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Gott statt Kommunismus

Reisen nach Osteuropa regen zum Nachdenken über Geist und Religion an
Zahlreiche Kirchenbauten in der Ukraine demonstrieren die neue Hinwendung zur Religion.  Foto: Stumberger

Zahlreiche Kirchenbauten in der Ukraine demonstrieren die neue Hinwendung zur Religion. Foto: Stumberger

Von Norbert Leser

Wer heute durch die Westukraine oder durch Polen fährt, dem fällt die Präsenz der Religion im Leben der Menschen auf – und beileibe nicht nur der alten, sondern erfreulicherweise auch vieler junger. Hier besteht offenbar ein metaphysischer Nachholbedarf, der die marxistische These vom langsamen Absterben der Religion in der modernen Gesellschaft Lügen straft. Nicht die Religion, sondern der Kommunismus ist aus den Herzen und Hirnen der Menschen praktisch verschwunden und lebt nur als albtraumhafte Erinnerung weiter.

Symptome dieser neuen Zuwendung zur Religion und zur Kirche als deren organisierter Manifestation sind die zahlreichen Kirchenbauten. Sie müssen von den Gläubigen und von den Gemeinden finanziert werden, da es keine Kirchenbeiträge und nur geringe staatliche Unterstützung gibt. Auch in kleinen Ortschaften wird der Ehrgeiz darein gesetzt, möglichst geräumige Gotteshäuser, ja oft richtige Kathedralen zu erbauen oder ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückzugeben. Denn ein Teil der Gotteshäuser wurde in der staatsatheistischen Sowjetunion, von der die Verfolgung und Unterdrückung der Kirche im gesamten Ostblock ausging, desakralisiert und in oft erschreckender Weise profaniert. Geradezu symbolisch mutet es an, dass eine große Kirche in Lemberg, die von den Kommunisten in ein Museum für Atheismus umgewandelt wurde, auch während der Zeit ihrer Entweihung die Aufschrift "Soli Deo Gloria" trug. Heute ist der Bau als griechisch-katholische Kriche wiederhergestellt. Der tot gesagte Gott hat seine Leugner und Lästerer überlebt und über sie triumphiert.

Gelebte Frömmigkeit

Von der wieder erwachten und gelebten Frömmigkeit der Bevölkerung kann man sich überzeugen, selbst wenn man nur kurze Zeit vor einer Kirche verbringt und die Passanten beobachtet: Schätzungsweise jeder zweite bekreuzigt sich und dies sogar mehrmals – diese schöne Sitte ist im säkularisierten Westen längst abhanden gekommen, aber dort, wo sie lange verboten war, wird sie geschätzt und gepflegt.

Freilich sollte man sich davor hüten, diesen Prozess und dessen äußerliche Symptome überzubewerten und bedenkenlos in die Zukunft zu verlängern. Aber allein die Tatsache, dass es im Russland Putins, aber auch in anderen ehemals sowjetischen Gebieten wieder zum guten Ton gehört, sich in der Kirche und mit geistlichem Beistand zu zeigen, ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass man der Religion und ihren kirchlichen Vertretern wieder einen positiven Stellenwert einräumt und sie nicht wie früher verachtet oder marginalisiert.

Wieso konnten sich Religion und Kirche trotz jahrzehntelanger Unterdrückung so schnell und eindrucksvoll erholen? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich die Defizite vergegenwärtigt, die der Kommunismus in seiner Theorie und Praxis von Anfang an weder loswerden konnte noch wollte.

Die Defizite, die letzten Endes zum Zusammenbruch des Sowjetimperiums und des "realen Sozialismus" führten, bestanden nicht allein im ökonomischen Bereich, sondern auch in einer falschen Beurteilung des Menschen, und folglich in falschen Anforderungen an ihn. Obwohl das ökonomische Versagen der Zentralverwaltungswirtschaft der unmittelbare Hauptgrund für die mangelnde Funktionsfähigkeit des Gesamtsystems war, gab es doch auch andere, tiefer liegende Gründe, die den Kommunismus daran hinderten, die Herzen und Hirne der Menschen zu erobern und wenigstens nachträglich die kommunistische Herrschaft, die von Anfang an auf Gewalt und Irreführung beruhte, zu rechtfertigen.

Unter den ontologischen Defiziten und Fehlkonstruktionen, mit denen der Marxismus – besonders in seiner bolschewistischen Gestalt, aber nicht nur in dieser – auftrat und operierte, nahm gerade der Atheismus als dogmatische Gegenthese zum religiösen Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung einen zentralen Platz ein. Er erwies sich als eine Last für den Sowjetkommunismus, der sich gerade durch das Beharren auf seiner atheistischen Position das Eindringen in fremde Kulturen verbaute – auch dort, wo Sympathien für seine sozialen und politischen Ziele bestanden. Denn nicht nur in den christlichen, sondern auch, ja mehr noch in den islamischen Ländern gab und gibt es wohl noch immer bei vielen ein unerschüttertes Bewusstsein der Existenz einer personalen Transzendenz.

Der Kommunismus hatte diesem consensus gentium , der auch einer der Philosophen, also ein consensus sapientium ist, nichts entgegenzusetzen als die These von der Selbsterzeugung des Menschen, von der selbst Marx in seinen Frühschriften zugab, dass sie schwer zu vermitteln sei. Die "Handgreiflichkeiten des praktischen Lebens" sprechen für den Schöpfungsglauben, welcher der "schlechthinnigen Abhängigkeit" des Menschen im Sinne des Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher Rechnung trägt.

Eindimensionalität

Ein totalitäres System wie der Marxismus kommunistischer Prägung konnte und wollte es sich aber nicht leisten, eine höhere Instanz als die des Innerweltlichen und Politischen anzuerkennen, weil sonst der totale Zugriff auf den Menschen und die Gesellschaft geschwächt und relativiert worden wäre. Doch der Versuch, den Menschen, den ja selbst der Aufklärer Kant als "Bürger zweier Welten" bezeichnete, auf die Eindimensionalität des bloß Empirischen zu reduzieren, die dann freilich wieder ideologisch überfrachtet und deformiert wurde, musste scheitern und wird immer wieder scheitern, wie der babylonische Turmbau des Alten Testaments. So schrecklich die Opfer auch waren, die die babylonischen Turmbauten des Totalitarismus in kommunistischer und nazistischer Gestalt forderten, es ist beruhigend, dass sie das 20 Jahrhundert, in dem sie groß wurden, nicht überlebten und die Mehrheit in den fortgeschrittenen Staaten den Wert der Demokratie wieder entdeckt hat.

Einen Faktor haben sowohl Marxisten als auch bürgerliche Liberale und gläubige Christen, die dem Ideal der Humanität zum Durchbruch verhelfen wollten, unterschätzt: den des Nationalismus, der nach wie vor auch in den kommunistischen Nachfolgeländern virulent ist. Weder die Religionen noch die weltlichen Ideologien und säkularen Heilslehren waren und sind im Stande, die Macht des Nationalismus, der allen erstrebten Harmonisierungen im Wege steht, zu brechen. Die marxistische Theorie ging davon aus, dass mit dem Sieg des Proletariats im Verlaufe des Klassenkampfes nicht nur die Religion, sondern auch der Nationalismus Macht und Anziehungskraft verlieren und einer internationalen Solidarität Platz machen würde. Doch gerade der Zerfall Jugoslawiens nach demVerschwinden des politischen Druckes, der diesen Vielvölkerstaat zusammengehalten hatte, hat klarer als jedes andere Beispiel gezeigt, wie zählebig und änderungsresistent der Nationalismus geblieben ist. Hinter dieser Fehleinschätzung des Marxismus verbirgt sich aber auch eine falsche, teils zu idealistische, teils zu materialistische Psychologie und Anthropologie, die den Bedürfnissen der überwältigenden Mehrheit der Menschen nicht gerecht wird.

Anmaßende Wissenschaft

Nicht nur der Versuch, die Religion mit Gewalt zu eliminieren, ist fehlgeschlagen, sondern auch jener, sie durch Wissenschaft zu ersetzen und überflüssig zu machen. Die marxistische Version der Wissenschaft wurde nicht nur durch den Zusammenbruch des realen Kommunismus, sondern auch durch die Wissenschaft selbst als Ideologie und Pseudowissenschaft entlarvt.

Doch selbst die vom Marxismus gereinigte, echte Wissenschaft wird unversehens zur Ideologie, wenn sie sich anmaßt, alle, auch die letzten, Fragen mit eigenen Mitteln zu lösen und zu beantworten. Eine gegenwärtig besonders virulente Form dieses Szientismus, der theologische, ja sogar philosophische Fragen aus der Welt des Geistes verbannen will, ist der Biologismus, den Wissenschaftler wie Franz Wuketits für der Weisheit letzten Schluss halten, ohne dessen inne zu werden, dass die eigentlichen Fragen erst dort beginnen, wo die Befunde der Wissenschaft zu einem Abschluss gelangt sind.

Die philosophische Frage, ob alle Qualitätsunterschiede, die sich in der Welt vorfinden, auf Quantitäten, die an einem bestimmten Punkt in neue Qualitäten umschlagen, zurückzuführen sind, kann nicht durch die Wissenschaft allein, geschweige denn durch eine Einzelwissenschaft wie die Biologie beantwortet werden. Deshalb war es hoch an der Zeit, dass der Wiener Kardinal Schönborn in seinen Ausführungen in der "New York Times", die absichtlich oder unabsichtlich missverstanden wurden, klargestellt hat, dass die Evolutionstheorie zwar innerhalb ihrer Grenzen akzeptabel ist, aber dort zur Ideologie wird, wo sie diese Grenzen überschreitet.

Offene Fragen

Die Evolution und die Evolutionstheorie werden zu einer Plage, wenn sie vorgeben, mit ihren Erkenntnissen das definitiv letzte Wort gesprochen zu haben. Auch nach erschöpfender Rekonstruktion der Evolution bleibt ja die Frage offen, ob das, was sich in der Evolution entfaltet, bereits vorgegeben, keimhaft angelegt und durch einen Schöpfungsakt in die Entwicklung hineinprojiziert ist, sodass sich folglich nicht alle Qualitätsunterschiede durch Summierung von Quantitäten erklären lassen. Obwohl in dieser Frage keine Beweise im strengen Sinn des Wortes zu führen sind, sprechen doch die überwiegenden Plausibilitätsargumente für den Präformationismus, der von der Vorgegebenheit des jeweils Seienden ausgeht, und nicht für den Reduktionismus, der alle Qualitätsunterschiede bloß durch ein immer Mehr an Entwicklung erklären will.

Der Jesuit Gustav Wetter, wohl der beste Kenner des dialektischen Materialismus, hat gezeigt, dass der materialistische Versuch, die Entstehung des Menschen nicht bloß seiner biologischen Seite nach aus dem Tierreich und dem "Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" im Sinne von Friedrich Engels zu erklären, mit einer logischen petitio principii , also mit einer Vorwegnahme des erst zu Erklärenden, einer Erschleichung des erst zu Beweisenden, behaftet ist: Der Affe, der nach Engels durch den Gebrauch der Werkzeuge gleichsam in das Menschsein hineingeschlittert ist, müsste bereits Mensch gewesen sein, um die Werkzeuge zu gebrauchen zu können.

Dieses Beispiel zeigt, dass Metaphysik und Religion keineswegs ausgedient haben, sondern besser als der Materialismus imstande sind, zu erklären, "was die Welt im Innersten zusammenhält". Auch diese Lehre wird vermittelt wenn man nicht nur eine Reise physischer Art, wie etwa die auf den Spuren des alten Österreich, sondern auch eine Reise in die Welt des Geistes unternimmt und sich dabei vor den Kurzschlüssen des Szientismus und Materialismus in Acht nimmt. So führen letzlich alle Reisen zwar nicht immer direkt nach Rom, aber doch, wenn auch meist auf Umwegen, in die Sphären Gottes.

Norbert Leser , geboren 1933, lebt als emeritierter Professor und als Leiter des Ludwig-Boltzmann-Institutes für neuere österreichische Geistesgeschichte in Wien.

Freitag, 02. Dezember 2005

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