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Religion in neuen Gewändern

In der westlichen Welt wächst die Sehnsucht nach Selbsterfahrung und Spiritualität
Mehr als eine bloße Körpermethode: Yoga boomt seit Jahren, im Westen wie im Osten. Foto: EPA

Mehr als eine bloße Körpermethode: Yoga boomt seit Jahren, im Westen wie im Osten. Foto: EPA

Von Ariane Martin

Still sitzen die beiden da, die Augen geschlossen: Die Kamera richtet den Blick auf zwei meditierende Menschen. Es geht um Yoga. In einer Talksendung im deutschen Südwest-Fernsehen. Wer öfter fernsieht, erkennt sofort: einer der beiden ist Robert Atzorn. Es ist kein Ausschnitt aus dem neuesten Film des populären Schauspielers. "Unser Lehrer Dr. Specht" ist hier ganz privat zu sehen, als Gast in einem Yoga-Zentrum in Amerika. Er und seine Frau Angelika sind begeisterte Anhänger des Yoga. Und Mr. Robert ist, wie ein orange gewandeter Amerikaner uns mitteilt, bereit, "tief in das eigene Innere zu blicken" .

Im TV-Studio wird über Spiritualität geredet, über Sinnsuche und Selbstfindung. Die Atzorns praktizieren nicht nur Yoga, sie sind auch mit Indianern befreundet. Ein Filmchen folgt, das zeigt, wie die beiden mit ihren indianischen Freunden um eine Feuerstelle herum stehen. Gemeinsam vollziehen sie ein spirituelles Morgenritual.

Trend Desäkularisierung

Immer öfter plaudern Prominente in den Medien über ihre spirituellen Aktivitäten. Sie folgend damit einer Entwicklung, die die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind religiöse Themen in neuen Gewändern wiedergekehrt. Sinn- und Heilsbotschaften durchziehen die westlichen Kultur-Landschaften. Die neuen spirituellen Aufbrüche haben vor allem die Sozialwissenschaftler – aber auch viele Theologen – überrascht. Noch in den Siebzigerjahren galt die These von der Säkularisierung, dem allmählichen Verschwinden der Religion aus unserer Gesellschaft, als sichere Prognose. Doch jüngste Forschungen zeigen, dass das falsch ist.

Parallel zu der unbestreitbar fortschreitenden Säkularisierung ereignet sich ein weltweiter Aufschwung von Religiosität und Spiritualität – unabhängig von konkreten Inhalten und konfessioneller Zugehörigkeit. Der Religionssoziologe Peter L. Berger spricht deshalb von "Desäkularisierung" . Ähnliche Beobachtungen haben auch Forscher der Universität Wien gemacht. Zur Jahrtausendwende veröffentlichten der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner u. a. Ergebnisse einer Langzeitstudie über "Religion im Leben der Menschen 1970 – 2000". Demzufolge kann Europa "weder als christlich noch als unreligiös und schon gar nicht als atheistisch" bezeichnet werden. Vor allem wenn man den einzelnen Menschen im Blick hat, offenbart sich in unserer Gesellschaft die Tendenz zu einer unsichtbaren, personbezogenen Spiritualität.

Die "Respiritualisierung" , wie der Trendforscher Matthias Horx die Bewegung der späten Neunzigerjahre genannt hat, verläuft derzeit an den Kirchen vorbei. Sie ereignet sich vielmehr mitten im säkularen Raum. Verwunderlich ist das nicht. Die christlichen Kirchen haben ihre Weisheitslehren vergessen und sich auf Moral konzentriert. Waren sie einst für viele ein Garant für Orientierung, haben sie heute an Formkraft eingebüßt. Im Zuge der modernen Pluralisierung ist unserer Kultur zudem ihre gemeinsame Glaubensmitte verloren gegangen. Und so fielen neue Samen auf den spirituell brachliegenden Boden. Ein "spirituelles Feld" ist inmitten unserer Gesellschaft, für viele unsichtbar, aufgekeimt. Nach und nach wurde es von einer Vielzahl unterschiedlicher Weltanschauungen, Lehren und Programme besiedelt.

In Fachkreisen ist von "religiösem Pluralismus" die Rede. Wie in anderen Lebensbereichen auch darf der spirituell Interessierte sich nicht nur entscheiden, er muss es sogar. Das ist eine Folge der Individualisierung, die dem Einzelnen zuerst neue Freiheiten bietet, im zweiten Schritt aber auch Gefahren mit sich bringt. Freiheit wird riskant – und der Einzelne ist gefordert, selbst seine "subjektive Sinnquelle" sprudeln zu lassen, wie es der Soziologe Niklas Luhmann formuliert hat.

Spirituell Suchende setzen sich ihre Weltanschauung aus bereits bestehenden Weltanschauungen selbst zusammen. Peter L. Berger spricht von "Patch-Work-Religion" , andere von Synkretismus. Ein Beispiel dafür ist die Vereinigung "Celtsun-Wicca", entstanden aus einer Übereinkunft zwischen Druiden, indianischen Medizinfrauen und der "Naturreligion" Wicca. Von der Tendenz zum Synkretismus zu unterscheiden ist die Neigung jener, die nach universellen Elementen in den unterschiedlichen Traditionen suchen. Der Unterschied ist augenfällig: Während die einen dazu tendieren, ihr spirituelles Eigenheim mit Requisiten verschiedenster Herkunft nach subjektiven Kriterien auszustatten, suchen die anderen in den Weisheitslehren und mystischen Schatztruhen verschiedenster spiritueller Richtungen nach Konstanten.

Den neuen spirituellen Suchbewegungen liegen hohe Erwartungen und tiefe Sehnsüchte zugrunde. Sie lassen sich in sieben Grundkategorien einordnen: Verzauberung, Verhältnis zur Welt, Heilung, Festigkeit, Gemeinschaft, Reise in die Weite und Reise zu sich selbst. "Irgendwie hat es so, wie es war, für mich nicht mehr gestimmt!" Mit solchen – oder ähnlichen – Worten fängt die zunächst ziellose Suche oft an. Die ersten Kontakte zu Anbietern neuer Spiritualitäten erfolgen meistens über Menschen aus dem näheren Umkreis. Dabei geht es zunächst oft um Angebote, die das körperliche Wohlbefinden steigern sollen. Wellness ist zu einer Massenbewegung geworden.

Die Aussicht auf Entspannung und Stille gewinnt in einem von Hektik und Stress geprägten Alltag für viele an Attraktivität. Die Nachfrage nach Auszeit und Meditation steigt, Klosteraufenthalte gelten längst als Geheimtipp. Entscheidend ist für viele auchdie individuelle Standortbestimmung, der eigene Status. Mancher findet Anleitungen zu mehr materiellem Reichtum in Feng-Shui-Büchern, bei magischen Ritualen oder durch positives Denken. Doch weitaus größer ist die Zahl derer, die einfacher leben wollen. Lessness, Simplifying und Downshifting heißen die dementsprechenden Schlagworte. Dabei geht es in erster Linie nicht um Verzicht und Askese, sondern um eine Reduktion, die die Lebensqualität wieder heben soll.

Sich selbst zu erforschen ist für viele ebenso ein Grundanliegen. In die eigenen Gründe hinabzutauchen und die im Inneren verborgene Seelenlandschaft zu entdecken, etwa in Selbsterfahrungs-Workshops, mit Trommeln, Feuerlauf und Innenweltreisen. Vor allem die östlichen Philosophien verzeichnen in letzter Zeit einen vermehrten Zulauf.

Thomas B. praktiziert seit ein paar Jahren Zen. Er besucht regelmäßig sogenannte Zen-Sesshins . "Mittlerweile habe ich die Erfahrung gemacht, dass gerade dieses lange Sitzen ein Weg ist, zu mir selbst zu finden, in meine eigene Mitte. Dort gibt es einen Raum für mich, wo ich in meinem tiefsten Inneren bin."

Menschen, die auf spirituelle Reisen gegangen sind, wollen auf die Frage "Was und wer bin ich?" befriedigende Antworten und ein tiefes (Selbst-)Verständnis finden. Nach einem Meditationskurs hat Christine L. überraschende Erfahrungen gemacht: "In manchen Momenten habe ich das Gefühl, dass es mich, diese 25 Jahre alte Frau, eigentlich gar nicht gibt, sondern dass etwas in mir ist, das in allen anderen Menschen auch ist – etwas, das uns Menschen irgendwie verbindet, weil wir alle von Gott kommen."

Bei sich anzukommen und zugleich in etwas Übergeordnetes eingebunden zu sein – dieses Anliegen teilen viele im spirituellen Feld. Sie sehnen sich nach Erfahrungen aus erster Hand. Christliche Mystik ist wieder gefragt. Zudem liegen auch sogenannte Satsangs (sankrit: "Zusammensein mit einem Erleuchteten in Wahrheit") im Trend. Erleuchtung zu erlangen gilt für viele als das große Ziel. Was vor Jahrhunderten die Heiligen waren, sind heute für das spirituelle Feld die dauerhaft im "Zustand des reinen Seins" Verweilenden.

Die meisten wären freilich schon mit weit weniger zufrieden. Sie leiden unter diffusen Krankheitssymptomen, Schmerzen und geistig-seelischem Leid. Vollkommen unversehrt und schmerzfrei zu sein – das erhofft man sich nicht, wie frühere Generationen, erst im Jenseits, nein, man erwartet es jetzt. Gesundheit zählt heute zu den gesellschaftlichen Leitwerten. Heilung ist ein zentraler Aspekt geworden. Doch vor allem streben spirituell orientierte Menschen nach geistiger Erneuerung, nach Wandel und spirituellem Wachstum; für viele steht das eigene Seelenheil noch vor der körperlichen Gesundheit. Sie sehnen sich nach Harmonie, Erfüllung und innerem Frieden.

Auch die Gemeinschaft wird für viele wieder wichtig, allerdings meist in Form einer Verbindung ohne Verbindlichkeit. Für die Kontaktaufnahme sind Events wie Messen und Festivals, aber auch Szenen von Bedeutung, wie etwa die Heiler-, Tantra- oder Neopaganisten-Szene. Einen enormen Zuwachs verzeichnen spirituelle Netzwerke sowie Gemeinschaftsprojekte und sogenannte "Ökodörfer". In der Regel zeichnen sich diese durch alternative soziale Lebensformen, aber auch durch ökologische und spirituelle Lebensgestaltung und Visionen aus. Gemeinschaften, die bloß durch ihre spirituelle Praxis zusammengehalten werden, entstehen, wenn sich um eine spirituelle Gründergestalt Gleichgesinnte, Anhänger und Schüler gruppieren. Je nach Organisationsgrad spricht man von "Neuen Religionen" oder "Neuen religiösen Bewegungen".

Äußerliche Erklärungen

Erklärungen für die "Respiritualisierung" sind vor allem in gesamtgesellschaftlichen Dynamiken zu finden. Zunehmende Individualisierung, Pluralisierung und Deinstitutionalisierung führen zu Orientierungslosigkeit und Sinnkrisen. Sie lassen den Einzelnen alte Fragen neu stellen und im spirituellen Feld nach Antworten suchen. Wäre der spirituelle Boom nur eine Reaktion auf die Krise der Moderne, hätte Karl Marx mit seiner These von der Religion als "Opium des Volkes" wohl doch Recht gehabt. Spiritualität diente dann als Trost- und Beruhigungsmittel.

Gesellschaftliche Prozesse erklären das Phänomen allerdings nur oberflächlich – und auch nur zum Teil. Spiritualität hat mit dem innersten Kern des Menschseins zu tun. Sie ist eine menschliche Grundeigenschaft; dafür spricht auch, dass zu allen Zeiten überall auf der Welt Phänomene wie Ekstase und Mystik bekannt waren. Die dem Menschen innewohnende Fähigkeit, zu transzendieren und sein Bewusstsein in die Weiten des Kosmos schweifen zu lassen, bis hin zu seinem eigenen Ursprung, zählt zu den anthropologischen Konstanten.

Zur weiteren Lektüre: Ariane Martin: Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität. Schwabenverlag, Ostfildern 2005, 271 Seiten.

Ariane Martin , geboren 1969, ist Kulturanthropologin mit Spezialisierung auf (ethnologische) Religions- und Bewusstseinsforschung. Sie ist Fachjournalistin, Filmautorin und Redakteurin in der ZDF-Abteilung "Kultur und Wissenschaft".

Freitag, 02. Dezember 2005

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