf die Menschen wirken lassen wollte. In "Bergkristall" verirrt sich das Geschwisterpaar Konrad und Sanna am Gletscher, den Stifter nach dem Vorbild des Hallstädter Gletschers formte und Gars nannte. Es ist Heiliger Abend, als Konrad und Sanna aufgrund heftigen Schneefalls den Weg von Millsdorf in ihr Heimatdörfchen Gschaid nicht mehr finden.

Sanftheit des Schnees

Wiewohl die beiden Kinder in der frostigen Gletscherlandschaft nächtigen müssen, erscheint ihnen der Winter keineswegs unheilvoll. Sanftheit durchwaltet das Verhältnis Mensch-Natur und auch die zwei Dörfer grollen einander nicht mehr, nachdem man sich gemeinsam auf die Suche nach den verirrten Kindern gemacht und sie gefunden hat. Die Unversehrtheit von Mensch und Natur, die sich in der bei Stifter noch als intakt geschilderten Abfolge der Jahreszeiten äußert und im weißen Weihnachtsidyll gipfelt, kann jedoch am Ende des 20. Jahrhunderts mit den Erfahrungen von Massenvernichtungen nicht mehr als solche beschrieben werden.

Bereits vor dem Ersten Weltkrieg erschienen im Werk von Georg Trakl ahnungsreich "schwarze Himmel von Metall" . Und nach dem Zweiten Weltkrieg sprach Wilhelm Szabo von einer "Eiszeit der Herzen" , in der "Schnee des Vergessens schneit." ("Das Unbefehligte", Herder, Wien 1947). Sind nach Auschwitz jemals wieder Wintergedichte möglich? Ingeborg Bachmann antwortete auf diese Frage in "Lieder auf der Flucht" mit Naturlyrik, die nicht geschichtsfern ist: "Der Palmzweig bricht im Schnee / die Stiegen stürzen ein / die Stadt liegt steif und glänzt / in fremdem Winterschein (. . .) Ich aber liege alleine im Eisverhau voller Wunden / es hat mir der Schnee / noch nicht die Augen verbunden" (Anrufung des Großen Bären).

Dieter Hoffmann trauerte 1979 im Band "Zerstörte Natur. Gestörtes Gedicht" (Akademie der Wissenschaft, Mainz, 1980) um die sich in die Natur versenkende Dichtung: "In einer zerstörten Landschaft wird nur noch das gestörte Gedicht möglich sein."

Der Band "Flurbereinigung. Naturgedichte" (Heyne Verlag, 1985) spürt der Verstörung der Naturlyrik, bedingt durch globale Umweltzerstörung und atomare Bedrohung, nach. Während selbst der todessehnsüchtige Trakl in "Ein Winterabend" noch eine warme Stube heraufbeschwor, wo "der Schnee ans Fenster fällt" und den Wanderer einlässt, ist ein "Wintertag" des 1941 geborenen Wolfgang Bittner schon zeitgenössisch grau: "leise rieselt / Gedankenschnee / bevor er Fuß fasst / verflüchtigt schon / als seien nie Flocken / vom Himmel gefallen / auf die schmutzige Straße / Diese Betriebsamkeit / trotz allem / Flugzeuge stürzen ab (. . .) Die Nachbarin putzt Fenster / als gälte es ihr Leben."

In Marion Poschmanns "Schwarzweißroman" (Frankfurter Verlagsanstalt, 2005) reist eine junge Frau aus dem Ruhrgebiet ins russische Magnitogorsk, wo ihr Vater in einem riesigen Stahlwerk tätig ist. Manchmal ist der Schnee dort schwarz. Weiß ist er nur im Kontrast zum schwarzen Giganten: "Dann tänzelten aufs neue reinweiße, freundliche Flocken jenseits der Fensterscheibe und verbargen das Werk hinter einem Schleier aus natürlicher Perfektion, aus Sauberkeit." Es scheint, als würde hier nicht Kritik an der Schwerindustrie geübt, sondern am Schnee, diesem weißen Simulanten.

Frost in den Seelen

"Schnee ist nicht / die kälteste Sache, die wir kennen / wie manche verkannten Beziehungen" , schrieb Karl Krolow in seinem Gedicht "Winter. Umwelt" (Im Gedichtband "Flurbereinigung"). Das "wirkliche Leben", das in deutschen Gedichten zu kurz kommt, ist kälter: "Es schneit. Es ist Winter. / Du kannst dich entsprechend verhalten. / Dein geographisches Schicksal ist dir bekannt. Die deutsche Spirituose / hilft dir, die anderen ertragen."

"Schnee und Eis sind mir lieber als die Liebe", sagt Fräulein Smilla in "Fräulein Smillas Gespür für Schnee", dem erfolgreichen Roman des dänischen Schriftstellers Peter Hoeg (Hanser Verlag, 1994). Durch ihr "Gespür für Schnee", ihre Leidenschaft für das Eis, kommt die Grönländerin Smilla einem Verbrechen auf die Spur, das an einem grönländischen Kind verübt wurde. Im Laufe der Nachforschungen, die für die Protagonistin immer gefährlicher werden, erkennt sie ihre Liebe zu dem toten Kind und zu sich selbst als einer, die in Dänemark ewig fremd bleiben wird. In diesem Thriller hat Peter Hoeg dem Schnee und dem Eis ein neues Geschlecht verliehen: Schnee gehört zu Fräulein Smilla wie sonst nur zu den männlichen Hundeschlittenfahrern in Jack Londons "Alaskastories".

Die Kälte als Gefährtin in Zeiten, wo viel heiße Luft um unterkühlte Beziehungen gemacht wird? 1930 nutzte der Schriftsteller Emmanuel Bove in Paris, als es dort noch heiß herging, den Winter als Metapher für Gefühlsarmut zwischen zwei Eheleuten. Im "Journal geschrieben im Winter" (übersetzt von Gabriela Zehnder, Edition Epoca, Zürich, 1998) erwähnt der Ehemann mit keinem Wort den Winter. Dennoch vollzieht sich die völlige Entfremdung des Ehepaars vom 7. Oktober bis zum 2. Februar.

Heinrich Heine schrieb im Winter 1843 nach seinem französischen Exil durch Deutschland reisend seine Staatssatire "Deutschland. Ein Wintermärchen". In Österreich schreiben nicht nur reisende Schriftsteller, sondern auch Schifahrer; keine Märchen, heißt es, sondern authentische Berichte vom Glücken und Scheitern auf den und abseits der Pisten (Franz Klammer: Ein Leben wie ein Roman. Aufgezeichnet von Adi Kornfeld. Sportwoche VerlagsgmbH, 2003).

Die uns mithilfe des Sports medial eingetrichterte Landesliebe sagt: Wer das Schifahren nicht ehrt, ist die Schination nicht wert.

"Einer" von denen, die das Schifahren nicht ehren, ist Jakob in der Erstlingserzählung des gebürtigen Ötztalers Norbert Gstrein ("Einer", Suhrkamp, 1988). Immer gilt es die Gäste zu beschwichtigen, ihnen das "Weiße vom Himmel" zu versprechen. Jakob, als Sohn einer vom Tourismus lebenden Familie, kann in dieser Winterkomödie nicht mitspielen. So wird sein Leben im Dorf zu einer Tragödie, die mit einem Verbrechen endet.

Von Anfang an zeigt Gstrein die dörfliche Schnee-Idylle als eine von menschlicher Kälte versehrte Tourismushölle. Während sich das Polizeiauto in den winterlichen Spurrinnen Jakobs Elternhaus nähert, vorbei am Hotel Fend, wo Touristen sich am Balkon sonnen, versickert Schweineblut in einer Lache. Die Schneefräse lärmt draußen, während in der Küche die Brüder, die Mutter, die Gritischin und der Novak den Beamten ihre Version von Jakobs Geschichte erzählen. Jakob als Schilehrer, das konnte nur tragikomisch sein: die verhassten Deutschen wollten sich jeden Schwung von ihm erklären lassen, wissen, "ob das Talknie ausreichend gebeugt" ist. An den Abenden ging er mit ihnen trinken. Hasste sich dafür, während im Dorf, in dem bei Trakl noch "vielen (. . .) der Tisch bereitet" war, der Schnee "in den Köpfen unaufhörlich weiterfiel" .

Die Weihnachtslichter erstrahlen im frisch geputzten Fenster der Frau gegenüber. Ein Winterabend. Der Fönsturm schlägt gegen die Fensterscheiben. Der Mann dreht den Fernseher auf. Ich warte auf den Schnee.

Wie viele Winter die Frau hinter der Wand noch erleben wird?

Elke Papp, geboren 1973, lebt als Schriftstellerin und Performerin in Wien.

Freitag, 23. Dezember 2005

Aktuell

Blicke aufs Häusermeer
Erhöhte Aussichtspunkte haben schon immer Schaulustige angelockt
Wer übernimmt die Führung?
Die kommenden Probleme und Entwicklungen der Weltwirtschaft – Ein Panorama
In Millionendimensionen
Grundlegende Befunde über den allseits sichtbaren Wandel Chinas

1 2 3

Lexikon


W

Wiener Zeitung - 1040 Wien · Wiedner Gürtel 10 · Tel. 01/206 99 0 · Impressum