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Neue Kirche in alter Fabrik

Das Pfarrzentrum Marcel Callo in Linz-Auwiesen
Von Bernhard Widder

Als "Stadterweiterungsgebiete" werden neue Stadtteile bezeichnet, die an der Peripherie großer Städte von Städteplanern und Architekten in Zusammenarbeit mit Stadtverwaltungen und Bauträgern konzipiert werden. Stadterweiterungen sind in den meisten Städten (natürlich nicht nur in Europa, sondern überall auf der Welt) seit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts ein besonderes Thema; durch das Europa des 20. Jahrhundert zieht sich der Städtebau wie ein Leitfaden: eines der größten Probleme war dabei der Wohnbau. Man muss hier nicht die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts rekapitulieren, um zu dem Schluss zu kommen, dass die meisten Mittel- und Großstädte in den vergangenen Jahrzehnten oft um ein Vielfaches ihres früheren Ausmaßes (das gern als "historisch" bezeichnet wird) erweitert, also vergrößert wurden. Grund dafür waren komplexe soziale und politische Probleme, die dringend gelöst werden mussten, und die katastrophalen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die in einem großen Teil Europas - von der atlantischen Küste Westfrankreichs bis ins Baltikum, von Polen bis nach Südrussland und zum Balkan - einige hundert Städte vernichtet hatten.

Der moderne Städtebau Europas begann in der Nachkriegszeit mit der Aufarbeitung von Verwüstungen. So sind seit damals viele Neugründungen von Stadtteilen entstanden, die in verschiedenen Ländern unterschiedliche Namen erhielten. In England war lange Zeit der Begriff der "New Town" prägend. Alle diese neuen Gründungen wirken vordergründig so, als wären sie Städte. Aber sie sind keine, sie sind nur Stadtteile, selbst wenn sie oft so groß sind, dass sie die eigentliche Altstadt flächenmäßig übertreffen. Es fehlen dort nämlich jene grundlegenden Merkmale, die eine "Stadt" bestimmen.

Neue Stadtteile in Linz

Die Stadt Linz ist da keine Ausnahme. Die Ausdehnung der Stadt von Süden nach Norden, von der Gegend der Traunmündung bis zur Nordgrenze, die bereits im Mühlviertel liegt, beträgt mehr als zwölf Kilometer. Das wäre bereits der Maßstab für eine Stadt mit einer Million oder mehr Einwohnern. Linz hat innerhalb seiner ausgedehnten Stadtgrenzen aber nur etwa 200.000 Einwohner und weist umfangreiche Grünzonen auf. Angeblich hat die Stadt Linz von allen größeren österreichischen Städten das beste Verhältnis zwischen bebauten und grünen Flächen.

In den letzten 70 Jahren ist an den Stadträndern von Linz eine große Anzahl von neuen Stadtteilen entstanden, die Wohnraum für etwa 100.000 Einwohner bieten. Die jüngsten Beispiele solcher Stadterweiterungen sind Auwiesen nördlich des Traunflusses und ein prestigeträchtiges Projekt im äußersten Südosten der Stadt, südlich der Traunmündung am Rand von Pichling gelegen. Dieses neue Wohngebiet, das unter dem plakativen Namen "Solar City Linz-Pichling" beworben wird, enthält bereits fertig gestellte Wohnbauten von Norman Foster, Thomas Herzog und einer Reihe anderer bekannter Architekten.

Der Stadtteil Auwiesen, mit dessen Errichtung Anfang der achtziger Jahre begonnen wurde, hat heute etwa 8.000 Einwohner. Östlich davon liegt der ältere Stadtteil Kleinmünchen, der seit dem späten 17. Jahrhundert als Standort der Textilindustrie bekannt war. Westlich des neuen Stadtteils bildet die gerade Achse der Mühlkreisautobahn eine Zäsur.

Das Zentrum der Siedlung befindet sich an einem Bach, der früher zur Energiegewinnung für die Industrie genutzt wurde. Und neben diesem Bach befindet sich ein besonderes Bauwerk: eine Textilfabrik, die 1907 errichtet worden ist. Dieser Bau, dessen Architekten aus dem Umkreis der Schule von Otto Wagner kamen, war einer der letzten in der langen Geschichte der Textilindustrie im Süden von Linz. Diese alte Fabrik wurde aber nicht abgerissen, wie es anderen frühen industriellen Bauwerken in der Nachbarschaft passiert ist. Die Grundfläche der Fabrik beträgt 50 × 30 Meter, ihre Höhe etwa 18 Meter. Es gibt drei Geschoße mit einer Höhe von jeweils 4,50 Metern. Die Tragkonstruktion des Gebäudes besteht aus gusseisernen Säulen, die einem genauen Raster folgen. Die klassizistische Fassade, an den Stirnseiten etwas monumental wirkend, enthält in guter Proportion vier Meter hohe Fenster in Eisenkonstruktion. Typisch für den damaligen Industriebau ist die historisierende Verkleidung eines bereits völlig modernen konstruktiven Konzeptes innerhalb des Gebäudes.

Die Auflösung von Zwischenwänden durch ein Rastersystem von Stützen erlaubte bei einem Umbau, der hier fast 100 Jahre nach der Errichtung des Gebäudes stattfand, eine vielseitige neue Verwendung dieses großen Gebäudes. Denn es wurde im Zug der Errichtung von Auwiesen auch eine neue katholische Pfarre gegründet. Dafür war bereits ein eigenes Grundstück vorgesehen. Der Pfarrer Christian Öhler, der vorher als Jugendseelsorger in Linz-Bindermichl tätig gewesen war, wurde mit der neuen Aufgabe betraut. Die Bewohner von Auwiesen sprachen sich aber gegen die Verbauung der Fläche aus, die für den Neubau einer Kirche gewidmet gewesen war, und bevorzugten dort einen zentralen Spielplatz.

Alte Fabrik als Zentrum

Ein Architektenwettbewerb zum Thema "Wohnbebauung in Nachbarschaft zum Fabriksgebäude und Neuwidmung der Fabrik" führte zu dem Siegerprojekt der Linzer Architektengruppe Bernhard und Helga Schremmer und Siegfried Jell.

In den Jahren 1998/99 wurde das Fabriksgebäude umgebaut: Das Erdgeschoß enthält nun einen Supermarkt, eine Trafik, und an der Nordseite den Kirchenraum. Darüber, in den Obergeschoßen befinden sich so genannte "Loft"-Wohnungen. Die Nebengebäude der Fabrik, die den Hauptbau mit dem Bach verbinden, wurden in ein Pfarrzentrum umgewandelt. Am Ende dieser Achse, vor dem Bach, befindet sich der frühere Turbinenraum: Er wird nach sparsamen Eingriffen als Taufkapalle benützt.

Ich besuchte den Ort und war überrascht von der Schlichtheit, Klarheit und Solidität, in der die neugegründete Pfarre in ein erstaunlich schönes industrielles Ambiente der Zeit vor fast 100 Jahren eingefügt worden war. Auch überraschte mich in positivem Sinn die Modernität der Adaption, die eine sehr seltene Qualität aufweist: die von Zeitlosigkeit. Das hat viel mit der Lichtführung der Planung zu tun, natürlich auch mit transparenten Wänden und mit der Wahl der Materialien.

Dieses neue kirchliche Zentrum in einem neuen Stadtteil wirkt auf den ersten Blick unscheinbar. Unscheinbar deswegen, weil diese Kirche keiner traditionellen Typologie von Kirchenbau folgt. Erst nach dem Besuch dieser Anlage kann der als industrielles Monument stehen gebliebene Schornstein aus Ziegelsteinen, 35 Meter hoch, auch als Turm der Kirche wahrgenommen werden. Die neuen Nutzungen, die eine ungewöhnliche Mischung zwischen Konsum, Wohnen und Kirche bieten, redefinieren einen Ort der industriellen Revolution in Linz-Süd. Durch Renovierung und neue Verwendung wurde dieses besondere Bauwerk vor der Vernichtung bewahrt; aber es wurde damit nicht nur Denkmalpflege betrieben, sondern die Geschichte des Orts wurde bewahrt.

Für österreichische Verhältnisse ist solch ein Umgang mit historischer Substanz sehr ungewöhnlich. Das Denken, das die Architekten zu ihrer Lösung führte, könnte man als "strukturalistisch" bezeichnen, in dem Sinn, wie er von holländischen Architekten (etwa Aldo van Eyck oder Frank van Klingeren) vor Jahrzehnten geprägt wurde. Außer der pragmatischen Lösung von Bauaufgaben oder "Revitalisierungen" hat Architektur symbolische (was auch die historische Schicht von Bauten umfasst), poetische oder identitätsfördernde Bedeutung. Und das ist bei der Pfarre Marcel Callo auf eindrucksvolle und auch sehr schlichte Weise bei jedem Besuch zu spüren und zu sehen.

Freitag, 09. April 2004

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